Tim Krohn «Die heilige Henni der Hinterhöfe», Kampa

Das Reich unter Kaiser Wilhelm II ist zerschunden, der Krieg verloren, ein Land, Berlin im Ausnahmezustand. Tim Krohn erzählt in seinem neuen Roman „Die heilige Henni der Hinterhöfe“ die Geschichte einer jungen Wilden in einer wilden Zeit. Und Tim Krohn erzählt die Geschichte Berlins inmitten politischer Tumulte und wirtschaftlicher Miseren. Ein grosses Panorama der Kleinen!

Henni kommt am 29. November 1902 in Berlin zur Welt. Im Kaiserdeutschland. Als der erste Weltkrieg zu Ende ist, der Krieg, der doch eigentlich eine klare Sache war und nur ein paar Wochen hätte dauern sollen, ein Krieg, den man hätte gewinnen sollen, ist Henni ein Mädchen in einer Stadt, die von den Wirren des Krieges ins Chaos der Nachkriegszeit hinübertorkelt, in der die Hurrarufe verstummten und die wenigen Männer mit Arm- und Beinstümpfen dem Leben hinterherhumpeln. Henni, von der man schon in jungen Jahren sagte, „sie is zu Höherem jeborn, aus der wir wat, da wernse noch staunen“ schafft es wirklich hoch hinaus, nur nicht dorthin, wo sie sich in ihren Träumen gerne hingehoben hätte.

Hennis Vater, Arthur Binneweis, arbeitet bei der Post, eine Staatsstelle. Aber weil das staatliche Zerbröckeln mit dem verlorenen Krieg nicht zu Ende ist und die Jahre danach durch Wirtschafts- und Währungskrisen ebenso beschleunigt werden wie durch die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, ist alles, was einst sicher war, auf Sand gebaut. Von Umzug zu Umzug werden die Wohnungen der Familie Binneweis am Prenzlauer Berg mit jedem Mal enger, bis Henni gezwungen ist, unter der Treppe im Stiegenhaus zu schlafen, bis klar ist, dass sie ihr junges Leben selbst in die Hand nehmen muss.

Henni will tanzen. So wie es im Berlin der Nachkriegszeit viele wollen. Henni ist hübsch, Henni ziert sich nicht. Und in der Stadt kocht das Leben und die Sehnsucht nach Zerstreuung. Was im Vorkriegsdeutschland Sitte und Anstand war, Tradition und Ehre, danach scheint im Berlin der Nachkriegszeit niemand mehr zu rufen. Dafür ruft jeder und jede nach seiner Fasson, die einen nach einer neuen kommunistischen Weltordnung, die andern nach einem judenfreien, sauberen Nationalstaat oder nach Freikörperkultur, sei es in entsprechenden Etablissements oder in Ringeltänzen unter Gleichgesinnten auf freiem Feld.

Tim Krohn «Die heilige Henni der Hinterhöfe», Kampa, 2020, 256 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-311-10026-3

Tim Krohn breitet ein Nachkriegspanorama der kleinen Leute aus, taucht mit mir an seiner Seite in eine Stadt ab, die in einem Vakuum zu sein scheint. Tim Krohns Henni kämpft sich durch den Grossstadtdschungel, hangelt sich von Misere zu Misere. Tim Krohn schafft es, dass das Berlin der Nachkriegsjahre vor mir zu leben beginnt. Die Lektüre benebelt meine Sinne, berauscht mich sprachlich, steigt mir durch die Nase tief ins Hirn. Was Tim Krohn schafft, schaffen nur ganz wenige. Sein Berlin ist nicht einfach Kulisse einer wilden, verrückten Geschichte. Sein Berlin ist durchdrungen von seiner Imaginationskraft. Ich begleite Henni durch einen wilden Strauss von Ereignissen, tauche mit ihr ein in den Strudel dieser Stadt, eine Zeit, in der die Weltordnung auseinandergebrochen ist. Es sind die kleinen Leute und kleinen Geschichten, die sich zu einem feinmaschigen Teppich verweben, einem Flickenteppich mit Löchern und Maschen, über die man stolpert, mit Rissen und Verwerfungen, die nicht verbergen, was darunter liegt. Tim Krohn lässt mich ein- und abtauchen, ganz unmittelbar, auf eine eigentliche Zeitreise, eine Historienreise in ein Innen, das man sich hundert Jahre später gar nicht mehr vorstellen kann. Aber Tim Krohn kann es, spinnt ein Netz, das verblüfft, taucht in Tiefen ein, die einem verwirren. Und wenn der gebürtige Nordrhein-Westfale, der im Kanton Glarus aufgewachsen ist und heute im Val Müstair, am äussersten Zipfel der Schweiz ein Leben führt, das sich in maximaler Distanz zu einer urbanen Stadtexistenz zu verorten scheint, mit berliner Schnauze sein Personal im Roman sprechen lässt, dann ist perfekt, was sonst nur ganz wenigen gelingt; absolute Authentizität!

„Die heilige Henni der Hinterhöfe“ ist ein Familien- und Gesellschaftsroman, ein Sittengemälde der Sonderklasse. Die Geschichte einer jungen Frau, die sich durch Sodom und Gomorrah kämpft, auf der Suche nach sich selbst, ihrem Glück und dem Glück ihrer Familie, die zu zerbrechen droht. In einer Stadt, in der Hakenkreuzfahnen zu flattern beginnen und „Jude“ mehr als ein Schimpfwort wird. In einer Gesellschaft, die sich zu finden hofft, die sich im Schmerz zudröhnt, die torkelt und fällt. In einem Land, in dem ein Machtvakuum von allen möglichen und unmöglichen Strömungen eingenommen werden will, in der der Zerfall von der Institution bis in die Familien wirkt.

„Sie is zu Höherem jeborn, aus der wir wat, da wernse noch staunen“, sagt ganz zu Beginn des Romans ein Feuerwehrmann zu Hennis Vater Arthur Binneweis. Der Feuermann bekommt Recht, in mehrfacher Hinsicht!

© Nina Mann

Tim Krohn ist 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich, in einer sehr liebenswerten Genossenschaft. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair. Er ist freier Schriftsteller. Er schrieb unter anderem die Romane»Quatemberkinder» (1998), «Irinas Buch der leichtfertigen Liebe» (2000), «Vrenelis Gärtli» (2007) und «Ans Meer» (2009), die Erzählbände «Aus dem Leben einer Matratze bester Machart» (2014) und «Nachts in Vals» (2015) sowie zahlreiche Theaterstücke, so auch die Vorlage zum «Einsiedler Welttheater 2013». Seine Romane «Herr Brechbühl sucht eine Katze» und «Erich Wyss übt den freien Fall» erschienen beide 2017. 2018 erschien «Julia Sommer sät aus». Er gewann unter anderem das Berliner Open Mike, den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung und den Kulturpreis des Kantons Glarus.

Tim Krohn «Und was erzählt Ihr Parfüm?», eine Versuchsanordnung 

Rezension von «Der See der Seelen» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

20 Jahre Bodmanhaus Gottlieben: Literaturhaus Thurgau

Das Bodmanhaus in Gottlieben, die Stiftung, das Literaturhaus Thurgau feiern «20 Jahre Literaturhaus»! Nach Zürich und Basel war Gottlieben das dritte Literaturhaus in der Schweiz. Was damals mit Sicherheit Mut brauchte, ist heute Institution und ein Ort mit besonderer Strahlkraft!

„Härzlichi Gratulazio dum Bodmaahüs va Gottliäbu, dum künftigu Literaturhüs vam Kantoo Thurgau. Ja, hei wär du Biächär witärhi Sorg, will was weeri iischi Läbu ooni Biächär: Woll wiän äs zärtrikkts Gornischo ooni Ragglett. Heit sus güät! Tschau zämu!“
Rolf Hermann, Schriftsteller

Zu einem Jubiläum gehören neben einem Fest GratulantInnen. So versammelt sich in diesem Bericht ein ganzer Chor von unterschiedlichsten Stimmen, die genau wissen, wie wichtig ein Literaturhaus als Kultur- und Identivikationsort ist:

«Ich habe auf meinen Lesereisen viele Literaturhäuser kennengelernt, mondäne wie in München oder Frankfurt, moderne wie in Basel oder Innsbruck, kleine, gemütliche wie in Kiel oder Oldenburg, Häuser, die Treffpunkte für die Literaturszene waren wie in Stockholm oder Istanbul, aber das Bodmanhaus hat für mich eine ganz besondere Bedeutung. Nicht nur als ein Haus des Lesens, sondern auch als eines des Schreibens. Immer wieder habe ich mich hier eingemietet und an meinen Texten gearbeitet, an diesem stillen und doch nicht abgelegenen Ort, der Literatur nicht nur ausstellt, sondern auch ihre Entstehung ermöglicht. Und was Schöneres kann ein Literaturhaus tun.»
Peter Stamm, Schriftsteller 

