Wolfgang Hermann «Bildnis meiner Mutter», Czernin

Wolfgang Hermann stellt sich mit seiner neuen Erzählung „Bildnis meiner Mutter“ die Frage: Was weiss ich von meiner Mutter? Ich habe Bilder, Erinnerungen, Fantasien. Und ich habe mein Nichtwissen: Aus diesem Nichtwissen will ich meine Kraft schöpfen. Ein Buch über viele Mütter!

Vater- und Mütterbücher scheinen in Mode zu sein. Das ist aber nur oberflächlich betrachtet so. Ein grosses Thema, nicht nur in der Literatur, ist die Herkunft. Letztlich beschäftigt sich auch die Geschichtsforschung mit nichts anderem als unserer Herkunft. Grosse Teile der Astronomie, der Naturwissenschaften überhaupt; Woher komme ich. Wer und was wir sind, ist in vielem Resultat. Wir alle haben Mütter und Väter, die einen als Geschenk, viele als lebenslange Hypothek. Man kann sich dieser Herkunft stellen. Man kann sein familiäres Erbe nicht ausschlagen. Wer in den Spiegel sieht, sieht all die Generationen zuvor, mit Sicherheit Mutter und Vater. Was und wie viel ist Teil meiner selbst? Wie sehr leitet mich, was Generationen vor mir mitverursachten?

Wolfgang Hermann schrieb eine Erzählung über seine Mutter, nicht über seinen Vater. Auch wenn dieser in seiner Erzählung „Bildnis meiner Mutter“ auch eine Rolle hat, wenn nicht sogar eine eigentliche Hauptrolle, denn er war der Grund, warum es seiner Mutter nie gelang, die zu werden, die sie gerne hätte werden wollen; eine eigenständige, emanzipierte Frau, eine erfolgreiche Sängerin, eine Künstlerin, eine Mutter, die ihren Kindern nicht aus lauter Verzweiflung all ihre verfügbare Liebe gibt, sondern eine, die sich im Gefüge einer liebenden Familie allen zuwenden kann; milde, fürsorglich.

Wolfgang Hermann «Bildnis meiner Mutter», Czernin, 2023, 120 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-7076-0788-8

Aber Wolfgang Hermanns Mutter wurde ein solches Leben verweigert. Nicht nur von ihrem Ehemann, auch von der Zeit, der Geschichte, dem Leben in der Provinz, in den Fesseln von Konvention und Patriarchat. In einem Interview erklärte Wolfgang Hermann, er habe seiner Mutter mit dem Buch ein „kleines Denkmal“ setzen wollen. Die Erzählung ist sehr wohl ein Denkmal. Ein Denkmal für all die Frauen in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten, die Pläne, Gaben, Talente mit sich herumtrugen, die Zeit es ihnen aber verweigerte, diese zu Gelebtem werden zu lassen.

Wolfgang Hermanns Mutter wächst in der Zwischenkriegszeit auf, ist die Tochter eines erfolgreichen Geschäftsmannes, der in Bregenz eine Sägerei betrieb. Zusammen mit ihren Geschwistern wuchs sie in einer Familie auf, in der es klar war, dass man die Kinder ihren Neigungen entsprechend unterstützte. Nicht zuletzt, weil das Geld vorhanden war. Sie nahm Gesangsstunden, träumte von einer Karriere als Sängerin. Aber weil man erst etwas Solides lernen sollte, begann sie in der Sägerein ihres Vaters, später im Bauunternehmen ihres Onkels zu arbeiten. Dass sie neben ihrer künstlerischen Ader auch eine für Zahlen und Bilanzen hatte, schien erst ein Fluch, später im Leben der Mutter die Rettung. Früh hatte sie ein eigenes Auto, schien genau zu wissen, was sie wollte, wie ihr Weg in eine selbstbestimmt Zukunft aussehen sollte. Aber weil sie stets alles zu kalkulieren versuchte, weil sie alles bestimmen wollte, nahm ihr das Schicksal schnell das Heft aus der Hand. Ihre wahre Liebe heiratete eine andere und der Mann, der sich erst mit Manieren von der besten Seite zeigte, ihr Mann, der Vater ihrer Kinder wurde, entpuppte sich immer mehr zum Wüterich, zum unbeherrschten Patriarch, zum unkontrolliert um sich schlagenden Tyrannen. Nicht nur seiner Frau, auch seinen Kindern, auch dem kleinen Wolfgang gegenüber, der schon als kleiner Junge seine Mutter aus schierer Verzweiflung aufforderte, sich scheiden zu lassen. Ihr Mann, anfänglich glühender Kommunist, versucht sich mehr schlecht als recht als Architekt in einem bürgerlich konservativen Umfeld, dass es dem «Roten» alles andere als einfach macht. Trotz seines langsam wachsenden Erfolgs zwingt er seine Familie zu sparen, schickt seine Kinder in abgetragenen Kleidern zur Schule, gibt sich gegen alles und jeden misstrauisch, nimmt in keine Weise an jenem Leben teil, dass seiner Frau einst alles bedeutete.

Obwohl seine Mutter die ist, die die Familie durch die Wirren der Nachkriegszeit manövriert, die das brüchige Gefüge zusammenhält, die sich gegen die Ablehnung ihrer eigenen Familie stemmen muss, die nichts von dem erreicht, was einst ihr Herz bewegte, bleibt sie an der Seite des Tyrannen. Trennung ist keine Option. Einmal ja gesagt, ist ein Versprechen, das sich nicht erweichen lässt. Erst als ihr Mann stirbt, als reife Frau, nimmt sie in schriftlichen Aufzeichnung „das Heft in die Hand“ und rächt sich zumindest im geschriebenen Wort.

„Bildnis meiner Mutter“ ist ein Denkmal für all die Frauen, denen man(n) die Kraft absaugte, das zu tun, was ihnen gegeben war. Wolfgang Hermann zeichnet mit aller Liebe dieses Bildnis. Das Bildnis seiner Mutter, die auf Fotos zu lächeln versucht, die aber ein Leben lang beinahe erstickt an den Zwängen ihrer Zeit.

Interview

Auch wenn es ein Buch über Deine Mutter ist, ist es auch eines über Deinen Vater. Ein Vater, der seine Liebe verloren hatte. Nicht nur die Liebe zu Deiner Mutter, auch die Liebe zu seinen Kindern. Eine Tatsache, für die es kein Zurück mehr gab. Der Ehemann Deiner Mutter, Dein Vater war ein Gefangener seiner selbst. „Bildnis meiner Mutter“ ist eine Liebeserklärung an Deine Mutter – aber nicht auch ein leiser Beginn, jenen groben Vater verstehen zu wollen?
Familie ist ein Labyrinth an unterirdischen Verbindungen. Ich wollte meiner Mutter ein kleines Denkmal setzen. Sie hat viel mitgemacht mit meinem Vater. Keine mitteleuropäische Frau würde das heute mit sich machen lassen. Mein Vater kam aus einer kargen, harten Welt. Sozialistische Ideale, keine Menschlichkeit. Und Armut. Meine Mutter setzte dem ihre Operettenwelt entgegen.
In ihren letzten Lebensjahren fanden beide zu Frieden und beinahe Harmonie. Vielleicht war es auch nur Erschöpfung.

