«Da hinauf!» Marianne Künzle ist oben!

Marianne Künzle las im Literaturhaus Thurgau aus ihrem neuen Roman «Da hinauf», einem feinen, atmosphärisch starken Stück Literatur.

Ich lernte Marianne Künzle vor einigen Jahren bei meinen regelmässigen Besuchen am Literaturfestival in Leukerbad in den Walliser Alpen kennen. Man trifft dort immer wieder die gleichen Gesichter, beginnt ein Gespräch, und weil man sich im kommenden Sommer wieder trifft, legt sich jedes Jahr wie ein weiterer Ring um etwas, was zu einer Freundschaft wird. Damals hatte Marianne Künzle noch kein Buch und ich noch keine einige Rezension für meine Literaturwebseite geschrieben. Greenhorns.

Marianne Künzle war Buchhändlerin, Koordinatorin bei Greenpeace, engagierte sich im ökologischen Landbau und in der Flüchtlingshilfe und lebt seit ein paar Jahren als geborene Bernerin im Wallis, in einem Haus, das mit jedem Kubikzentimeter ihrer Weltanschauung entspricht. Nach einem ersten Roman über den Kräuterpfarrer Künzle, der trotz gleichem Familiennamen nicht mit ihr verwandt ist, liegt nun ihr zweiter Roman vor. Die Geschichte zweier Frauen aus zwei verschiedenen Leben, zwei verschiedenen Zeiten, deren Spuren sich am Fusse eines Gletschers kreuzen.

Wer den Klappentext des Romas liest, die Ankündigungen des Verlags, denkt unweigerlich an die Dramatik eines Moments, wenn man vor den Überresten einer Gletscherleiche steht, wenn einem Bilder von Ötzi oder ähnlichen Sensationsgeschichten in den Sinn kommen. Marianne Künzles Roman lebt aber nicht von dieser Dramatik, auch wenn es in den letzten Seiten ihres Romans noch dramatisch wird. Es ist die stille Dramatik zweier Frauenwelten, eine aus der Gegenwart, eine aus den 50ern, wörtlich eingebettet ins Eis eines Gletschers. Es sind drei ProtagonistInnen; zwei Frauen aus unterschiedlichen Zeiten und die Natur, der Gletscher, die kargen Hänge, der Fels, das Wasser, der Wind.

Marianne Künzle ist mit den Geschichten, die die beiden Frauen mit sich tragen tragen, sparsam. Ihr Roman ist derart verdichtet, eingekocht, dass es mich als Leser erstaunt, wie viel Form die beiden Frauen erhalten. Marianne Künzle geht es nicht um die Sensation einer spektakulären Begegnung, sondern um die fluide Atmosphäre in einer Kulisse, die mir bewusst macht, dass ich bloss Besucher bin, dass Natur atmet, ein grosses Ganzes ist, ein Ganzes, das ächzt unter der Last ihrer Bewohner.
«Mich treibt seit langem die Frage um, was unserem (westlichen, kapitalistisch geprägten) Menschsein eigentlich fehlt und uns davon abhält, wirklich zu handeln. Wir befinden uns mitten im Klimawandel und wir tun – praktisch nichts. Menschheitsgeschichtlich gesehen stehen grösste Umwälzungen an, wenn wir wollen, dass kommende Generationen eine würdige Zukunft haben. Ich vermute, die fatale Lethargie, die uns beherrscht, hat mit unserer Haltung unserer inneren und äusseren Natur gegenüber zu tun. Ich wage die These aufzustellen: wer keinen Zugang zu seinem Selbst hat, kann auch schwerlich eine Verbindung zur Natur und zur nicht-menschlichen Welt aufbauen und bleibt paralysiert, noch schlimmer, sieht sich nicht in der Verantwortung. Diese konträren Charakterzüge zu ergründen, auch besser zu verstehen, hat mich interessiert. Daraus sind Irma und Annina sind entstanden.» 

Ganz dezent beschäftigst sich Marianne Künzle in ihrem Roman auch mit dem Frauenbild aus zwei verschiedenen Zeiten. Es geht um Emanzipation, Unabhängigkeit und Rollenhaftung. Und trotzdem sind all diese Themen nur ganz sanft angesprochen. Ebenso dezent geht es um den Gletscher selbst, Fragen der Klimaveränderungen, um unser ökologisches Bewusstsein.
«Zu plakative Geschichten, zu klischeehafte Charakteren sprechen mich weniger an. Mich interessiert das Dazwischen. Die Realität ist nie schwarz-weiss. Gelesenes klingt zumindest bei mir länger nach, wenn es mich anregt zum Nachdenken, wenn Raum für eigene Gedanken und für das Abrufen von persönlich Erlebtem Platz hat. Vermutlich ist es das, was sich auch im Schreiben niederschlägt?»

Marianne Künzles Lesung, unterstützt durch eine Tonspur, die mich wie Filmmusik tief ins Geschehen eintauchen liess, war ein Fest für die Sinne!