„Es gibt Schreib-Orte und es gibt Orte des Lesens und beide sind Wort-Orte. Und Orte von Ankunft und vorläufiger Heimat: das ist das Bodmanhaus in Gottlieben geworden und gewesen in den letzten zwei Dekaden: für Schreibende, für Lesende, auch für mich. Ein Gruss. Ein Dank. Eine Gratulation. Für engagiertes Wirken im Zeichen von Buch und Schrift, von Schreiben.
Die Schreib-Orte sind jene, wo der Text Ort, Gestalt und Sprache findet, eine vorläufige Ankunft: das Schreiben, das gelingt.
Und der Lese-Ort ist jener, wo der Text zum Lesenden findet, zum Dialog, zum Gespräch und damit erst Buch wird: in der Begegnung. 
Gottlieben war immer beides.
Ein Ort hat immer etwas Unverwechselbares, ein besonderes Licht in der Dämmerung, ein Duft von See und Grenze, eine Verfärbung der Erde, ein Ufer mit Schattenspiel, Wasser, wo Schiffe treiben, ein Haus mit knarrenden Treppen und Atmosphäre von alten Schriften und sirrenden Balken, die Atmosphäre des Besonderen – Magie, die zum Bleiben einlädt.
Erwartungsvoll gespannte Gesichter von Lesenden.
Das alles hat das Bodman-Haus in Gottlieben, diesen Hauch von Grenze und grossen Dingen, von Verheissung und Magie. Und es ist alles: Ist Schreib-Ort, wo einer Sprache finden kann, Lese-Ort, wo Lesende Lauschende werden, Sehnsuchtsziel und ein wenig Wallfahrt: zu Schreibenden und Büchern, zu Begegnungen und Gesprächen, ein Ort zum Finden des Eigenen im Fremden.
Das wurde im Bodmanhaus gelebt – 20 Jahre, mit Engagement von vielen Einzelnen (ihre Namen mögen bleiben und genannt werden), mit jener Leidenschaft, die das Besondere schafft, mit jener Menschlichkeit der Begegnung, die bewegt und in Erinnerung bleibt.
All das möge aufgehoben sein im neuen Literaturhaus Thurgau, ein Ort von Geheimnis und Ankunft, von Begegnung und Gespräch, von erfüllten Augenblicken in denen die Zeit stillsteht: gestundet in der Ahnung von Zuhause-sein, das wir nach Novalis immer suchen, von Heimat vielleicht.“
Urs Faes, Schriftsteller

In der Schweiz existieren heute sechs Literaturhäuser, wenn auch nicht alle in der gleichen «Qualität», mit der gleichen Veranstaltungsdichte oder ähnlicher Tradition: 
das Literaturhaus Zürich, seit 1999, von einer grossen Bank ebenso grosszügig unterstützt, mit über 100 Veranstaltungen pro Jahr mit dem entsprechenden Selbstbewusstsein,
seit 2000 das Literaturhaus Basel mit ähnlich hoher Veranstaltungsdichte, mitgetragen von einer grossen Stiftung, die auch das Literaturfestival BuchBasel und die Vergabe des Schweizer Buchpreises mitfinanziert,
das Aargauer Literaturhaus in Lenzburg, das seit 2004 mit einem äusserst kompetenten Team neben Veranstaltungen grossen AutorInnen einen dreimonatigen Schreibplatz im Haus bietet
und das Literaturhaus Zentralschweiz in Stans, 2014 eröffnet, gut vernetzt und mit einem überraschungsreichen Programm überzeugend.
Seit letztem Jahr wächst auch in St. Gallen das Literaturhaus und Bibliothek Wyborada, auch wenn das Pflänzchen noch jung ist.

„In einer Zeit, in der das Lesen sich dramatisch wandelt, braucht die Literatur mehr denn je ihre Lagerfeuer. Zu diesen gehören die Literaturhäuser. In ihrem Widerschein beginnen Texte erst richtig zu glimmen. Ein ganz besonderes Feuer, weil nicht in der urbanen Mitte angefacht, trägt neuerdings den Namen «Literaturhaus Thurgau». An der Kreuzung der zwei Übergänge Seerhein und deutsch-schweizerische Grenze befindet es sich in einer ganz anderen Mitte, die unsere Aufmerksamkeit genauso verdient wie der Trubel der Metropolen. Ich gratuliere dem Bodmanhaus und allen, die zu seinem Erhalt beigetragen haben, für die letzten 20 Jahre und wünsche dem Literaturhaus Thurgau eine erquickliche Zukunft.“
Jens Steiner, Schweizer Buchpreisträger 2013 und Stipendiat 2020 im Literaturhaus Thurgau

Und das Literaturhaus Thurgau?
Es hiess 20 Jahre lang «Bodmanhaus Literaturhaus Gottlieben» und darf stolz sein, in diesen 20 Jahren vielen, die im deutschen Sprachraum literarisch Rang und Name haben, eine Bühne für ihr Schaffen geboten zu haben. Wenn ich die Namen auf der langen Listen lese, schmerzen mich noch jetzt all jene, die ich aus was für Gründen auch immer versäumt und verpasst habe. Aber es sind auch «kleine Namen», Namen, die es wert sind, entdeckt zu werden, die allzu leicht von den grossen verdrängt werden. Namen, denen sich das Literaturhaus Thurgau ebenso verpflichtet fühlte und fühlt.

„Es ist ein grosser Tag, wenn man zwanzig wird. Man ist kein Teenie mehr, aber man muss auch noch nicht erwachsen sein. Man ist noch übermütig, aber man weiss doch schon zu schätzen, was vorhergehende Generationen geleistet haben. Die Welt steht einem offen, ist aber grosszügig genug, noch keine allzu hohen Anforderungen an einem zu stellen. 
In diesem Sinn wünsche ich dem Literaturhaus Thurgau, dass es auf immer zwanzig bleiben kann! Möge die Neugierde auf Literatur nie abflachen, weder auf Seiten des Publikums noch auf Seiten der Macherinnen und Macher, und mögen die Förderstellen grosszügig bleiben, ohne einengende Forderungen zu stellen. Die Literatinnen und Literaten werden es zu schätzen wissen – die jungen Übermütigen genauso wie die reifen Erfahrenen. 
Auf die nächsten zwanzig Jugendjahre in diesem gediegenen, ehrwürdigen Haus.“
Tabea Steiner, Schriftstellerin

„Das Literaturhaus Thurgau ist ein magisches Haus an einem magischen Ort. Müsste ich es einer literarischen Strömung zuordnen, zählte ich es zum magischen Realismus. Zum Geburtstag wünsche ich dem Literaturhaus ein langes, frohes Leben!“
Pedro Lenz, Schriftsteller

Aber warum mit einem Mal «Literaturhaus Thurgau»?
Nicht nur weil ein Haus zuweilen einen neuen Anstrich braucht. Auch nicht, weil das kleine feine Literaturhaus am Seerhein mit einer Tradition brechen, sich schon gar nicht von der Stiftung Bodman distanzieren will, die seit 20 Jahren alles daran setzt, dass dieses Haus gedeiht und sich weiter entwickelt.

«Ganz herzliche Grüsse von ganz im Osten nach ganz im Norden. Die Grenzregionen sind ja gern die Orte, an denen es brodelt, wo es kratzt und sich reibt und sich Feuer an der Kollision von scheinbar Unverträglichem entzündet, aus dessen Asche dann die schönste Kunst in ihrer ganzen Jungfräulichkeit und Ungeschütztheit entsteht. Ihr seid ein Ort, an den man immer mit Freuden wiederkehrt, belebt und betreut von herzlichen Menschen, und ich zweifle nicht daran, dass es euch noch weitere zwanzig und vierzig und zweihundert Jahre geben wird. Einen herzlichen Toast auf Bodmans Literaturhaus.»
Tim Krohn, Schriftsteller

Das Literaturhaus Thurgau hat allen Grund, sich mit Selbstbewusstsein in die Reihe der grossen Häuser zu hieven, auch wenn die dörflich, schmucke Kulisse eine ganz andere ist als in Zürich, Basel oder St. Gallen. Dafür aber werden die Gäste nachweislich um ein Vielfaches mehr verzückt, ihre Auftritte für sie unvergesslich.

„So wie das schöne Bodmanhaus ist auch die wertvolle Literatur: Nicht an der grossen Strasse gelegen, sondern eher fern des Rummels, letzten Endes aber doch erreichbar. Sie ist immer da, wo sich Grenzen aufheben und wir, mit der nötigen Musse, dem Näherkommen, was die Welt zusammenhält. 
Ich möchte mich feierlich in die Reihe der Gratulantinnen und Gratulanten stellen und diesem wunderbaren Literaturhaus, seinen Unterstützerinnen und Unterstützern sowie allen seinen treuen Besucherinnen und Besuchern meinen herzlichen Glückwunsch ausdrücken. Möge das Literaturhaus noch viele schöne Jahre seine Stellung als literarisches Leuchtfeuer am Bodensee bewahren!“
 
Dana Grigorcea, Schriftstellerin

Es müsste eine ganze Gegend, der Kanton selbst dieses Selbstbewusstsein entwickeln, diesen Stolz darüber, eine Perle zu besitzen, einen schlicht glänzenden Schatz, einen Ort, an dem Kunst lebendig wird, Literatur seinen Atem holt. Und für dieses Selbstbewusstsein braucht es den Namen «Literaturhaus Thurgau», gekoppelt mit der Hoffnung, dass dieses Haus an Ausstrahlung zunimmt und es nicht mehr passiert, dass durchaus Literaturbegeisterte den Namen dieses Hauses nicht einzuordnen wissen.

«Falls Literatur tatsächlich mit Poesie zu tun hat – Gottlieben i s t ein poetischer Ort. Nicht in erste Linie der Literatur wegen. Sondern von Natur aus. Des Rheins wegen, dieses kleinen Stücks sogenannten Seerheins wegen, das glücklicherweise, neben der Thur, auch noch zum Thurgau gehört. Max Frisch hat zwar nicht dieses Stück Seerhein im Sinn, sondern den Rhein bei Basel, vom Münster aus gesehen, wenn er in seinem kurz nach Kriegsende entstandenen Tagebuch, im März 1946 schreibt: 
„… der Rhein, wie er in silbernem Bogen hinauszieht, die Brücken, die Schlote im Dunst, die beglückende Ahnung von flandrischem Himmel –

Wie klein unser Land ist.
Unsere Sehnsucht nach Welt, unser Verlangen nach grossen und flachen Horizonten, nach Masten und Molen, nach Gras auf den Dünen, nach spiegelnden Grachten, nach Wolken über dem offenen Meer; unser Verlangen nach Wasser, das uns verbindet mit allen Küsten dieser Erde; unser Heimweh nach der Fremde…»
Ein nicht gleiches, aber vergleichbares Heimweh kann man verspüren, wenn man an einem schönen Sommerabend auf der Terrasse des Waaghauses sitzt und über das spiegelnde Stück Seerhein, den glänzenden Untersee hinweg die Erhebungen des Hegaus, das hügelige Land von Baden-Württemberg sieht, von dem man weiss, dass es nicht sehr weit entfernt, aber doch jedenfalls nicht mehr in der Schweiz liegt. In einem Jenseits, das im Sonnenuntergangslicht sich verbündet mit einem Verlangen in uns, das vielleicht Frischs „Heimweh nach der Fremde“ entspricht. Wobei wir nicht an fremde Länder dabei denken, sondern ein ganz und gar unpolitisches – eben poetisches Verlangen in uns erwacht nach jener schönen Fremde, jener Anderswelt, Gegenwelt, die auch die Literatur verkörpert. Ohne die wir – auch in Zeiten von Corona – nicht leben wollen, sollen und können. 
Aus diesem Grund ist das nun seit zwanzig Jahren bestehende Literaturhaus in Gottlieben vielleicht das poetischste der Schweiz. Ich danke dem alten Bodmanhaus für manche schöne Einladung und dem neuen Literaturhaus Thurgau wünsche ich viel – poetisches – Glück!»