Du hast das Buch noch zu Lebzeiten Deiner Mutter zu schreiben begonnen, es aber erst lange nach ihrem Tod zu Ende geschrieben. Im Buch erklärst Du, warum Du es damals nicht hättest veröffentlichen können. Braucht es nicht auch eine gewisse Distanz, um sich beim Schreiben nicht von einem verzehrenden Feuer leiten zu lassen?
Ich schrieb einmal eine kleine Erzählung nach einer Episode aus dem Leben meiner Mutter, die sie mir erzählt hatte. Die Erzählung hiess „Die Eisenbahn“. Nach der Veröffentlichung meinte meine Mutter: „Ach, das war doch alles ganz anders! Das hast du falsch verstanden!“
So ist es wohl immer, wenn jemand anderes unsere Geschichte aufschreibt; es kann nie stimmen.

Dein „Bildnis meiner Mutter“ ist das Bildnis der Mehrzahl aller Frauen über Jahrzehnte und Jahrhunderte. Meine Mutter beispielsweise wäre gerne länger zur Schule gegangen, hätte gerne ein Instrument erlernt. Aber ihre Eltern hatten dafür kein Ohr. Sie würde sowieso heiraten und hätte genug zu tun als Ehefrau, Mutter und Haushälterin. Zwänge sind auch heute Thema und werden es bleiben. Verschieben sie sich einfach? Was Du an Deiner Mutter exemplarisch zeigst, erleben Frauen auch noch heute millionenfach.
Ja, Frauen erleben in großen Teilen der Welt auch heute noch Unterdrückung und Unfreiheit. Meine Mutter stammte aus vergleichsweise privilegierten Verhältnissen, sie nahm Gesangsstunden, besuchte die Handelsschule. Eine Generation zuvor wäre das unmöglich gewesen. Austrofaschismus und Naziherrschaft warfen das Land für Jahrzehnte zurück. Meine Mutter, auf der Suche nach Selbstverwirklichung im Gesang, heiratete einen Mann, der dafür keinerlei Verständnis aufbrachte. Es ging um wirtschaftlichen Aufschwung und Wohlstand, da blieb keine Zeit für die Kunst. Ausserdem wurde sie Mutter von fünf Kindern.

Das Leben Deiner Mutter war von „Verzicht“ dominiert. Eine durchaus katholisch geprägte Haltung, trug ihre Mutter noch während Jahren einen Kapuzinergürtel, ging zu Beichte. „Verzicht“ an sich ist nicht schlechtes. Vielleicht ist Verzicht sogar der einzige Weg, unsere Existenz auf diesem Planet auch in hundert Jahren noch zu ermöglichen. War ihr Verzicht eine reine Selbstgeisselung, die Überzeugung, dass ein Mensch grundsätzlich schlecht ist?
Meine Mutter wurde streng katholisch erzogen, aber sie war lebensfroh und gesellig. Sie hatte das Pech, in karge, düstere Zeiten geboren zu werden. Fleiss und Arbeit waren hohe Werte für sie, aber sie war gesellig und liebte Bälle und tanzen. Sie glaubte immer an das Gute, sah auch in jedem Menschen seine guten Qualitäten. Sie glaubte daran, daß es allen gut gehen sollte. Nein, sie war keine Asketin, sie war sehr dem Leben zugewandt.

Dein Vater war in seinen frühen Jahren ein glühender Kommunist. Doch eigentlich auch nur auf der Suche nach einer Gesellschaftsform, die allen ihr Recht geben soll. Wann und warum kippte die Suche in Gram, Wut und unsägliches Misstrauen?
Mein Vater wuchs in Armut im Austrofaschismus auf, er finanzierte sich das Geld fürs Gymnasium selbst durch Nachhilfestunden. Kaum aus der Schule heraus, steckte er in der Uniform der deutschen Wehrmacht und nahm am Polen-Feldzug teil. Durch eine Entzündung kam er ins Lazarett und war von da an b-tauglich, d.h. ihm blieb die Teilnahme am Überfall auf die Sowjetunion erspart. Die Lektion, die das Leben ihn lehrte war, dass alles Kampf und Überleben des Stärkeren ist. Also Disziplin und Entsagung, um nach oben zu kommen. Seine Mutter war eine sehr harte, kalte Frau aus Böhmen. Ich denke, sie lehrte ihn Sätze wie „Beim Geld hört die Freundschaft auf“ und auch, dass du hart und stark sein musst, wenn du da draussen in dieser Welt der Wölfe überleben möchtest. Als „Roter“ hatte er es im schwarzen Vorarlberg als Architekt nicht leicht.

Wolfgang Hermann, geboren in Bregenz, studierte Philosophie in Wien, anschliessend lange Aufenthalte in verschiedenen Ländern. 1996–1998 Universitätslektor in Tokio. Lebt in Wien. Zahlreiche Bücher, u. a. «Herr Faustini verreist», «Abschied ohne Ende», «Schatten auf dem Weg durch den Bernsteinwald«, «Das japanische Fährtenbuch», «Walter oder die ganze Welt«, «Der Lichtgeher», «Herr Faustini bekommt Besuch» und «Insel im Sommer«. Übersetzungen in zahlreiche Sprachen.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Volker Derlath

Wolfgang Hermann «Insel im Sommer», Czernin

2012 veröffentlichte Wolfgang Hermann seine Erzählung “Abschied ohne Ende“ über das Trauma eines Mannes, der eines Morgens seinen 16jährigen Sohn tot in seinem Zimmer findet. Eine Geschichte, die mich damals tief bewegte, eine Geschichte, die den Schriftsteller bis heute nicht loslässt.

Ein Mann verliebt sich wieder, nachdem er geglaubt hatte, diese Welt hätte sich ihm für alle Zeiten verschlossen. In einer Zeit, in der er sich mit seiner Trauer in seiner Abgeschiedenheit arrangiert, in der sich die Leere in einen Dauerzustand ausgegossen hatte, in der er glaubte, unsichtbar geworden zu sein. Weil er den Schmerz über seinen Verlust, über den unverständlichen Tod seines Sohnes wie einen Mühlstein um seinen Hals mit sich herumträgt, in der Überzeugung, er wäre verloren. Bis er eine Frau kennenlernt. Auch eine Verlorene. Eine, die ein Ufer sucht, obwohl sie angekettet an einen Mann ist, den sie nicht liebt, der sie nicht liebt. Es wächst eine Liebe, die sich im Verborgenen abspielt, in Hotelzimmern, in der Wohnung des Mannes. Bis zu dem Tag, als die Frau ihm offenbart, sie wolle ein Kind von ihm, sie sei entschlossen, ihren Mann dafür zu verlassen. Was ohne Versprechen begann, was ihm den aufrechten Gang zurückgab, was ihn am Leben hielt, dreht sich mit einem Mal zurück in das Dunkel, aus dem er so mühsam gekrochen kam. Und weil die Frau sein Zögern vom ersten Moment weg spürt, kehrt die Leere zurück und die Liebe zerbricht.

Wolfgang Hermann «Insel im Sommer», Czernin, 2022, 70 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-7076-0754-3

Er fährt weg. Zuerst nach Paris, in die Stadt, in der er schon einmal ein paar Jahre wohnte, die ihn damals aufgenommen und alles gegeben hatte, was er sich erhoffte. Aber nicht nur die Stadt war anders geworden. Auch er. Er flieht weiter, fährt mit dem Hochgeschwindigkeitszug bis nach Marseille und lässt sich mit einem Taxi nach Le Tholonet vor das Haus eines befreundeten Paares fahren, dem er aber nicht berichtet hatte, dass er auftauchen würde. Caroll, Pierre und die beiden mittlerweile gross gewordenen Töchter sind da. Und die Freundschaft ist geblieben. Er holt seine Koffer im Hotel in Aix und bezieht ein Zimmer in einer Welt, in der sich das Glück wie die heisse Sommerluft in den Zimmern des Hauses festgesetzt hat. Aber noch reicht es nicht, um den Panzer des Schmerzes zu durchbrechen. Das tut ein kleines Mädchen am Meer.