«Welch wunderbare Tage im Literaturhaus in Gottlieben! Eintauchen ins Buchstabenmeer und Gedankengänge an den Gestaden des Bodensees, sich besingen lassen von Kuckuck, Nachtigall, Pirol. Zum krönenden Abschluss Lesen vor tollem Publikum im Dachstock mit knarrenden Böden, Donnergrollen inklusive:-)» Marianne Künzle

Rezension «Da hinauf» auf literaturblatt.ch

Marianne Künzle «Da hinauf», Nagel & Kimche

Zwei Frauen auf dem Gletscher. Die eine damals, als sich der weisse Koloss noch wuchtig ins Tal ergoss. Die andere heute, wo sich der Mächtige mehr und und mehr zurückzieht, sich in Wasser verwandelt, zu einem kümmerlichen Rest zu werden droht. Und weil die eine durch einen Fehltritt im Eis liegen und für Jahrzehnte eingeschlossen bleibt, kreuzen sich die Weg der beiden Frauen in Spalten an der Gletscherzunge.

Gletscher sind gefrorene Geschichte, eine Art Fingerabdruck der Zeit. So wie sich über Jahrhunderte Schicht um Schicht der Gletscher vergrösserte, so schmilzt er heute weg, gibt preis, was über Jahrzehnte, Jahrhunderte oder gar Jahrtausende verborgen blieb. Bekanntestes Beispiel dafür ist Ötzi, eine „Gletschermumie“, die man 1991 im Südtirol fand, 5000 Jahre nach einer Nacht, die der einsame Wanderer nicht überleben sollte. Künftig wird es immer wieder vorkommen, dass das sich zurückziehende Eis, der schmelzende Permafrost Geschichten freilegen wird.

Annina ist eine junge Journalistin, noch frisch auf der Redaktion, aufgeregt auf ihr erstes grosses Interview, das nach der sonntäglichen Wanderung über den Gletscher stattfinden soll. Eigentlich war es Absicht gewesen, zusammen mit ihrer Freundin Melli die Gletscherwanderung in Angriff zu nehmen. Aber Melli musste krank zurückbleiben. Statt mit der sprudelnden Freundin in die Höhe zu steigen, wird die Wanderung nicht nur eine Wanderung in die Stille der Berge, sondern ein Einstieg in die Stimmen in ihr selbst, eine Welt, die so ganz anders ist, als jene, die sie im Tal zurückgelassen hat. Eine Wanderung zu einem Gletscher, der sich hörbar bemerkbar macht, in dem es kracht und donnert, als wäre es ein grosses Ächzen in seinem langen Sterben.

Marianne Künzle «Da hinauf», Nagel & Kimche, 2022, 112 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-7556-0012-1

Irma ist Jahrzehnte zuvor auf einer ganz ähnlichen Tour, sie in den Fünfzigerjahren allein unterwegs. Einem Abgrund entflohen, junge Witwe, allein am Berg, allein mit sich selbst, den Alltag hinter sich lassend.
Damals war der Gletscher ein ganz anderer, ein monströses Urgetüm, über Jahrhunderte fliessendes Eis. Irma und Annina, zwei Frauen in ganz unterschiedlichen Zeiten, an den Rändern eines Gletschers, der wie kaum ein anderes Naturphänomen zeigt, wie sehr sich die Zeit, die Fliessrichtung ändert. Was damals noch wuchs, zieht sich heute zurück. Damals ein wuchtiges Weiss, heute ein schmutzig graues Überbleibsel dessen, was es einmal war. Zwar wandern die beiden Frauen an den gleichen Bergflanken, aber was sie hinter sich liessen, unterscheidet sich ebenso diametral wie das, das sich vor ihren Augen an diesem Berg abspielt.

Marianne Künzle erzählt ganz dezent, macht sprachlich sichtbar, was der Berg verursachen kann; jene schlichte Klarheit. Marianne Künzle hätte die Geschichte dieser beiden Frauen aufblasen, jenen Fehltritt der einen dramatisieren, den Moment der Begegnung, Jahrzehnte nach dem Unfall theatralisch inszenieren können. Tat sie aber nicht. „Da hinauf“ ist der Blickwinkel zweier Frauen, die für ein paar Stunden aus ihrem Leben auftauchen wollen, die in den Bergen, an den Rändern des Gletschers die Nähe zu sich selbst suchen. Die Dramaturgie des Romans ist eine ruhige, als wäre ich als Leser der einzige Zeuge. 

Als mir die Autorin vor Monaten bei einem Spaziergang in den Walliser Bergen von ihrem Manuskript erzählte, dachte ich, sie würde die Gletscherleiche erzählen lassen. Aber die eigentliche Begegnung der beiden Frauen aus unterschiedlichen Zeiten und Leben findet erst auf den letzten Seiten des Romans statt. Was den Roman zu einem grossen Lesegenuss macht, ist nicht das Drama am Eis, sondern die Stimmungen an diesem Berg, die Farben, die Spuren, das Licht, der Wind. Marianne Künzles Roman ist eine Ode an die Natur. Wie ein zärtliches Streicheln über Bergflanken, die unter den Klimaveränderungen ächzen. Die Autorin erzählt in zwei Strängen, zieht die Windungen immer enger, bis zu jenem Moment, wo klar wird, dass dort kein Holz im Eis liegt, sondern die Überreste einer Frau.

„Da hinauf“ ist gekonnt erzählt, eingetaucht in grosse Klarheit!

Marianne Künzle ist 1973 in Bern geboren. Sie ist in Schönbühl aufgewachsen, zwischen modernen Wohnblöcken und Waldrand, Intensiv-Landwirtschaft und letzten Froschhabitaten. Sie hat eine Ausbildung zur Buchhändlerin gemacht und koordinierte viele Jahre Greenpeace-Kampagnen für eine ökologische Landwirtschaft. 2019 hat sie den 2. Oberwalliser Literaturpreis erhalten (für «Living Planet«). Sie lebt im Wallis.

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