Elisabeth Binder, Schriftstellerin und Verlegerin

Nebst vielen Zentren für bildende Kunst, Museen, Theatern, Kinos und einem Mekka für den modernen Tanz, spielen im Kanton Thurgau zwei Zentren der Literatur; die Kantonsbibliothek in Frauenfeld und das Literaturhaus Thurgau. Schon allein die Tatsache, dass das eine in der Hauptstadt wirkt und das andere, auf dem Land, an der Peripherie, dort wo sich der Kanton seinem Nachbarland hin öffnet, ist perfekte Synchronisation; Kantonsbibliothek Thurgau und Literaturhaus Thurgau. Wenn daraus eine noch intensivere Partnerschaft erwächst, ist das nur wünschenswert.

„Im ersten Moment erinnere ich mich an das Bett, auf dem ich etwas von Blanchot lese, draussen eiskalter Winter 2015, ich schreibe bei Goethe ab: «Es wird immer kälter, man mag gar nicht von dem Ofen weg», laufe durch das Dorf am frühen Abend. Dann fallen mir die Hunde im Erdgeschoss ein, riesige, zuverlässige Wächter, das Fahrrad, das ich einem Lehrling abkaufe, um damit nach Konstanz zu fahren, zu meiner Linken der stille, glänzende See. Schliesslich Emanuel von Bodmans unheimliche Kammer, überhaupt die Räume und Flure, nächtliche Lichter, wie von Geisterhand angezündet. Viel Glück zum Geburtstag, liebes Bodmanhaus!“
Dorothee Elmiger, Schriftstellerin

So feiert die Bodman-Stiftung am 20. Juni, ganz bescheiden aber mit berechtigtem Stolz. Was im Haus am Dorfplatz in Gottlieben alles passierte, wer dort in diesen zwei Jahrzehnten auftrat, das darf sich mehr als sehen lassen. Das Bodman-Haus, das nach dem Dichter Freiherr Emanuel von Bodman (1874–1946) benannt ist, lebt mehr den je. Der Dichter lebte von 1920 bis zu seinem Tod in diesem Haus. Auf Initiative der 1996 gegründeten thurgauischen Bodman-Stiftung wurde es fachgerecht restauriert und als Haus des Buches und der Literatur wieder mit Leben gefüllt.

„…In Zürich wie auch in Gottlieben durfte ich immer wieder mit Veranstaltungen – zweimal sogar mit Theaterstücken! –  zu Gast sein, und gegenüber den zwei anderen Häusern, die auf lange Zeit hinaus von den gleichen Personen geleitet wurden, fand ich es in Gottlieben schon deshalb spannend, weil immer wieder andere Persönlichkeiten die Leitung übernehmen und dem Programm wieder eine neue Richtung geben. So erinnere ich mich mit Dankbarkeit an das Wirken von Hans Rudolf Frey, aber auch an jenes von Stephan Keller, und auch bei Marianne Sax, die dank ihrem Background als Buchhändlerin und ihrer Tätigkeit als Jurorin in Deutschland eine ganze Reihe Korophäen an den Bodensee locken konnte, durfte ich ab und zu mitmachen. Nun freue ich mich sehr auf das Wirken des Amriswiler Literaturvermittlers Gallus Frei Tomic, von dem ich u.a. in «Saiten» immer wieder Spannendes gelesen habe. Es ist wunderbar, dass der Kanton Thurgau an diesem schönen Ort am Bodensee ein Literaturhaus besitzt, um das ihn viele grössere Orte in der Schweiz beneiden und dem eine erfolgreiche Zukunft mit immer wieder neuen inspirierten Leitungspersönlichkeiten und einem begeisterungsfähigen Publikum zu wünschen ist.“
Charles Linsmayer, Autor und Literaturvermittler

Heute ist das Bodman-Haus wieder eine Stätte der Kultur, der Begegnung und des Austauschs, was es bereits zu Lebzeiten Bodmans war, als es in Gottlieben eine Künstlerkolonie gab. Das Bodman-Haus beherbergt Stipendiaten, bemüht sich um ein hochkarätiges literarisches Programm und bereichert im Erdgeschoss mit einer Handbuchbinderei, in der sich Sandra Merten weit über Buchdeckel hinaus um das Kulturgut bemüht.

„Das Bodmanhaus fällt mir immer wieder durch sein abwechslungsreiches und interessantes Programm auf. Ohne gutes Knowhow und viel Herzblut wäre das nicht möglich. Immer wieder staue ich darüber, wen die engagierten LeiterInnen und Programmverantwortlichen alles ins kleine Gottlieben locken. Dass diese Begegnungen schon seit 20 Jahren gelingen, ist in der Tat ein Grund zum Feiern. Ich gratuliere herzlich und wünsche dem zukünftigen Literaturhaus Thurgau weiterhin viel Erfolg!“
Katrin Eckert, Leiterin Literaturhaus Basel, das im April 20 Jahre alt geworden ist

Ich gratuliere dem Stiftungsrat, all den treuen Besucherinnen und Besuchern, den Geldgebern und den bisherigen Programmmachern. Ganz besonders bedanke ich mich bei der Stiftungssekretärin Brigitte Conrad, die sich mit Ruhe, Umsicht und grösstem Engagement seit Jahr und Tag um Literatur, Haus und Gäste bemüht. Eine Kraft, die unschätzbare Arbeit leistet!

«Landschaften wie die, in der sich das Bodmanhaus befindet, hat man früher ‹gesegnete› genannt, weil das Zusammenwirken der Naturgegebenheiten und der 2000jährigen Kultivierung der Natur etwas hat entstehen lassen, das man nur als Schönheit bezeichnen kann. Und deshalb ist mir, wenn ich dort zu Gast war, auch immer eine wichtige und oft vergessene Aufgabe der Literatur wieder bewußt geworden: die Schaffung von Schönheit in und mittels der Sprache. Denn auch Schönheit kreieren zu wollen, ist eine Gesinnung, und vielleicht von allen Gesinnungen, die dem Schriftsteller abverlangt werden, nicht die Unwichtigste.»
Michael Kleeberg, Schriftsteller

Anfang Juli wird das neue Programm von August bis Oktober 2020 bekannt gegeben!

Literaturhaus Thurgau

Handbuchbinderei Merten

„Ich wünsche dem schönen Bodman-Haus in Gottlieben ein stetes weiteres Aufblühen, Wachsen, Erstarken und Ausstrahlen – immer mit dem Wissen darum, dass das Wachsen an sich für ein Kulturhaus immer auch viele Aspekte des Erfolgs mit sich bringt, die wenig mit Kunst zu tun haben und mit dieser auch in Konflikt kommen können. Wachstum, mehr Aktivitäten von Jahr zu Jahr, dieser Dynamik entgeht beinahe kein Kulturort und kein Literaturhaus – umso mehr braucht es heutzutage die Reflexion darüber, was Kulturförderung, was Literaturförderung soll und warum und für wen. Den Hausverantwortlichen, den Programmverantwortlichen wünsche ich deshalb viel Weisheit, Einsicht und Weitsicht bei ihren Entscheidungen, viel Mut zur Eigenständigkeit und Gelassenheit angesichts der Erwartungen von Geldgebern, politischen Entscheidungsträgern, Partnern, Autor/innen und Publikum – und viele Portionen Extrahumor und überbordenden Enthusiasmus. Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die Literaturbegeisterten, die wiederkehrenden Besucherinnen und Besucher, die treuen Seelen werden es euch danken. Letztlich sind es nicht die Zahlen, weder die der Besucher noch die der Einnahmen oder die einer Veranstaltungsstatistik, um die sich alles drehen sollte, sondern diese Sternschnuppenmomente in einem Gespräch über einen Text, eine unerwartete, erhellende Perspektive, der Widerhall von Worten, Ideen, Sprachklängen an den Wänden eines Ortes, dieses tiefe Leuchten in den Augen.“
Bettina Spoerri, Schriftstellerin und Leiterin Aargauer Literaturhaus Lenzburg

Ein Haus mit weit offenen Türen – das Haus Parli

Schreiben Sie? Sind Sie künstlerisch tätig? Suchen Sie einen Ort des kreativen Rückzugs? Eine Woche oder länger? Gar Monate? Im Sommer, wenn die dicken Mauern kühlen oder im Winter, wenn der Schnee alles schluckt? Das Haus Parli ist genau das richtige! Und alle, die einmal dort waren, tragen die Sehnsucht nach einer Wiederholung ein Leben lang mit sich!

Am äussersten Zipfel der Schweiz steht das 400jährige Chasa Parli in Sta. Maria, dem zweitletzten Dorf vor der italienischen Grenze. Wer das ehrwürdige Gemäuer durch den Eingang an der Strasse betritt, steht auf einem massiven Holzboden, wo einst Fuhrwerke durch das Tor hindurch fuhren, wo es nach Pferden roch, Soldaten ihre Gewehre an die Wand lehnten, Frauen den Schweiss mit dem Schürzenzipfel von der Stirn wischten.