Was sich in seiner Nacherzählung fast rührselig klingen mag, ist die Geschichte einer zaghaften Befreiung. Nicht jene von seinem toten Sohn, auch nicht jene von seinem Schmerz, seiner Trauer, sondern jene von der Leere, der er sich ausgeliefert hatte, die ihn wie ein schwarzes Loch ins Nichts hineinsog. Hermanns Erzählung „Insel im Sommer“ ist ein echtes Sommerbuch, tatsächlich eine Reise auf eine Insel, denn der Protagonist reisst den Anker aus dem Schlick und schafft es, endlich jene Distanz zu erlangen, die eine Flucht zu einer Reise werden lässt.

Was mich an Wolfgang Hermanns Erzählung aber viel mehr überzeugt als die Geschichte selbst, ist seine Sprache, die Leichtigkeit, das Gefühl, jenen südfranzösischen Küstenwind zu spüren, das Zirpen der Zikaden zu hören, den herben Duft der Kräuter zu riechen. Es sind die klaren Bilder einer klaren Geschichte, der Nachhall, wenn sich das Büchlein mit seinen siebzig Seiten schliesst!

Wolfgang Hermann, geboren in Bregenz, studierte Philosophie in Wien, anschliessend lange Aufenthalte in verschiedenen Ländern. 1996–1998 Universitätslektor in Tokio. Lebt in Wien. Zahlreiche Bücher, u. a. «Herr Faustini verreist», «Abschied ohne Ende», «Schatten auf dem Weg durch den Bernsteinwald«, «Das japanische Fährtenbuch», «Walter oder die ganze Welt«, «Der Lichtgeher» und «Herr Faustini bekommt Besuch«. Übersetzungen in zahlreiche Sprachen.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Volker Derlath

Wolfgang Hermann «Herr Faustini bekommt Besuch», Limbus Preziosen

Was ist, wenn jemand an deiner Tür klingelt und nach dem Öffnen der Tür nichts mehr in deinem fein eingerichteten Leben so ist, wie es Jahre, Jahrzehnte war? Bei Herrn Faustini passiert genau das. Und obwohl Herr Faustini die Quadratur eines rechtschaffenen Mannes ist, breiten sich die Eruptionen in ganz überraschende Richtungen aus.

Herr Faustini mag es nicht, wenn seine Welt aus dem Takt gerät. Er ist einer der Stillen, von denen nichts erwartet wird, die man nicht sieht, die nichts zu brauchen scheinen für das kleine Glück, das sie mit Bedacht verwalten. Herr Faustini gehört in eine andere Welt, hält nichts von den flachen Dingern, in die alle überall hineinstarren, nichts von den Moden der Gegenwart, die ihn befremden, aber auch nichts von den vielfältigen Aufdringlichkeiten seiner Artgenossen. Er ist einer jener, die abends noch in den Himmel schauen, einfach bloss weil es Freude macht und den Platz im Universum zeigt, denen dann die Zeilen eines Gedichts von Joseph von Eichendorff einfallen.

„Täglich sah er eigentlich nur den Kater.“

Bis es eines Tages völlig unerwartet an der Haustür klingelt, zu einer Zeit, wo es die Post nicht sein kann. Jemand anderer erwartet Herr Faustini nicht, schon lange nicht mehr. Er öffnet die Tür und da stehen zwei; eine Frau in seinem Alter und ein mittelgrosser Junge, der ihn keines Blickes würdigt. Nach unsanfter Begrüssung verkündet die Frau, dies sei sein Junge, er der Vater. Und nachdem er bisher nie seinen Part zu spielen hatte und sie dringend Ferien brauche, sei es an der Zeit, dass er den Jungen nehme, für zwei Wochen.

Wolfgang Hermann «Herr Faustini bekommt Besuch», Limbus Preziosen, 2021, 120 Seiten, CHF 20.90, ISBN 978-3-99039-193-8

Im Normalfall hat man(n) neun Monate Zeit, um sich seiner neuen Rolle bewusst zu werden. Bei Herr Faustini waren es grade mal Minuten, bis die Frau mit einem Auto davonbrauste und den Jungen wie einen nassen Regenschirm bei Herrn Faustini zurückgelassen hatte. Weil Herr Faustini der ist, der er ist, zwar ganz genau weiss, dass er nie und nimmer der Vater des Jungen sein kann (Allerdings schleichen sich durchaus Zweifel ein!). Die Bezeichnung „Vater“ kannte Herr Faustini nur aus der Ferne, war wie ein grelles Kostüm, in das man ihn gezwungen hatte. Und weil er den Jungen nie und nimmer wegschicken oder für die zwei Wochen einer Institution übergeben könnte, bleibt der Junge im Haus. Kein Kind und kein Erwachsener mit hängender Hose und einsilbigen Antworten auf jene Fragen, die sich Herr Faustini selbst zu stellen traut. Seine Vaterrolle anzuzweifeln ginge nicht. Also schickt sich Herr Faustini in die Offensive, schlägt Hugo Ausflüge vor, Minireisen mit dem Schiff auf dem See, ins Museum zu den Zeppelinen. Doch Hugo interessiert sich meist nur für seinen Nahkampf auf seinem flachen Spielzeug, das er auch während des Essens nicht weglegt.

„Herr Faustini sah über dem Tisch eine kleine Wolke aus ungesagten Sätzen stehen.“

Als Herr Faustini fragt, wo er den hinwolle, ob er etwas unternehmen wolle. „Haafpei“, nuschelt Hugo. Etwas wie Halspfeife, ein Wort, das Herr Faustini noch nie gehört hatte. Und als die beiden tatsächlich mit dem nötigen Gefährt am Seeufer auftauchen, wird aus dem verschwiegenen Nebeneinander mit einem Mal ein Ding, das auch Herrn Faustini zu erwärmen vermag. Aus einem erzwungenen Nebeneinander wird ein Abenteuer, für beide.

Es prallen Welten zusammen. Herr Faustini wird mit einem Mal bewusst, wie klein seine Welt, wie tief der Graben seiner immer und immer wieder gegangenen Wege durch seine Welt geworden war. Herr Faustini gehört zu einer aussterbenden Spezies Mensch, die sich nicht betäuben, die weder rennen noch hetzen. Zu einem Archetyp, der keinen Platz mehr hat in einer flimmernden Gesellschaft. Ein Mann, der schon als Herr Faustini zur Welt gekommen scheint.

„So war es, das Gehirn des Menschen war ein Hort wild gewordener Hunde.“

Ich liebe Herrn Faustini. Ich liebe es, dass ihn Wolfgang Hermann immer wieder auf die Bühne bringt. Herr Faustini mahnt mich. Herr Faustini nimmt den Kampf auf, aber weder mit Gewalt noch mit Lärm, weder schimpfend noch hadernd. Herr Faustini kämpft mit Liebenswürdigkeit und Anstand. Zwei Eigenschaften, die in der Gegenwart immer mehr abhanden kommen.

Lassen Sie sich bezaubern!

Interview

Wenn ich richtig gezählt habe, ist „Herr Faustini bekommt Besuch“ dein fünfter Faustini. Was ist so anders an dieser Person, diesem Setting, dass immer wieder ein neuer Faustini erscheint?
Herr Faustini, das ist für mich ein eigener Seins-Zustand. Wenn ich nicht aufpasse, kippe ich da hinein und schreibe schon wieder einen Faustini.

Herr Faustini ist der Prototyp dessen, was in der Gegenwart keinen Platz mehr hat, was auszusterben droht. Ein Mann, der schon als Herr Faustini zu Welt gekommen scheint. Wie viel Faustini steckt in Wolfgang Hermann?
Ich habe einen Gutteil meiner Zeit als Fremder auf diesem Planeten verbracht. Man fängt wahrscheinlich nicht an zu schreiben, wenn man ganz ohne Befremden in seiner Haut steckt. Bei mir ging das Fremdsein recht früh los, und das Lesen, das ich erst entdeckte, als ich als Elfjähriger einen ganzen Sommer im Krankenhaus lag – es gab keine Kinderbücher bei uns zu Hause, ein Manko, das ich nie aufholen konnte -, das Lesen also bot mir eine andere Welt, eine Rettungsinsel, auf der ich mehr und mehr Zeit verbrachte. Eigentlich zog ich mit elf auf diese Insel. Und begann zu schreiben. Und wohne noch immer auf der Insel.

Geschichten, in denen Männer unsanft mit ihrer Vaterschaft konfrontiert werden, gibt es zuhauf, bis ins Kino. Dir scheint es aber um andere Themen zu gehen, als um einen Mann, der um seine Freiheit kämpft oder tollpatschig von einer Peinlichkeit zur nächsten torkelt. Geht es auch ein bisschen darum, zusammen mit Herrn Faustini die Gegenwart zu verstehen?
Ich sah, als ich anfing, dieses Buch zu schreiben, diesen pubertierenden Jungen, der Leben und Chaos in Herrn Faustinis Haus bringt. Weiter nichts. Ich wollte damit nichts demonstrieren, keine Probleme bewältigen. Nur diese Begegnung zwischen dem recht verlorenen Jungen und dem Eigenbrötler Faustini hat mich interessiert.

Herr Faustini hat sich bis zu jenem Klingeln an seiner Haustür mit seinem kleinen Leben eingerichtet. Ist das eine Begleiterscheinung des Alterns, dass man den Mut zum Ausbruch verliert?
Faustini ist einer von denen, die vom Leben zurechtgestutzt wurden, die schliesslich ein Leben en miniature leben, zufrieden sind, wenn sie auf ihrer Parkbank sitzen, ihre immergleiche Runde gehen, ohne noch viel zu erwarten. Ein Leben auf Reserve sozusagen. Er sehnt sich da hinaus, sehnt sich – jede Seele ist ein Schrei nach Vollendung, sagt Paul Valéry – nach dem vollen Geschmack des Lebens. Aber wer von den Älteren kennt ihn schon, diesen Geschmack, kann sich noch daran erinnern? Meist ist doch alles zugestellt von falschen Ideen, von belanglosem Zeug.

Hugo, das Kuckuckskind, das für zwei Wochen bei ihm „abgestellt“ wurde, scheint anfangs nur schwer zu knacken. Welcher Jugendliche lässt sich schon offen von einem älteren Mann, selbst wenn dieser zum Vater erklärt wird, zu freundlichem Zusammensein hinreissen. Genau in jener Phase ihres Lebens will man doch so gar nichts mit den Alten zu tun haben und mit jeder Faser seines Seins den Unterschied markieren. Verstehen wir die Jugend wirklich angesichts dessen, was wir Alten ihnen alles zumuten?
Hugo ist es nicht gewohnt, dass ihm ein Erwachsener seine Zeit widmet, ja sich überhaupt für ihn interessiert. Ihm genügt sein Handy und sein Skateboard. Nach und nach begreift er, dass Herr Faustini sich wirklich für seine Welt interessiert, ihn verstehen möchte, an ihm Anteil nimmt. Und Faustini hat Unerwartetes zu erzählen, denn auch er war einmal jung, auch er kennt die Leere öder Nachmittage, er war sogar unglücklich verliebt. Und er kennt das am meisten heruntergekommene Café der ganzen Gegend. Und er erzählt von Nächten, die er am Pokertisch verbracht hat. Hugo staunt. Ganz von selbst entwickelt sich eine echte Freundschaft zwischen den beiden. Ich glaube, das ist auch in diesem Alter möglich. Aber nur, wenn auch Humor dabei ist und man den anderen sein lässt, wie er ist.

© Andrea Peller

Wolfgang Hermann, geboren 1961 in Bregenz, studierte Philosophie und Germanistik in Wien. Lebte längere Zeit in Berlin, Paris und in der Provence sowie von 1996 bis 1998 als Universitätslektor in Tokyo. Zahlreiche Preise, u. a. Anton-Wildgans-Preis 2006, Förderpreis zum Österreichischen Staatspreis 2007; zahlreiche Buchveröffentlichungen, unter anderem «Abschied ohne Ende» (2012), «Die Kunst des unterirdischen Fliegens» (2015) und «Herr Faustini bleibt zu Hause» (2016). Bei Limbus: «Schatten auf dem Weg durch den Bernsteinwald» (2013), Die letzten Gesänge (2015), Das japanische Fährtenbuch (2017) und «Walter oder die ganze Welt» (2020).

Wolfgang Hermann «Ein Mann, ein Bahnhof», Kurzgeschichte auf der Plattform Gegenzauber

Wolfgang Hermann «Walter oder die ganze Welt», Limbus

Was tun, wenn man mit einem Mal merkt, dass die Welt, von der man glaubte, sie sei es, man kenne sie, kenne sich in ihr aus, nicht die ist, an die man mit Standfestigkeit glaubte? Was tun, wenn sich hinter der Einsicht ein Abgrund öffnet, wenn man die Türe, die man öffnete, nicht mehr zu schliessen ist. In der schmalen Erzählung von Wolfgang Hermann spiegelt sich die geballte Wucht einer Ernüchterung.

Walter ist Polizist in einer Kleinstadt auf der österreichischen Seite des Rheintals. Wenn er nicht auf seinem Posten sitzt und den Blick über das pulsierende Leben seiner Stadt schweifen lassen kann, steht er am liebsten seinen Mann in der Trommel, auf der wichtigsten Kreuzung der Stadt auf einer rot-weiss karierten Trommel, den Verkehr weisend, regulierend, den Strom von Nord nach Süd und umgekehrt, das grosse Brausen dirigierend. Er hat es gar zu einer gewissen Berühmtheit gebracht, denn die halbe Stadt scheint ihn auf seinem Podest zu grüssen. Dort lenkt er den Fluss, gibt der Anarchie eine Richtung. Auch zuhause geht alles seine geregelten Bahnen; seine Frau erblüht an seiner Seite und weiss, wo ihr Platz ist. Die Tochter und der Sohn sind nicht infiziert von den langmähnigen, bunt gekleideten Hippies, die sich auf einer nahen Alp, der Lichtheimat, dem Geistigen und Kosmischen zuwenden, wenn auch mit allerhand Kraut.