Micha Friemel, die Gastgeberin erzählt, dass sie dereinst in der kleinen Wohnung im Erdgeschoss wohnen möchte, wenn die Kinder flügge geworden sind. Die Gastgeberin ist jung, trägt ihr jüngstes Kind auf dem Rücken, hat uns einen Laib Brot gebracht, selbst gebacken, mit Dinkelmehl. Sie habe als Stadtkind alles lernen müssen; die Arbeit im Garten, das Überwinden der Abscheu vor allem, was kreucht und fleucht, die Pflege eines alten Hauses, das Hinnehmen von immer neuen Rissen in den alten Mauern.

Im Haus sind es auf drei Etagen neben einer Wohnung fünf Gästezimmer, die einen mit Wohn- und Arbeitsstube und Schlafkammer, die andern schlicht, mit Bett, Tisch, Stuhl und Schrank, aber jedes mit Geschmack eingerichtet, als wären die Zimmer über Jahrzehnte zu dem geworden, was sie heute sind; Arbeits- und Rückzugsorte zur Kreativität, Einkehrklausen, Stützpunkte, Schaltzentralen für das eigene Selbst, Schnittpunkte all jener Spuren und Stränge, die gebündelt werden wollen. Zimmer, die etwas versprechen, die tragen, schmeicheln. Zimmer, die Geschichten erzählen, Stimmen verstärken, Flügel wachsen lassen. Dazu eine Küche wie für eine Grossfamilie, ein Mittelgewölbe mit langem Tisch, vielen Stühlen und einem Fenster gen Südwesten, auf dessen zweigeteiltem Sims man seinen Kaffee mit Sonne geniessen kann, das einem an ein Fenster in einer Burg erinnert, einer Flucht- und Trutzburg. Und ganz oben mit einem Lese- und Arbeitszimmer, wo eine Gitarre wartet, ein grosser Tisch und ein Bücherschrank, der unter anderem auch vom Leben in vergangenen Zeiten erzählt.

So wie alles in diesem Haus erzählt, stimmhaft und stumm. So wie die Porträts ehemaliger Bewohnerinnen und Bewohner, solchen mit Namen und Namenlose, so wie die Karten im Büro, auf denen Knechte, Mägde, Soldaten und Bäuerinnen in ungewisse Zukunft schauen, so wie der Schreibtisch, der einst im Kontor einer Bank stand, im Haus der Gastgeber, dem Wohnhaus der Familie Krohn und Friemel. 

Tim Krohn und Micha Friemel versichern, es brauche keinen Schlüssel. Es braucht keinen Schlüssel. Das Haus ist ein Schlüssel, der Garten auf der anderen Strassenseite, selbst die Jukebox mit Titeln aus einem ganzen Jahrhundert. Lässt man der Musik freien Lauf, ploppen Bilder auf, entschlüsseln geschlossene Räume.

Die Mauern sind dick, die Böden und vertäferten Wände aus altem Holz, die Kachelöfen abgegriffen und voll mit Spuren von Leben. Alte Truhen, Tische, Stühle und Schränke, Lampen wie zu Grossmutters Zeiten. Auf der Ovomaltinebüchse in der Gemeinschaftsküche steht noch kein Hinweis auf einen grossen, weltumspannenden Multi und die Eisenringe an den Decken einiger Gästezimmer verraten, dass die Räume einst ganz anderen Zwecken dienten, als KünstlerInnen einen kreativen Rückzugsort zu bieten.

Alles an diesem geistvollen Haus erzählt Geschichten. Und wenn nicht Geschichten aus der Vergangenheit, dann evozierte Geschichten aus den Köpfen der Gäste. So wie das leise Ticken der Küchenuhr, das bei mir in Kombination mit dem Knarren der Dielenbretter an die Wochen erinnert, die ich in drei verschiedenen Kapuzinerklöstern verbrachte. Alles erzählt Geschichten. Und wenn Tim Krohn, der Gastgeber und Schriftsteller, Vater und Gärtner, Hausmann und Geschichtensammler zu erzählen beginnt, öffnen sich überall Fenster, Türen und Räume, weht mit einem Mal ein Wind aus den Tiefen der Zeit. Geschichten sind dann viel mehr als blosse Unterhaltung, profanes Futter zum Zeitvertreib, sondern Elixier, Lebensatem, Fundament und Baustoff in die Zukunft.
 
Micha Friemel, die uns an einem Sonntag Morgen aus ihrem noch unveröffentlichtem Romanmanuskript, dann aus einem erhellenden Essay aus dem Sammelband «Geographie der Freiheit», in dem sich Micha Friemel neben anderen AutorInnen Gedanken zu John Bergers Essay «Fellow Prisoners» machte und kleinere Texte vorlas, bringt mit einem Satz auf den Punkt, worum es bei der Literatur, beim Schreiben gehen muss und soll:
«Es gibt zwei Dinge, die uns davon abhalten, Hamsterräder zu drehen: Freunde und Bücher.»

Webseite Haus Parli

Tim Krohn «Und was erzählt Ihr Parfüm?», eine Versuchsanordnung

Die Versuchsanordnung: Tim Krohn trägt ein Parfüm auf den Duftträger auf und riecht ihn viermal: sofort, nach einer Stunde, nach drei und acht Stunden (durchgeführt an den Solothurner Literaturtagen 2019). Jedesmal notiert er ganz ungefiltert, welche Bilder der Duft bei ihm auslösen. Daraus komponiert er anschliessend die “Geschichte des Parfüms”. (Stand 2. Juni 2019)

Die Düfte der DuftBar

© Julia Schöni

Azur
(Andreas Wilhelm)

Morgens um acht aus dem Haus auf die Veranda zu treten und barfuss durch den Garten zu gehen, der mehr Wiese als Garten war, entzückte Monica Settembrini jedesmal von neuem. Sie fühlte das noch taufeuchte Gras, stützte sie sich kurz auf den von Wind und Wetter ausgewaschenen Gartenzaun und genoss den melancholischen Anblick der Weisswäsche. Ihr Nachbar, ein pensionierter höherer Beamter namens Hämmerli, hatte sie tags zuvor wieder einmal auf der Leine vergessen, so dass der Nachtwind sie in komplizierten Mustern zusammengepappt, gefaltet, in sich verklebt hatte. Ihr Bonbon lutschend – seit sie das Rauchen aufgegeben hatte, begann sie den Tag stets mit einem Bonbon –, schlenderte sie weiter in die Garage, nur um sich kurz in die roten Polster eines fahruntauglichen Lamborghini Cabrio zu setzen, den sie zusammen mit dem Haus übernommen hatte. Wenn das Bonbon sich in Wohlgefallen aufgelöst hatte, lutschte sie an ihrer Perlenkette.
Ihre nächste Etappe war das kleine tropische Gewächshaus, das sie nur betrat, um die Tonanlage einzustellen, die Affengeschrei hören liess und die Pflanzen zu Wachstum animieren sollte.
Manchmal begegnete sie auf dem Weg zurück ins Haus dem alten Gärtner, der ihr die Bäume schnitt, und fast immer hatte er beide Arme voll, entweder mit Werkzeug oder mit Zweigen. Jedenfalls konnte sie sich nicht erinnern, ihm jemals die Hand geschüttelt zu haben, sondern immer nur das Handgelenk, und jedesmal überraschte sie, wie kühl es war und wie zart seine Haut: Sie erinnerte an Birkenrinde, und einmal konnte Monica nicht widerstehen, sich kurz an ihn zu lehnen, wie man sich an einen Baumstamm lehnt, ganz voller Vertrauen in seine Stärke. Der Gärtner stolperte und fiel hin, mit all seinen Werkzeugen im Arm, und blieb benommen liegen. Monica hatte schon ihren chinesischen Fächer gezückt, um ihm Sauerstoff zuzufächeln – wie unsinnig, draussen in der klaren Morgenluft! –, als er zu lachen begann und etwas zu ihr sagte, das durchaus bedeutungsvoll klang. In der Aufregung hatte nicht zugehört, trotzdem, irgendwie mechanisch, lächelnd genickt, und deshalb getraute sie sich danach nicht nachzufragen. Das Bedauern darüber beschattete seither ihre Begegnungen.

Blask

© Matthias Holm

(Christophe Laudamiel)