Die Stadt ist ruhig. Und doch spürt Walter, dass der Frieden an den Rändern wegzubrechen droht. Zum einen ist es Herr Hummel, der Mann, der ihm wie die Sonne morgens und abends Sicherheit gab, dass die Normalität, das Stetige die Konstante in seinem Leben sein wird. Eines Morgens erscheint Herr Hummel nicht mehr, spaziert nicht mehr in seiner absoluten Regelmässigkeit an der Polizeiwache vorbei, bleibt nicht nur für einen oder zwei Tage aus, sondern verschwindet von der Strasse. Zum andern führt ihn Pflichtbewusstsein und die Sorge um Herrn Hummels Sohn per Dienstweg bis hinauf zum Lichtheimat. Dorthin, wo die Strassen längst aufhören, in ein Haus, dass sich mit seinen BewohnerInnen allen Regeln der Normalität zu entziehen versucht. Ausgerechnet an jenem Tag dampft und raucht das Haus aus allen Poren. Walter, der Polizist trinkt einen Tee, isst einen Keks. Und bricht weg.

Wolfgang Hermann „Walter oder die ganze Welt“, Limbus, 2020, 96 Seiten, 21.90 CHF, ISBN: 978-3-99039-167-9

«Walter oder die ganze Welt» ist die Geschichte einer Vertreibung aus dem Paradies. Auch wenn Walter keinen Apfel vom Baum der Erkenntnis isst, sondern nur einen Keks. Obwohl Walter weiss, dass sein Sündenfall wie jener der Urmutter Eva nicht vorsätzlich war, für einen Polizisten nicht unwichtig, er nie und nimmer zurück in jenen Rausch des absoluten Kontrollverlusts will, ist nichts mehr, wie es einmal war. Aber auch er selbst. Das merkt auch seine Frau, merkt seine Umgebung, sogar die Menschen in den Autos, die auf der Kreuzung an der Trommel, auf der Walter den Verkehr mit leer gewordenem Gesicht zu lenken vorgibt, die an ihm plötzlich ungegrüsst vorbeifahren. Mit einem Mal ist klar, dass die kleine Ordnung, von der Walter glaubte, er sei der Wächter, von einer grossen Unordnung bedroht wird, dass das Fundament seines Lebens, seiner Existenz bloss vor Kulissen gebaut war. Kulissen, dünnwandig, hohl, seine Illusion.

Wolfgang Hermann schreibt sich nicht in die Personen hinein, schlüpft nicht in seine Protagonisten, leuchtet nicht aus. Wolfgang Hermann schreibt aus den Protagonisten hinaus. Obwohl nicht in der Ich-Form geschrieben schafft es der Autor, mich als Leser durch die Augen am Untergang einer Welt teilzuhaben. Einer grossen Ernüchterung, der im Kleinen oder Grossen alle Erdbewohner ausgesetzt sind. Der grossen Feststellung, dass alles doch anders ist, als man es sich im Laufe eines Lebens zusammengeschustert hat. Dass die kleine Stadt im Rheintal eben doch nicht der Nabel der Welt ist, nachdem man irgendwann feststellt, das sich die Erde nicht um einen selbst dreht. Dass Ruhe und Gleichförmigkeit mehr als trügerisch sind. Dass alte Strukturen selbst nach einem Neuanfang nach dem 2. Weltkrieg nicht einfach zu wirken aufhören. Dass die eigene Wahrheit nicht allgemeingültig ist.

Wolfgang Hermanns schmales Buch ist alles andere als schmalbrüstig. Zwar leicht und witzig erzählt, aber um die grossen Themen und Fragen des Lebens kreisend. Ein literarisches Kleinod, wunderbar gestaltet und herausgegeben vom kleinen Limbus Verlag, bei dem es sich lohnt, auf der Webseite zu stöbern!

Interview mit Wolfgang Hermann

Die Selbstzweifel Ihres sympathischen Protagonisten gipfeln in der Frage, ob er den eigentlich überhaupt zum Polizisten tauge. Ganz offensichtlich werden nicht alle Menschen von Selbstzweifeln bedrängt. Ist das der Unterschied zwischen Politik und Kunst? PolitikerInnen, je mächtiger, desto freier von Selbstzweifeln? KünsterInnen, je schöpferischer desto näher am permanenten Selbstzweifel?
Zum Politiker taugt, wer keine Selbstzweifel kennt. Feinnervige, zurückhaltende Menschen haben in der Politik nichts verloren, sie werden dort aufgerieben. Man werfe einen Blick auf die neuen Bulldozer-Politiker, die unsere Zeit bestimmen: da ist keine Selbstreflexion zu erwarten. Und viel Gutes auch nicht.
Ein schöpferischer Mensch hingegen weiss, dass er mit seiner Arbeit auf einem Drahtseil tanzt. Und wenn er genau hinsieht, fehlt sogar das Seil, er arbeitet in der Luft.

Wer durch irgend eine Tür der Erkenntnis geht, weiss, dass es kein Zurück gibt. Ist das beschönigende, verklärende Erinnern die Sehnsucht nach dem Paradies?
Ich habe in meinem Buch keine Idylle geschaffen. Der harmlos zärtliche Tonfall trügt: Die jungen Menschen in der Vorarlberger Kleinstadt der Siebzigerjahre sehen sich einer kalten, abweisenden Welt gegenüber, die ihnen keine Chance lässt, als sich anzupassen. Es gibt keinen Raum für sie ausser den der Resignation. Und einige von ihnen gehen daran zugrunde.
Polizist Walter ist liebevoll tollpatschig gezeichnet, aber die Realität der Kleinstadt und des kleinen Landes ist trüb und steckt noch fest im alten überkommenen Denken aus der NS-Zeit.

Walter, der mehr als ein halbes Leben lang glaubte, er sei es, der dirigiere, mit Sicherheit auf der rot-weiss gestreiften Trommel in der Kreuzung in seiner Polizistenuniform, muss einsehen, dass er eigentlich nur reagiert. Und das nicht einmal in der Gegenwart, sondern fast nur auf die Auswirkungen der Vergangenheit, einer modrigen Vergangenheit. Die Stadt, die Sie beschreiben, ist «Ihre» Stadt. Ist Schreiben, Dichten, ein Teil Ihrer Sehnsucht, wenigstens ein ganz kleines Stück zu «dirigieren»?
Mit dieser Geschichte habe ich mich auch selbst „behandelt“, denn ich war ja einer dieser verlorenen jungen Menschen damals in der kalten Stadt. Wahrscheinlich ist Schreiben meistens Selbstbe- und -verhandlung. Es ist die Chance, die Vergangenheit neu zu gestalten, ein wenig menschlicher und weicher.

Walter wird von der Zeit, vom Leben überrollt. Hätte er auch Lehrer, Pfarrer oder Goldschmied sein können? Was reizte Sie am Polizisten, der als literarisches Personal sonst nur für den Krimi geeignet scheint.
Polizist Walter war eine Legende im Dornbirn der Siebzigerjahre. Er dirigierte das Orchester der Autofahrer auf unverwechselbare Art, redete mit jedem einzelnen Autofahrer, vor allem aber mit sich selbst. Er ist ein fester Bestandteil meiner Kindheit. Ich wollte schon lange über ihn schreiben. Natürlich ist alles erfunden, aber den Polizisten Walter gab es wirklich.