Ben hatte zu schnell „nein“ gesagt (er war sechzehn, ein wandelndes Bündel Unsicherheiten und sagte vorsichtshalber immer erst mal „nein“). Nun bereute er es bitter, denn alle fünf Frauen und Mädchen der Gutsfamilie waren mit geschürzten Röcken oder hochgekrempelten Jeans – die mollige Doris sogar nur im Slip – damit beschäftigt, in einem grossen Zuber Trauben zu stampfen, und er war nicht dabei.
Ben Peter Harris (in anderem Zusammenhängen Benjamin P. Harris Junior) kam aus den vereinigten Staaten, aus Macon, Arkansas, um genau zu sein, einem Städtchen in den Südstaaten also, dass von der nahen Luftwaffenbasis Little Rock lebte. Er hatte die Reise nach Europa an einem Schulwettbewerb gewonnen, für vier Monate durfte er als Austauschschüler ins burgundische Mâcon reisen. „Was für ein Kaff“, hatte er gedacht, als er feststellte, dass in Mâcon noch weniger Menschen lebten als in seinem erzlangweiligen Städtchen. Zu allem Überdruss sollte er auf einen Bauernhof ziehen – er, der in einem viktorianischen Holzhaus mit Säulen und einem englischem Rasen gross geworden war, der fast so kurz geschnitten war wie Bens Haar (denn Benjamin P. Harris Senior war Kommandant des Stützpunkts und legte Wert darauf, die Haarlänge seiner Söhne wöchentlich mit einem dafür entwickelten Massstab zu kontrollieren). Doch die Auszeichnung war eine Ehre und musste angenommen werden. Nun war er seit vier Tagen da und mit der französischen Lebensart, wie er sich eingestehen musste, gänzlich überfordert.
„Ben, komm runter“, hatte Silvie an diesem erstaunlich schwülen Septembermorgen vom Vorplatz her gerufen, „heute ist Erntefest!“
Er hatte an Thanksgiving gedacht, an seine Mutter, die den ganzen Tag in der Schürze zwischen Küche und Esszimmer hin und her rannte, an den zähen Truthahn, die Dekoration aus Kürbis, Strohgebinden und buntem Laub aus Plastik, an die geladenen Gäste in Uniform und Zweireiher und die unvermeidliche Rede seines Vaters, die jedes Jahr, seit die Demokraten an der Macht waren, gehässiger wurde. „Nein, danke“, rief er, „da lerne ich lieber.“ Denn er hatte feststellen müssen, dass er in jedem Fach hinterherhinkte.
Silvie hatte leider nicht insistiert, denn eben kamen ihre beiden Tanten an. Charlotte war eher unscheinbar, doch auch nicht übel, grosse Brüste, Anfang zwanzig. Die andere aber, Marie, eine Französischlehrerin, wie er später erfuhr, war in Worten nicht mehr zu beschreiben, lang, schlank, dunkelhaarig, klar, entschieden, keinerlei Getue, wie er es von den amerikanischen Frauen kannte, auch kein Gequäke. Im Gegenteil, sie hatte eine tiefe, warme Stimme, die alles in ihm aufrüttelte, einen – wie er später feststellen sollte – wunderbar lakonischen Humor (den er leider oft nicht begriff) und über all dem eine Wesensart, die jede ihrer Bewegungen zu einem Ereignis machte.

© Lea Frei

Ben beobachtete vom Fenster seines kleinen Mansardenzimmer aus, wie die Frauen sich begrüssten, scherzten und darauf warteten, dass die Männer die ersten Trauben in den Bottich leerten. Der stand in der Scheune, die Scheune wiederum war ans Wohnhaus angebaut. Also schlich Ben sich, sobald sie hineingegangen waren, auf den Estrich – es war ein schlimmes Gefühl, in Socken (denn trotz der Hitze weigerte er sich, barfuss zu gehen) über das unbehandelte Holz zu gehen, das tausend kleine Splisse und Risse hatte, an denen er mit jedem Schritt wie kleben blieb. Den Estrich hatte Silvie ihm am ersten Tag gezeigt, er roch nach jahrhundertealtem Staub und war praktisch leergeräumt, neben einigen hölzernen Gerätschaften, deren Zweck er nicht kannte, sah er nur eine Bananenschachtel mit Fotoalben, ein Goldfischglas mit einem aufgerissenen Tütchen Enzianbonbons darin und ein besticktes Geschirrtuch, auf dem stand: Beurre et pain font joli teint. Durch die Lücken im Riemenboden beobachtete er die Frauen und wunderte sich über so viel Unbefangenheit.
Erst zum Abendessen – und nachdem er sich zweimal von Silvie hatte rufen lassen) – wagte er sich unter die Menschen und murmelte etwas von „schrecklich viel zu büffeln.“ Doch Marie (er hatte nur Augen für Marie) sah keinen Augenblick lang aus, als kaufe sie ihm das ab. Stattdessen lag, wann immer sie ihn ansah (und das tat sie öfters, während sie jemand anderem lauschte), etwas Amüsiertes in ihrem Blick, das Ben unmöglich deuten konnte. Auf seiner Stirn wiederum stand den ganzen Abend über nur der eine Satz geschrieben: „Bitte berühren Sie mich!“ (Denn tatsächlich siezte er Marie, was sie zusätzlich amüsierte.)
Auch wenn Ben nicht begriff, wie er sich in dieser Runde zu benehmen hatte, fühlte er sich – wie er irgendwann erkannte, in einer der Phasen, in denen sich alles um Themen drehte, für die ihm das Vokabular fehlte, und niemand sich mehr die Mühe nahm, ihm zu übersetzen – hier doch weniger einsam als in seinem Elternhaus, in dem vor lauter Prinzipientreue (oder Prinzipienreiterei – wo, fragte er sich, war da die Grenze?) das Flüchtige, Flapsige, Freche und Freie des Menschen verloren ging. So dachte er tatsächlich, denn er war in jenem Alter, in dem man grosse Gedanken liebt. Und er ging noch weiter: Er beschloss, seine Erkenntnis zum Ausgangspunkt des Berichts zu machen, den zu verfassen und bei seiner Heimkehr der Schulleitung vorzulegen er sich verpflichtet hatte.
Gern hätte er Marie von seinen Gedanken erzählt, doch sie sprach ihn lange Zeit nicht an, und als sie es ganz überraschend tat, hatte er sich gerade an einen Film im Internet erinnert, in dem auch eine Französischlehrerin vorkam, dargestellt von einer gewissen Trudy Bitch, die für eine Wohltätigkeitsorganisation von Haus zu Haus ging und Tombolalose verkaufte; zog jemand das richtige Los, durfte er sie auf der Stelle vögeln (und es gab erstaunlich viele solcher Lose). So konnte er nur stottern und hatte Marie so gar nichts Substantielles zu entgegnen.
„Sixteen, what a shitty age, istn’t it?“, sagte sie darauf (vermutlich wollte sie ihn trösten, doch ihm war, als habe sie ihm die Brust durchbohrt), und bald darauf stand sie schon auf. In ihrem kleinen Renault fuhr sie durch die sternenklare Nacht heim in ein Dörfchen namens Digoin, in dem sie, wie er hörte, mit Mann und Kindern lebte. Zum Abschied gab sie allen Küsschen, nur Ben drückte sie kameradschaftlich die Hand (vermutlich hatte sie auch hier nur Rücksicht zeigen wollen).
Der Polstersessel aus abgewetztem Cordsamt, in dem sie vor dem Abendbrot gessessen und ihren Kir getrunken hatte, roch aber noch einige Tage nach ihr, und Ben sass oft darin, wenn ihm – in Socken und mit langen Jeans – zu heiss war, um sich zu seiner Gastfamilie nach draussen zu setzen.

© Eva Meister

Eau radieuse
(Christophe Laudamiel)

Sein erstes erotisches Erlebnis hatte Samuel Ox – den seine Kameraden „Muh“ nannten – mit dreizehn Jahren im Garten seiner Tante Gudrun. Sie hatte sich auf dem letzten Glatteis des Winters den Fuss gebrochen und lag seither im Krankenhaus, denn der Bruch war komplizierter. Damit das Grundstück „im Schuss blieb“, zahlte sie für gewisse Dienste fünf Mark die Stunde. Der Frühling war in diesem Jahr schnell und heftig ausgebrochen, schon Anfang April stand das Gras knöchelhoch. Das sollte Samuel schneiden.
Am Ostermontagmorgen fuhr er mit dem Bähnchen hin, das die Dörfer des Tals verband, und lief vom Bahnhof den Kanal hoch bis zu Tante Gudruns Haus. Dort war schon ein Mädchen an der Arbeit, das er nicht kannte. Es hiess Helga oder Hella, er hatte nicht genau verstanden, denn das Mädchen sprach schneller als die Leute im Tal, und er getraute sich nicht nachzufragen. Jedenfalls war Hella oder Helga – er entschied sich irgendwann für „Helga“, hütete sich aber den ganzen Tag über, sie mit Namen anzusprechen – zu Besuch bei Verwandten, die wiederum Tante Gundruns Nachbarn waren und im Haus nach dem Rechten sahen, und so war sie beauftragt worden, den Gartenzaun zu streichen. Helga war blond, sie hatte einen verstrubbelten Pagenkopf, der aussah, als hätte sie die Haare selbst geschnitten, trug Latzhosen und schob sich alle paar Minuten einen neuen Kaugummi in den Mund, Wrigleys Spearmint, ohne die alten auszuspucken – das machte das Verständnis nicht leichter. Sie war dreizehn wie er. So hatte sie das Gespräch am Gartenzaun eröffnet: „Ich bin dreizehn“, sagte sie, noch ehe sie sich vorstellte, „und du?“ Und wie die meisten gleichaltrigen Mädchen schüchterte sie Samuel ein.
Tante Gudrun hatte noch einen dieser altmodischen Rasenmäher, die mit Muskelkraft betrieben wurden, das Messer war durch eine Übersetzung mit den Rädern verbunden, und am besten liess sich damit mähen, wenn man mit Schwung über den Rasen rannte. Samuel machte gehörigen Krach, das geschnittene Gras flog hoch. „Kleb mir bitte das Gras nicht in die Farbe“, rief Helga, als er beim Wenden kurz den Griff losliess und sich den Schweiss abwischte. Er murmelte etwas Unbestimmtes, das ebenso als Entschuldigung wie als Verteidigung herhalten konnte, dann pulte er ein paar Grasschnipsel von einer frisch gestrichenen Latte und fragte: „Was ist denn das für eine Farbe?“
„Ölfarbe“, antwortete Helga.
Samuel schüttelte den Kopf. „Ich meine, das ist doch kein Weiss. Oder Grün, oder Braun. Das ist doch keine Farbe für einen Zaun.“
„Das ist Milchblau“, sagte Helga. „Gefällt es dir nicht?“
Samuel zuckte mit den Achseln, obwohl ihm die Farbe sogar sehr gefiel. „Milch ist doch nicht blau“, sagte er. „Milch ist weiss.“
„Dünne Milch schon“, antwortete sie. „Jedenfalls heisst diese Farbe hier Milchblau.“
„Du hast dich beschmiert“, stellte er fest, als ihm keine Antwort einfiel.
„Und wenn schon“, sagte sie leichthin, „das ist normal, wenn man einen Zaun streicht.“ Zum Beweis drückte sie den Arm gegen die Latten und zeigte ihm den Abdruck auf der nackten Haut, dann beugte sie sich vor und pinselte die Stelle am Holz wieder über, denn wo sie es berührt hatte, war es matt geworden. „Du hast noch eine ganze Menge zu mähen“, bemerkte sie.
„Wetten, ich bin eher fertig als du?“, rief er, doch Helga hob nur die Schultern und meinte: „Ist mir wurscht, Samuel. Ich will dreissig Mark verdienen, also male ich bis vier Uhr. Bis viertel nach, eine Viertelstunde lang mache ich Pause.“
Samuel schämte sich etwas, dass er nicht so vernünftig gedacht hatte. Nachdem er sich wieder an die Arbeit gemacht hatte, schob er den Rasenmäher etwas gemächlicher, so flogen auch die Grasschnipsel weniger weit. Aber der feuchte Abschnitt verklebte die Sohlen seiner Turnschuhe, und als er eine Bahn gerecht hatte und den vollen Korb zum Kompost tragen wollte, glitt er auf den Stufen zum Gemüsegarten aus und schlug hin. Er fluchte und verbiss sich knapp die Tränen.
„Weh getan?“, rief Helga vom Zaun her.
„I wo, aber es blutet“, sagte er. „Das Knie.“
„Kleb ein Sauerampferblatt mit Spucke drauf, das hilft“, riet sie ihm.
Samuel wusste nicht, wie Sauerampfer aussah und ob im Garten welcher wuchs, und Helga dachte nicht daran, ihm zu helfen. Also humpelte er in die Küche, tupfte die Wunde mit Küchenkrepp ab (er hatte nur die Haut leicht aufgeschürft), in Tante Gudruns Bad durchsuchte er die Schränke, bis er ein Pflaster fand, dann sammelte er notdürftig den Grasmatsch, den er eingeschleppt hatte, von den Teppichen.
Inzwischen war auch Helga ins Haus gekommen. „Ich mache mir ein Rundstück“, rief sie aus der Küche, „isst du mit?“ Was sie „Rundstück“ nannte, war eine Käsestulle, die assen sie mit Joghurt, sie sass auf dem Küchentisch und liess die Beine baumeln. Er lehnte an der Anrichte und untersuchte mehrmals sein Pflaster, um zu sehen, ob es durchblutete. Sie sprachen nicht viel, denn Samuel war noch nie mit einem Mädchen seines Alters allein gewesen und konnte nur immer denken, dass er sie jetzt eigentlich küssen müsste – ganz besonders, nachdem er zugesehen hatte, wie sie den Joghurtlöffel ableckte. Sie ihrerseits beachtete ihn nicht gross, lieber studierte sie den Abdruck ihrer Zähne in der Stulle und im Joghurt die Aprikosenfasern, und manchmal fuhr sie sich durchs Haar, das so wirr war – oder so verklebt von Farbe, oder beides –, dass sie kaum mit den Fingern durchkam und immer wieder richtig reissen musste. „Aua“, sagte sie dann jeweils, kniff die Augen und rümpfte die Nase, aber sie lachte dazu. Sie war bestimmt überhaupt tapferer als er.
Nach einer Viertelstunde sah sie auf die Uhr, schrieb auf einen Zettel, den sie ihr „Logbuch“ nannte, von wann bis wann sie Pause gemacht hatte, beschwerte den Zettel mit einem Aschbecher und machte sich wieder an die Arbeit. Samuel musste erst noch aufessen, er beroch den Zettel und küsste ihn (danach klebte etwas Joghurt daran), dann ging auch er zurück in den Garten, er humpelte kaum noch.