Ist das «Fremdhässig-sein», das auf der Welt wie ein Virus zu wüten scheint, in einer funktionierenden Gesellschaft unüberwindbar?
Die Zuwanderer trugen fremdes «Häss», das bedeutet im Dornbirner Dialekt Kleidung, hat also nichts mit Hass zu tun. Der steigt freilich in unserer Gegenwart in bedenklichem Masse. Ich fürchte, ich habe dagegen kein Rezept. Die Literatur führt ohnedies ein Dasein in der Nische.

Wolfgang Hermann, geboren 1961 in Bregenz, studierte Philosophie und Germanistik in Wien. Lebte längere Zeit in Berlin, Paris und in der Provence sowie von 1996 bis 1998 als Universitätslektor in Tokyo. Zahlreiche Preise, u. a. Anton-Wildgans-Preis 2006, Förderpreis zum Österreichischen Staatspreis 2007; zahlreiche Buchveröffentlichungen, unter anderem «Abschied ohne Ende» (2012), «Die Kunst des unterirdischen Fliegens» (2015) und «Herr Faustini bleibt zu Hause» (2016). Bei Limbus: «Paris Berlin New York» (Neuauflage als Limbus Preziose 2015), «Konstruktion einer Stadt» (2009), «Schatten auf dem Weg durch den Bernsteinwald» (2013), «Die letzten Gesänge» (2015) und «Das japanische Fährtenbuch» (2017).

Internationale Tage für improvisierte Musik und Poesie in St. Gallen? Ein neues Lyrikfestival?

Noch sind die ersten Internationalen Tage für improvisierte Musik und Poesie ein Experiment. Ein Experiment in vielerlei Hinsicht. Nach ersten Erfahrungen mit junger Schweizer Literatur, den Text mit Musik zu vermischen und zu verweben, sowohl dem Text wie der Musik aus dem Moment einen neuen Raum zu erschaffen, wagen wir uns tapfer in eine nächste Runde. Überzeugt davon, dass den klassischen „Wasserglaslesungen“ daraus etwas entgegenzustellen ist, erst recht im Zusammenspiel von Lyrik und Musik, die sich beide ihrer ganz eigenen Instrumente bedienen.

Wer erträgt schon verdichtete Sprache über eine Stunde lang, ein Gedicht nach dem anderen, ein Bombardement von Sinnesspiegelungen, die sich sehr oft einer klaren, ganz einfachen Interpretation entziehen? Aber da es ja sehr oft genau die Art des Schreibens ist, die sich explizit um Klang, Rhythmus, Farbe und Resonanz bemüht, ist es naheliegend, diese zwei Sparten miteinander zu verbinden.

Die Bühne, die wir Lyrik und Musik bieten, ist wenig bespielt. Selbst an grossen Festivals wie den Solothurn Literaturtagen oder dem Lyrikfestival Basel sind Veranstaltungen, die über die klassische Rezitation hinausgehen, selten. Und da erste Erfahrungen, beispielsweise mit der österreichischen Dichterin Margret Kreidl mehr als positiv ausfielen, wagen wir uns in dieses Abenteuer, zumal die im kommenden November eingeladenen KünsterInnen klingende Namen haben: Wolfgang Hermann aus Wien, Michelle Steinbeck aus Hamburg (Basel), Ariane von Graffenried aus Bern und Thilo Krause aus Zürich.

Ob daraus ein Lyrikfestival in eigenem Format mit Tradition wird, entscheiden nicht zuletzt die Kulturinteressierten aus der Ostschweiz, ob sie sich verführen, zu akustischen Abenteuern locken lassen. In einer Zeit, in der man sich um echte Emotionen so sehr bemüht, ist eine Veranstaltung mit Lyrik und improvisierte Musik genau das Richtige. Im Theater 111 in St. Gallen wachsen Welten zusammen!

L111 sind Christian Berger (Sound), Dominic Doppler (Takt), Gallus Frei-Tomic (Konzept) und Flavia Steinlin (Marketing & Kommunikation). Mehr Informationen unter l111.ch oder christianberger.ch.

Ariane von Graffenried CH, Wolfgang Hermann A, Thilo Krause CH, Joseph Zoderer I

Nachdem die Reihe mit «junger CH-Literatur» im Januar nach wunderbaren Abenden mit Yaël Inokai, Arja Lobsiger, Dana Grigorcea, Julia Weber und Noëmi Lerch zu einem guten Ende kam, wird im kommenden Herbst eine neue Reihe im Theater 111 in St. Gallen über die Bühne gehen. Vier ganz unterschiedliche Dichterinnen und Sicher haben ihre Teilnahme zugesichert.

Ariane von Graffenried (1978) ist Autorin und  promovierte Theaterwissenschaftlerin, schreibt für die Bühne, fürs Radio, Zeitungen und die Wissenschaft. Sie ist Mitglied der preisgekrönten Autor*innengruppe «Bern ist überall». Seit 2005 tritt sie als Spoken-Word-Performerin mit dem Musiker und Klangkünstler Robert Aeberhard im Duo «Fitzgerald & Rimini» auf. Zuletzt erschien das Buch «Babylon Park» (2017), für das sie den Literaturpreis des Kantons Bern erhielt.
Von Graffenrieds Texte kippen vom Konkreten ins Poetische und zurück, mal Deutsch, mal English, mal Dialekt, sie ist eine Geschichtenerzählerin des Geheimen und Verborgenen, eine ebenso raue wie galante Berichterstatterin aus den Halbwelten des Mondänen, eine literarische Umgarnerin der provinziellen Unterwelt.

Thilo Krause geboren 1977 in Dresden, lebt in Zürich.  Abitur, Zivildienst als Pfleger, Studium des Wirtschaftsingenieurwesens in Dresden und London, Promotion an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, danach Forschungsbereichsleiter am Schweizerischen Bundesamt für Energie, bis 2015 Forscher an der ETH Zürich, aktuell beim Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (ewz).
Seit 2005 literarische Veröffentlichungen in namhaften Zeitschriften (u.a. Akzente, Sinn und Form), Zeitungen (die ZEIT, Zürcher Tagesanzeiger, u.a.) und Anthologien. 2012 Schweizer Literaturpreis für den Debütband «Und das ist alles genug«, der 2015 in der französischen Übersetzung von Eva Antonnikov («Et c’est tout ce qu’il faut«) erschien. 2016 Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg und ZKB Schillerpreis für das zweite Buch: «Um die Dinge ganz zu lassen«. 2019 Peter-Huchel-Preis für den Band «Was wir reden, wenn es gewittert» (Edition Lyrik Kabinett im Carl Hanser Verlag).
Thilo Krause ist Mitglied im Verband Autorinnen und Autoren der Schweiz sowie im Literaturforum Dresden. Im Winter unterrichtet er Skilanglauf beim Firmensport Regionalverband Zürich (Bereich Nordisch).

Wolfgang Hermann wuchs in Dornbirn in Vorarlberg auf und studierte ab 1981 Philosophie und Germanistik an der Universität Wien. 1986 promovierte er mit einer Arbeit über Friedrich Hölderlin zum Doktor der Philosophie. Anschliessend war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Wien. Seit 1987 ist er freier Schriftsteller. 1992 nahm er am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Von 1996 bis 1998 arbeitete er als Lektor an der Sophia-Universität in Tokio.
Wolfgang Hermann schreibt Prosa, Lyrik, Theaterstücke und Hörspiele. Einige seiner Publikationen wurden in Englisch, Französisch, Spanisch, Schwedisch, Arabisch, Lettisch, Slowenisch, Japanisch, Koreanisch, Polnisch, Hindi übersetzt. Er ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.
Er verfügte über wechselnde Wohnsitze, wie in Nordafrika und auf Sizilien. Von 1987 bis 1990 lebte er in Berlin, danach in Paris und in Aix-en-Provence. Von 1996 bis 1998 hatte er ein Lektorat an der Sophia-Universität Tokio inne.
Heute lebt Wolfgang Hermann in Wien.