© Mirta Lepori

Die Sonne berührte die Spitzen der Haselhecke entlang dem Kanal, als er rings ums Haus gemäht hatte, alles Gras gerecht und die Geräte versorgt. Helga entdeckte er schliesslich hinter dem Haus auf dem Treppchen, das zur Küchenlaube führte. Dort wärmte die Sonne noch. Sie roch an einer Orange, dann klebte sie den Kaugummi hinters Ohr, biss die Schale auf und schälte sie. „Der Samuel“, sagte sie, als sie ihn sah, in sonderbar verträumtem Tonfall, „auch schon fertig?“ Er schob die Hände in die hinteren Hosentaschen und stellte sich vor sie, um sich irgendwie zu verabschieden oder sie doch noch zu küssen oder – idealerweise – sich von ihr sagen zu lassen, wie toll er sei und wie sie ihr Leben lang auf ihn gewartet habe und wie unbedingt sie ihn heiraten wolle, so wie er sich das den ganzen Nachmittag über ausgemalt hatte. Stattdessen bot sie ihm von ihrer Orange an, aus lauter Verlegenheit lehnte er ab und bereute es, als er sah, wie sie herzhaft in eine der Hälften biss und der Saft ihr über Kinn und Hände rann. „Im April so saftige Apfelsinen“, sagte sie. „das gibt’s nur in Sizilien. Ich kenne sogar den Baum, auf dem sie gewachsen ist, jedenfalls gibt es Fotos von mir und dem Baum. Mein Papa arbeitet mit einem Sizilianer, und wir waren mal dort. Magst du echt nicht?“
Samuel schüttelte den Kopf, obwohl er natürlich wollte, und plötzlich dachte er, dass er womöglich unhöflich war, daher kramte er ein paar Ostereier hervor, die er am Morgen in die Hosentasche gesteckt hatte. Sie waren inzwischen nicht mehr wirklich Eier. „Willst du?“, fragte er trotzdem.
„Danke, ich mag Schokolade nicht besonders“, sagte sie und schob den Kaugummi wieder in den Mund. Samuel war noch damit beschäftigt, die Alufolie aufzupulen und mit den Zähnen die Pampe abzuschaben, als Helga aufstand, die Hände am Hosenlatz abwischte und ihm die rechte hinhielt. Hastig leckte er die Finger ab und rieb sie am Hemdsaum trocken, dann schlug er möglichst männlich ein.
„Es war nett, dich kennenzulernen“, sagte sie und klang plötzlich sehr erwachsen. „Und grüss deine Tante, wenn sie aus dem Krankenhaus kommt. Ich bin dann schon wieder in Hamburg.“ Er hatte die Schokolade noch nicht von den Zähnen gelutscht, um den Mund aufzumachen, da war sie schon über den Zaun gestiegen – es gelang ihr tatsächlich, ohne ihn zu berühren – und hinter dem leuchtend gelben, wild wuchernden Forsythiendickicht verschwunden, das das Nachbarshaus verdeckte.
Samuel Ox träumte über ein Jahr lang jede Nacht von ihr, im Schlafen und im Wachen. Er wagte nie, nach ihr zu fragen, doch selbst als Erwachsener wurde er noch rot, wenn er den Namen Hella oder Helga hörte.

© Julia Trachsel

«Wenn Düfte erzählen: Geschichten gehen durch die Nase» (When Fragrances Tell: Olfactory Storytelling) is part of the project «Smelling more, smelling differently: Scent as Cultural Practice» conducted by Bern University of Applied Sciences and funded by the Swiss National Science Foundatio

Dazu gibt es auch ein Filmchen: https://www.youtube.com/watch?v=xCfrInadAW4

© Susanne Schleyer

Tim Krohn ist 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich, in einer sehr liebenswerten Genossenschaft. Inzwischen lebt er der Schriftstellerin Micha Friemel und seinen Kindern in Santa Maria Val Müstair. Er ist freier Schriftsteller. Er schrieb unter anderem die Romane „Quatemberkinder“ (1998), „Irinas Buch der leichtfertigen Liebe“ (2000), „Vrenelis Gärtli“ (2007) und „Ans Meer“ (2009), die Erzählbände „Aus dem Leben einer Matratze bester Machart“ (2014) und „Nachts in Vals“ (2015) sowie zahlreiche Theaterstücke, so auch die Vorlage zum „Einsiedler Welttheater 2013“. Zuletzt erschienen die Alpensage „Der See der Seelen“ und der Krimi „Endstation Engadin“ (beide im Kampa Verlag). Er gewann unter anderem das Berliner Open Mike, den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung und den Kulturpreis des Kantons Glarus.

Maj Doerig, Lea Frei, Matthias Holm, Mirta Lepori, Eva Meister, Julia Schoeni und Julia Trachsel sind StudentInnen Illustration Fiction an der Hochschule Luzern.

Beitragsbild © Maj Doerig und Lea Frei

Tim Krohn «Der See der Seelen», Kampa

Vielleicht ist es die Sehnsucht nach dem Unerklärbaren, dem Mythischen, jenen Kräften in der Natur, die einem verblüffen. Vielleicht ist es die Faszination des Sagenhaften, des nur schwer Erklärbaren. Aber vielleicht die Art des Erzählens, dass da einer mit geschmeidiger Sprache und Stimme ganz nah an die Urthemen allen Denkens und Handelns kommt. «Der See der Seelen» ist ein Geschenk!

Schon in seinen früheren Büchern, allen voran «Quatemberkinder» oder «Vrenelis Gärtli», zeigte der umtriebige Schriftsteller Tim Krohn seine Nähe zur Sagenwelt. Und genauso sind in seiner neuen «Alpensaga» Geschichte, Landschaft und Figuren nicht bloss Kulisse und Personal, denn «Der See der Seelen» spielt mit der Klangfarbe jener Geschichten, die das Unerklärliche erklären wollen, dem Ton, ohne in einen antiquierten Singsang zu verfallen. «Der See der Seelen» beschäftigt sich auf 80 Seiten mit den grossen Themen des Lebens; Familie, Liebe, Freundschaft, Tod, zeitlos, in ein Szenario eingebettet, das aus der Zeit gefallen scheint, nicht abgehoben, aber entrückt, nicht weltfremd, aber vielleicht zivilisationsfremd. Vielleicht steckt hier eine der vielen Gründe meiner Faszination; die Sehnsucht nach dem Urtümlichen, dem Nicht-Technisierten, dem einzig von den Naturgewalten Abhängigen.