Joseph Zoderer, geboren 1935 in Meran, lebt als  freier Schriftsteller in Bruneck. Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Theaterwissenschaften und Psychologie in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Ehrengabe der Weimarer Schillerstiftung (2001), Hermann-Lenz-Preis (2003) und Walther-von-der-Vogelweide-Preis (2004). Joseph Zoderer, einem der führenden Erzähler der Gegenwartsliteratur, in Einzelbänden neu aufgelegt. In Zusammenarbeit mit Johann Holzner und dem Brenner-Archiv Innsbruck wird jeder Band durch ein Nachwort sowie interessante Materialien aus dem Vorlass des Autors ergänzt. Davon bisher erschienen: „Das Schildkrötenfest“. Roman (2015), „Dauerhaftes Morgenrot“. Roman (2015) und „Die Walsche“. Roman (20016), 2017 folgt „Lontano“. Roman.

Wolfgang Hermann «Ein Mann, ein Bahnhof»

Im Laufe der Jahre wurde sein Sakko zur Beule. Sein Hut war ihm am Kopf angewachsen. Nur selten steckte in seinem Mundwinkel kein Krummer Hund. Seine Augen waren Knöpfe, denen keine Bewegung entging. Es lag wohl an seinem Schielen, daß sein Blick überall zugleich war. Seine Schuhe knarrten meine halbe Kindheit lang hinter meinem Rücken. Tagaus, tagein schlich er in Begleitung seines Krummen Hunds um den Bahnhof herum, redete mit niemandem, sah alles, während dem Krummen Hund darüber das Feuer ausging. Er sah mich durch den Maschendraht klettern und über die Gleise flitzen, sah mich am Bahnhofsbuffet zehn Mannerstollwerk zu einem Schilling kaufen (wenn ich den Schilling genau hatte, konnte mich die Frau am Buffet nicht betrügen), sah mich zurückflitzen über die Gleise und durch das Loch im Maschendraht verschwinden. Unser Haus lag nur einen Steinwurf vom Bahnhof entfernt, was mich zum Bahnhofspezialisten machte. Ein Bahnhofspezialist ist zugleich einer für Abreisen und Ankommen, ein Sehnsuchtsspezialist. 

Es mag an seinem Schielen gelegen haben, daß man meinen konnte, er starre einen an, egal wo man auch ging. Wenn ich über die Gleise flitzte sah er mich, wenn nicht er, dann doch sein Krummer Hund.

Es fuhren zwar nur selten Züge ein, aber die Sehnsucht schlief nie. Die Sehnsucht hauste am Bahnhof in Gestalt von einsamen Männern mit dunklen Augen, die als Schatten durch die Bahnhofshalle schlurften. Zwei oder drei von ihnen standen zusammen und sprachen eine rauhe erdige Sprache. In den im Rücken verschränkten Händen wanderten Gebetsketten.

In den Augen dieser Männer spiegelten sich einsame Ebenen unter sengender Sonne. Diese Männer standen anders beisammen. Ein Murmeln war da, ein stummes Zusammengehören, ein gemeinsam getragenes Leid. Diese Männer waren frei, sie hatten ihr fernes Anatolien hinter sich gelassen, doch die Freiheit war größer als sie. Sie gingen am Bahnhof schlurfend in Deckung. 

Wie ein Trabant umkreiste sie der Mann mit den Knopfaugen, dessen Kopf immer schräg stand wie eine Tanne nach verheerendem Sturm. Hinkte er schon immer? Er war in seinen eigenen Schrittkreis eingeschlossen, den er unaufhörlich abschritt. Er war das Glotzermännle, so nannten wir ihn, er glotzte die Welt an, doch die Welt sah nicht zurück, sie übersah ihn, der hier auf dem schäbigen Bahnhof in Deckung ging. Er schritt seinen Kreis mit der verzweifelten Geduld eines Menschen ab, dessen Zeit in sich zusammengebrochen ist. Es hieß, er warte auf seinen Sohn, der aus dem Krieg nicht nach Hause gekommen war. Der Krieg, das war die gefrorene Zeit selbst, der Krieg am Ende der Zeit.

Sein Schritt grub sich mit jedem Jahr tiefer ein, er hinkte davon immer stärker. Das Knarren seiner Schuhe kündigte ihn an, er sagte kein Wort, niemand wußte, ob er sprechen konnte. Sein Blick war eng wie eine dunkle Röhre, aus der er nie mehr herausfinden würde.  

Der Bahnhof war die Zone der Freiheit, die keiner ertrug. Von der Bahnhofstraße wehte es die Jahre heran, es trieb sie durch die gelbgekachelte Bahnhofshalle hindurch und hinaus auf die Gleise ins Nichts. Die Körper der Männer boten dem Wind keinen Widerstand, sie hatten ihr Leben irgendwo zurückgelassen, das nun ohne sie zurechtkommen mußte. Die Männer hatten ihre Gebetsketten, sie hatten ihre Erinnerung an eine sonnenverbrannte Steppe, und sie hatten die Körper der anderen, sie waren gemeinsam ein Körper der Sehnsucht und der Freiheit, die ein Stück zu groß für sie war. Irgendwann würde ein Zug sie von hier fort bringen, sie würden turmhoch beladen in ihr stilles Dorf zurückkehren, wohin sie nicht mehr gehörten, doch sie wären damit nicht allein, es würde andere geben, die ein ähnliches Schicksal hatten, die auf Arbeit in ein kaltes abweisendes Land gefahren waren, jung und ahnungslos, und deren Schläfen über der Nichtzugehörigkeit ergraut waren. Doch sie wären eine Gruppe, ihr Los hatte einen Namen, ihr Dorf hatte einen Namen, und es gab Vettern, Söhne und Frauen, die einen Namen trugen. Sie hätten die Kraft dem Bahnhof zu entkommen, denn sie kamen von irgendwo her, ihre Gedanken hatten ein Ziel, und was sie dachten bildete aus ihnen eine Gruppe. Ihre Frauen würden kommen, ihre Söhne würden ihre Rücken beim Gleisbau krümmen, und die Kraft ihrer Söhne würde sie mit Stolz erfüllen. Sie würden andere Männer treffen und Fotos tauschen, und mit Hilfe der Fotos würde ein Eheversprechen gegeben, junge Frauen würden kommen aus dem Dorf in der sonnenverbrannten Ebene. Die Kinder der Frauen auf den Fotos würden mit gelgestärktem Haar am Bahnhof Zigaretten kaufen, doch sie würden den Bahnhof nicht verstehen wie ihn ihre Väter verstanden. Sie würden den Gesang der Gleise nicht hören, denn sie hätten keine Zeit für die Leere und den Wind des Nichts, der über die Gleise weht.

Der hinkende Mann mit den Knopfaugen wurde schräg wie eine einsame verwitterte Tanne. Generationen von Fahrschülern stürmten johlend an ihm vorbei zu den Zügen. Wenn sie fort waren, wehte er noch, der Wind des Nichts. Auch die Unterführung konnte den Wind nicht vertreiben. Es wurde viel gebaut um den Bahnhof. Das alte Wirtshaus gegenüber, das kein Einheimischer mehr betrat, seit es den Männern mit den traurigen Augen gehörte, wich einer Wohnanlage. Die Bushaltestelle wurde zu einem Kompetenzzentrum für intelligente Verkehrsmittel. Man bemühte sich redlich, aus der Bahnhofstraße den Wind des Nichts zu vertreiben, umsonst. Der Wind der Leere weht zwischen den neuen Menschen hindurch, die dort gehen und nicht wissen, warum ihr Schuh nicht recht Boden findet. Selbst die Altdeutschen Stuben durften endlich verschwinden. Man versuchte mit intelligenter Architektur das Beste gegen den Wind der Leere. Aber der Wind kommt aus dem Innern der Jahre, er weht auch ohne daß ihn einer versteht.

Irgendwann haben die knarrenden Schuhe das Glotzermännle nicht mehr getragen. Irgendwann hat auch das Holz dieser Tanne nicht mehr gehalten. Keiner raucht am Bahnhof einen Krummen Hund. Keiner sieht alles und hält es zusammen, indem er es sieht. Es findet sich keiner mehr für diese Arbeit, von der keiner begreifen würde, daß es sie gibt. Man hat den Bahnhof umgebaut. Es gibt ein Servicecenter. Es gibt Bildschirme, die von ankommenden und abfahrenden Zügen berichten. Man hat die Bahnhofshalle gründlich gesäubert. Es ist kein Platz mehr für die Kollegen von der alkoholischen Flasche, die früher allen Platz für sich hatten. Sie haben es mit ihrem Gestank erledigt, ganz einfach. Wer mehr stinkt, der hat seinen Platz. Über dem modernen Polyester ist sogar den Flaschenmännern die Lust zu stinken vergangen. Von denen hat sich auch das Glotzermännle fern gehalten. Die bildeten eine eigene grausame Welt, unberührt von den anderen. Die Männer mit den Gebetsketten hatten eine traurige Würde. Sie tranken nie. Sie murmelten. Ihre Augen sprachen. Und sie hatten eine Heimat, wenn es auch nur eine verbrannte Sonne war. Die Flaschenmänner hatten nichts als gemeinsames Geschrei aus violettgesoffenen Gesichtern. Und sie zelebrierten ihren Gestank als ihr höchstes Gut. Ihr Gestank war ihre Waffe.

Der hinkende Mann ohne Sprache hatte seinen eigenen Kreis, der sich durch die Jahre drehte. Dieser Kreis hatte keinen Grund und kein Gedächtnis. Er hatte vergessen, weshalb er sich drehte. Er hatte keinen Anteil an der Freiheit der Gleise, sein Leben war klein, es bestand aus Schritten, deren Sinn irgendwo da draußen in der Welt verloren gegangen war.

Wolfgang Hermann, geboren 1961 in Bregenz, studierte Philosophie und Germanistik in Wien. Lebte längere Zeit in Berlin, Paris und in der Provence sowie von 1996 bis 1998 als Universitätslektor in Tokyo. Zahlreiche Preise, u. a. Anton-Wildgans-Preis 2006, Förderpreis zum Österreichischen Staatspreis 2007; zahlreiche Buchveröffentlichungen, unter anderem „Abschied ohne Ende“ (2012), „Die Kunst des unterirdischen Fliegens“ (2015) und „Herr Faustini bleibt zu Hause“ (2016). Bei Limbus: „Paris Berlin New York“ (erstmals erschienen 1992, Neuauflage 2008, als Limbus Preziose 2015), „Konstruktion einer Stadt“ (2009) und „Die letzten Gesänge“ (2015).

Rezension zum Gedichtband «Schatten auf dem Weg durch den Bernsteinwald» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Wolfgang Hermann „Schatten auf dem Weg durch den Bernsteinwald“ Gedichte, Limbus

In Bernsteinlicht eingefangene Momente, Augenblicke. Wer Wolfgang Hermanns Gedichte liest, erinnert sich an sich selbst, an Vertrautes, wird überrascht von der Klarheit seines Sehens. Wolfgang Hermanns Lyrik ist klar, bildreich, grosse Sprachkunst in leisen Tönen.

Bei Romanen ist es ein schlechtes Zeichen, wenn ein Buch lange liegen bleibt, wenn das eingeschobene Lesezeichen nur ganz langsam nach hinten rutscht, wenn es zuweilen unter anderen Büchern verschwindet, wenn man es nur ganz kurz in die Hand nimmt, abends vor dem Schlafen, das Buch in den Händen auf die Decke sinkt, nicht weil ich mich dem Schlaf ergebe, sondern weil ich zwischen letztem Gedicht und dem Wegdriften in den Schlaf dem nachhängen will, was der Dichter in sanften Tönen in die Stille zeichnete.

Reif und prall das leben im quellenden Gras
auf dampfenden Wiesen
unterm langsamen Sommerlicht
Hauch zwischen den Dingen
Hauch im Baum
Hauch um Tor und Tisch
auch mich durchfliesst Hauch
öffnet in mir eine Hand
ist es das, das Älterwerden 

Als ginge man in tiefer Freundschaft zusammen mit Wolfgang Hermann durch die Landschaft. Eine stille Zwiesprache mit einem Dichter, der mich sehend macht. Keine verkopfte, verquere, schwer entschlüsselbare Lyrik. Keine Ausschweifungen, sondern schlichte Konzentrate.

Tief drang ich in den Wald
mir gingen Augen auf und unter
in der Tasche mein Schlüssel
ich vergass ihn
vergass mein Leben in der Stadt
war nur Hauch nur
ein Schlüssel in meiner Tasche.

Zarte Sprachgebilde eines Dichters, der in die Dinge hineinsieht, durch sie hindurch, der sich in die Zeit ziehen lässt, weit hinter die Oberflächlichkeit sieht. Ich las die Gedichte laut, manche immer wieder, die einen anderen Ohren vor, um nachzuprüfen, wie tief die Sprache dringt. Und manchmal spüre ich auch den Schmerz, das Erspüren des Verlusts.

Der Tod errichtet eine Mauer, damit wir auf ihr
balancieren.

Versuche über die Mauer des Todes zu springen.

Die Stimmen der Nacht sind ohne Körper. Sie
sind Schmetterlinge der Nacht, leichter als das
Geflecht der Luft.

… und so ganz nebenbei: Wunderschöne Bücher, auch die Erzählbände von Wolfgang Hermann, aus dem Limbus Verlag von Bernd Schuchter und Merle Rüdisser in Innsbruck!

Wolfgang Hermann, geboren 1961 in Bregenz, studierte Philosophie und Germanistik in Wien. Lebte längere Zeit in Berlin, Paris und in der Provence sowie von 1996 bis 1998 als Universitätslektor in Tokyo. Zahlreiche Preise, u. a. Anton-Wildgans-Preis 2006, Förderpreis zum Österreichischen Staatspreis 2007; zahlreiche Buchveröffentlichungen, unter anderem „Abschied ohne Ende“ (2012), „Die Kunst des unterirdischen Fliegens“ (2015) und „Herr Faustini bleibt zu Hause“ (2016). Bei Limbus: „Paris Berlin New York“ (erstmals erschienen 1992, Neuauflage 2008, als Limbus Preziose 2015), „Konstruktion einer Stadt“ (2009) und „Die letzten Gesänge“ (2015).

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Titelfoto: Sandra Kottonau