Niculina lebt mit ihren Eltern auf einem kleinen Hof in den Bergen. Das Leben im Dorf ist hart, die Existenz der Familie von vielem bedroht. Nicht zuletzt von der Krankheit der Nona, Niculinas Grossmutter, die im gleichen Dorf lebt und sich die Medizin, die sie bräuchte, nicht mehr kaufen will und kann. Niculina treibt jeden Morgen die Ziegen hinauf auf die Weiden über dem Dorf. Dort trifft sie Ladina, ihre Freundin, und seit diesem Sommer Peider, den Sohn des einzigen Kaufmanns im Dorf. Peider muss keine Ziegen hüten. Er hütet sein Giki Gäki in seinem sagenhaften Buch, dessen Erklärungen er den Mädchen wie die Wahrheit verkauft. Für Niculina, die durch die Krankheit der Grossmutter, durch den drohenden Tod und die Geheimnisse, die in der Natur verborgen sind nach Antworten sucht, macht sich auf, um im See der Seelen das Lebenswasser zu finden, jenes Wasser, das die Grossmutter unsterblich machen soll. Von geheimnisvollen Doppelwesen geführt bis ins Wolfstal in eine geheimnisvolle Höhle unter dem Piz Spiert.

«Der See der Seelen» ist das Schwesterbuch seiner 2010 bei Galiani erschienen Bergnovelle «Der Geist am Berg». Schon damals spielte die Geschichte an den Flanken der selben Berge. «Der See der Seelen» bezaubert in vielerlei Hinsicht. Geschichte und Sprache vereinen sich zu einem Kunstwerk. Und dass dem Kampa Verlag so viel daran lag, aus diesem Büchlein ein wahres Kleinod zu gestalten, freut den Büchernarren ganz besonders. «Der See der Seelen» erwärmt die Seele!

© Susanne Schleyer

Tim Krohn, 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair. Er ist freier Schriftsteller. Er schrieb unter anderem die Romane, z. B. «Quatemberkinder» (1998) oder «Vrenelis Gärtli» (2007), Erzählbände, Theaterstücke und zuletzt die Romane „Herr Brechbühl sucht eine Katze“, „Erich Wyss übt den freien Fall“ (beide 2017), «Julia Sommer sät aus» (2018) und neu bei Kampa die Krimis «Engadin Abgründe» (2018) und «Endstation Engadin» (2019) unter dem Pseudonym Gian Maria Calonder.

Webseite des Autors

Zudem betreibt der Autor zusammen mit seiner Frau und Schriftstellerin Micha Friemel das Haus Parli, ein Schreibort, ein Ort für den kreativen Rückzug, eine Oase der Stille, für (fast) alle offen.

«Bäcker am Ofenpass» eine Geschichte auf gegenzauber.literaturblatt.ch von Tim Krohn

Rezension von «Herr Brechbühl übt den freien Fall» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Lea Frei zeichnet an den Solothurner Literaturtagen

Lyrikerin «Auch Götter haben Gärten»

Schriftsteller, Lyriker «Mund und Amselfloh»

Moderator und Autor

Ruth Schweikert, Schriftstellerin «Tage wie Hunde»

Viola Rohner, Schriftstellerin «42 Grad»

Rolf Hermann, Schriftsteller «Flüchtiges Zuhause»

Tim Krohn, Schriftsteller «Julia Sommer sät aus», «Engadiner Abgründe» (unter dem Pseudonym Gian Maria Calonder)

Katja Alves, Moderatorin und Schriftstellerin

Auf dem Beitragsbild von links nach rechts: Donat Blum (Moderator, Schriftsteller «Opoe», Micha Friemel (Schriftstellerin und Preisträgerin des OpenNet Schreibwettbewerbs 2019), Ruth Schweikert (Schriftstellerin «Tage wie Hunde» 2016 Trägerin des Solothurner Literaturpreises), Ralph Tharayil (Schriftsteller, arbeitet an seinem Debütroman) und Rolf Hermann (Schriftsteller, Lyriker «Flüchtiges Zuhause»)

Alle Zeichnungen © Lea Frei (lea.frei@gmx.ch)

«Schweiget, wenn andere pochen auf ihr heiliges Recht.» Ein Rückblick auf die 41. Soloturner Literaturtage

Auch wenn ich als Blogger schreibe, besuche ich die Solothurner Literaturtage in erster Linie als Leser, als Büchermensch, als Perlensucher und ewig Erwartender. Solothurn tat genau das, was ich mir erhoffte; es schenkte mir Lesestoff und Begegnungen, die nur in Solothurn stattfinden können, Garanten aus der Vergangenheit und Versprechen in die Zukunft.

Gut, wenn der Erfolg nicht Garantie dafür ist, an den Solothurner Literaturtagen eingeladen zu werden. Dafür gibt es Bühnen genug in den Zentren kulturellen Lebens. Dort schweben sie in unsäglicher Entfernung vom Publikum über Leserinnen und Lesern und pflegen ihr Image als Ikonen der zeitgenössischen Literatur. Hier in Solothurn setzen sie sich an den gleichen Tisch, auf die gleiche Bank; Lukas Hartmann, Ruth Schweikert, Klaus Merz oder Nelly Zink, die auf Lesereise in Europa in Solothurn und Leukerbad Station macht.

Eine der Grossen, die alles versprechen und alles halten, ist Judith Schalansky, mit der ich im letzten Sommer ein Interview in Leukerbad führte und die damals noch in den letzten Arbeiten steckte vor der finalen Fertigung ihres Buches «Verzeichnis einiger Verluste». Judith Schalansky reiste vor Jahren anlässlich eines Stipendiums in die Walliser Alpen, um in der Abgeschiedenheit einen «Naturführer der Monster» zu schreiben, angelehnt an ihren international erfolgreichen Bestseller «Atlas der abgelegenen Inseln», eine aus Fiktion und Fakten gemischte Sammlung fünfzig entlegenster Inseln. Allerdings scheiterte das Schreiben eines «Naturführers der Monster» angesichts der begrenzten Vielfalt menschlicher Vorstellungskraft. Aber es war der Beginn eines viel grösseren Wagnisses, dass schon jetzt seinen sicheren Platz im Kanon zeitgenössischer Literatur gefunden hat. Bestechend allerdings ist nicht nur der Inhalt, die Sprache, der Plan, der dem Buch zugrunde liegt, sondern das Buch als Objekt selbst. Judith Schalansky ist viel mehr als Schriftstellerin. Sie ist Buchgestalterin, Buchkünstlerin, macht aus einem Buch ein Gesamtkunstwerk, durchkomponiert bis zur Art und Weise, wie sie ihre Bücher signiert. Was Judith Schalansky tut ist Offenbarung! (Rezension auf literaturblatt.ch)

Neben Lesungen aller Art von Literatur vielfältigster Couleur ist das Format «Skriptor», bei dem Autorinnen und Autoren zur Textarbeit zusammen über unveröffentlichte Texte diskutieren, ein ganz besonderes Setting. So sassen neben dem Moderator und Schriftsteller Donat Blum, die Schreibenden Viola Rohner, Ruth Schweikert, Micha Friesel, Ralph Tharayil und Rolf Hermann einer zukünftigen Literaturdebütantin gegenüber, die vier Kapitel ihres Romanmanuskripts dem Sextett und dem Publikum zur Diskussion vorlegte. Ein Romanentwurf, der viel verspricht, von Mariann Bühler, die für einmal nicht den gerne kritisierten Schreibschulen der Schweiz entsprang. Ohne viel verraten zu dürfen; auf diesen Namen darf man gespannt sein. Da entsteht ein Roman (Arbeitstitel: Camoghè), der begeistern wird, da wächst eine Schreibe, die viel Talent verspricht. Spannend, wenn man als Leser und Besucher der Literaturtage nicht nur mit fertigen Büchern konfrontiert wird, sondern ungefiltert in Entstehungsprozesse hineinblicken kann, in Auseinandersetzung, in die sonst geschlossenen Räume dessen, was mir Leser verborgen bleiben.

Ebenso vielversprechend, spannend und einmalig war das von Tim Krohn vorgestellte Projekt DuftBar. In Zusammenarbeit mit dem SNF-Projekt «Smelling more, smelling differently» der Berner Fachhochschule schrieb Tim Krohn während der Literaturtage zwei Dutzend Texte zu Düften in kleinen Flakons, die von Duftkünstlern und Meisterparfümeurs zusammengestellt wurden. Immer nach der gleichen Vorgehensweise: Tim Krohn nahm sich einen Duft, schnupperte nach einer Stunde noch einmal an dem Duftstreifen, nach drei Stunden ein weiters und nach acht Stunden ein letztes Mal, weil sich komplexe Düfte mit der Zeit verändern. Aus den Notizen, Assoziationen und aufgestiegenen Bildern schuf Tim Krohn Texte, Kurzgeschichten, Sprachskizzen, die einen ganzen Saal bestens zu unterhalten wussten. Zu wünschen ist nur, dass diese kunstvollen Miniaturen irgendwann einem breiten Publikum zugänglich werden, denn sie beweisen auf eindrückliche Weise, wie einmalig Tim Krohns Fähigkeit ist, aus Bildern Sprache und Geschichten werden zu lassen. So freue ich mich vorerst einmal auf die beiden bei Kampa im kommenden Herbstprogramm erscheinenden Bücher! («Der See der Seelen» und unter dem Pseudonym Gian Maria Calonder «Endstation Engadin»)

Weitere Empfehlungen folgen!

Zeichnungen © Lea Frei (lea.frei@gmx.ch)

Das Zitat im Titel des Artikel entstammt dem neuen Gedichtband «Zwiegesicht» von Ernst Halter

„Sodeli“, und dann wars vorbei, das 10. WORTLAUT-Literaturfestival St. Gallen

Auch wenn die Kälte noch immer im Schatten hockte und grosse grauschwarze Schneeberge mitten in der Stadt Saft liessen, war es neben der Sonne die Literatur, die am letzten Märzwochenende mein Herz erwärmte. Noch bevor an meinem Fenster zuhause der knorrige Aprikosenbaum zu blühen beginnt, schlug die Literatur aus, machte das Wort laut.

Die Zeichnungen, die diesen Text begleiten, sind von der Illustratorin Lea Frei, mit der ich an den kommenden Solothurner Literaturtagen die Veranstaltungen sowohl textlich wie zeichnerisch begleiten werde. Über die Resultate dieses spannenden Unternehmens wird auf literaturblatt.ch informiert.

Im Stundentakt schob sich Höhepunkt an Höhepunkt. Im grossen Saal im Waaghaus, fast versteckt im Splügeneck, mit Pastis in der Hauptpost, lautstark im Palace und der Grabenhalle. Da auch ich mich nicht zerreissen kann, war die Wahl zwischen „Laut“, „Luise“, „Rinks“ und „Lechts“, den vier zur Tradition und St. Galler Spezialität gewordenen Veranstaltungsreihen schnell gefällt. Von Tabea Steiner und Joachim Bitter souverän begleitet und moderiert, lauschte ich der Reihe „Luise“. Sechs Autorinnen und Autoren, die mit ihren Büchern eindrücklich bewiesen, dass Literatur fast alles kann; bezaubern, unterhalten, aufrütteln, verunsichern, beglücken und faszinieren!

Sechs Bücher, die es unbedingt zu lesen lohnt:

Auch in seinem zweiten Band zu den „Menschlichen Regungen“ von Tim Krohn begleitet mich bekanntes Personal aus dem ersten Band „Herr Brechbühl sucht eine Katze“. Herr Brechbühl wohnt noch immer alleine im Erdgeschoss eines Zürcher Mietshauses, wo ihm das kleine Mädchen aus der vierten Etage den Vorschlag macht, mit ihrer Familie die Wohnung zu tauschen, weil ihre Mutter im vierten Stockwerk keine Katze haben wolle. Er brauche die Wohnung im Erdgeschoss, die so praktisch wäre, doch gar nicht dringend, er könne ja auch ein paar Treppen weiter oben alt werden und sterben. Aber Herr Brechbühl will nicht in die vierte Etage, aber vielleicht eine Katze. Und auf der Suche nach einer solchen findet er Samira, eine Frau, die aus der Raupe Brechbühl einen Schmetterling zu machen versteht. Eine Frau, die Brechbühl nicht nur aus seinem Panzer schält, ihn regelrecht ins Leben zieht, in eines mit Geistern, Zeichen, Räucherstäbchen und Gestalten aus dem Reich der Toten. „Erich Wyss übt den freien Fall“ ist ein Roman, der köstlich unterhält, geschrieben von einem Autor, der nicht einfach mit menschlichen Regungen spielt, sondern meisterlich konstruiert und fabuliert.

Jens Steiner hält der Gesellschaft einen Spiegel vor Augen. Auch ihrer Augenwischerei, wenn man sich mit einem Ranking der Recycelns den uneingeschränkten Konsum zu erleichtern versucht, um all jene Leerstellen, die das immerwährende Entsorgen bringt, möglichst schnell wieder mit „Neuem“ aufzufüllen. „Mein Leben als Hoffnungsträger“ ist aber mehr als ein Abenteuerroman auf einem Recyclinghof. Philipp, der junge Mann, der sich dort anstellen lässt, ist, so angepasst sein Leben und Tun an jenem Ort scheint, ein „Verweigerer“. Einer, der sich dem Würgegriff von Leistung, Besitz und Fortschritt verschliesst und verweigert, der einen Kampf auszustehen hat mit sich selbst und seiner Umgebung. Jens Steiner leuchtet das Kleinräumige aus.

In „Max“ lässt sich Markus Orths Zeit mit Erzählen. Er hangelt sich nicht von einem zu nächsten Cliffhanger, die man als Leser unbedingt aufgelöst haben will. „Max“ ist aber auch mehr als eine Künstlerbiographie über den Maler Max Ernst, ein Buch, das vergöttert und verehrt, einen Künstler auf einen steinernen Sockel hebt. „Max“ ist ein Sittengemälde einer verrückten Zeit, über einen „verrückten“, aber keineswegs entrückten Künstler. Sechs mit den Musen seines Lebens überschriebene Kapitel, sechs Frauen, die ein wildes Leben begleiteten. Vor Beginn seines Romanprojekts habe er nicht mehr als zwei, drei Bilder des Künstlers gekannt. Erst durch die Auseinandersetzung über einen Schreibauftrag wurde er der Fülle gewahr, die das Leben und Schaffen Max Ernsts ausmachte. Markus Orths las jene Szene aus seinem Roman, als der Medizinstudent Max Ernst an einer Ausstellung in einer Nervenheilanstalt mit Werken von Insassen Henrik begegnet, einem Mann, der aus Brot Plastiken formt, die immer und immer wieder die Auseinandersetzung mit einem übermächtigen Vater zeigen. Max Ernst geht nach Haute und schreibt: „Ich werde malen, sonst nichts!“

Wazlaw, ein nicht mehr junger Mann, ein Heimatloser, ein Arbeitsmigrant, folgt dem Drift, immer auf der Suche, einer unendlichen Heimatsuche. Ein Leben, das in der Schwebe bleibt, ein Roman, bei dem vieles in der Schwebe bleibt, keine einfache Geschichte, so wie das Leben nie einfach ist. Ein Bohren in tiefe Schichten, in die Sedimente des Lebens. Anja Kampanns grosse Kunst ist die Sprache, das, was sie in ihrem ebenfalls bei Hanser erschienen Gedichtband „Proben von Stein und Licht“ (Als wären die Gedichte Gesteinsproben des darauf folgenden Romans!) aufs eindrücklichste bewies. Eine Sprache, die sich dem chronologischen Erzählen verschliesst, viel mehr sein will als das Nacherzählen einer Idee, einer Geschichte. Es sind Bilder, die durch alle Sinne dringen, klar gezeichnet und doch mehr als nur abbildend. „Wie hoch die Wasser steigen“ ist ein Buch, das man nicht in allem zu verstehen baucht, genau so, wie man Schostakowitsch niemals als Ganzes verstehen kann. Es ist, als stünde man ganz nah an einem riesigen Gemälde. Man sieht Farben, Punkte und Linien, den Pinselstrich und weiss, das nichts dem Zufall überlassen wurde. Erst in der Distanz, mit der Dauer des langsamen Lesens wird das Ganze sichtbar, das viel mehr ist als eine Geschichte.

Fast voll war der Saal bei Dana Grigorcea! Sympathien stürmten wie Fruchtfliegen auf die Frau mit den Fingernägeln im gleichen Rot wie das schmale Büchlein, das von so viel Leidenschaft erzählt. Nach dem letzten Roman „Das primäre Gefühl von Schuldlosigkeit“, einem Stadtroman, einem Roman über Herkunft, episodisch erzählt, war es die Lust auf eine Liebesgeschichte mit viel „Zug“, eine Geschichte, die in Zürich spielt. Auch ein Experiment, ob die gewonnenen Leser/innen ihrer letzten beiden Romane, die miteinander verwandt sind, ihr mit einer Liebesgeschichte folgen würden. „Schreiben am Scheitern vorbei.“ „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“, eine Tänzerin, die den Zenit ihres Erfolgs bereits überschritten hat, die einst mehr war, als sie zu erhoffen gewagt hatte, eine Ballerina. Eine Liebe zu einem Fremden, einem verheirateten Kurden, einem Mann, der sich sonst nicht in ihren Kreisen bewegt. Eine scheinbar leichtfüssige Novelle „in einer der schönsten Städte der Welt, mit freundlichen, sorglos wirkenden Menschen“.

Und zuletzt Nicol Ljubić. 1977 brennt Hartmut Gründler lichterloh. Ein Mann, der über lange Zeit unauffällig zur Untermiete im Haus der Familie Kelsterberg lebt. Eine Geschichte zum einen aus der Perspektive des zehnjährigen Sohnes der Familie und Jahrzehnte später aus der Rückschau desselben bei den Besuchen bei einer alt gewordenen Mutter. Damals, 1977, war Hanno Kelsterberg nicht nur Zeuge zunehmender Radikalisierung im Protest Hartmut Gründlers, sondern Zeuge einer «tektonischen Verschiebung» innerhalb der Familie, einer schmerzhaften Entfremdung der Eltern, der Emanzipation seiner Mutter, dem Abfallen seines Vaters. Drei Jahrzehnte später besucht Hanno seine greise Mutter. Die Katastrophe von Fukushima ist für die Mutter keine Keule einer falschen Atompolitik, sondern logische Konsequenz und damit lang erwartete Bestätigung für den Kampf Hartmut Gründlers, eines verkannten Messias. „Ein Mensch brennt“ ist provokant und mit politischem Ausrufezeichen geschrieben über ein vergessenes Kapitel deutscher Geschichte.

 

 

 

 

Den Organisierenden meinen grossen Dank und tiefen Respekt. Vor allem Joachim Bitter, Mitinitiant, Moderator und Literaturfreund aus Leidenschaft!

Wortlaute Geburtstage vom 22. – 25. März in St. Gallen

Wortlaut, die St. Galler Litereraturtage, feiern einen runden Geburtstag. Ich gratuliere den Gründern, den Machern, den Organisatoren zu ihrem Mut, ihrem Durchhaltevermögen, damit „Wortlaut“ auch ein 10. Mal durchgeführt werden kann.

Den St. Galler Literaturtagen war es von Beginn weg wichtig, sich ein ganz eigenes Profil zu geben, nicht einfach zu kopieren, was in anderen „Literaturmetropolen“ durchgeführt wird. Im Bewusstsein darum, dass zu einer Stadt wie St. Gallen, einer Bücherstadt seit Jahrhunderten, ein solches Wortfestival gehört. Wie eigentlich auch ein Literaturhaus, eine Institution, die sich um das Kulturobjekt Buch bemüht, weit drüber hinaus, es bloss zu horten und auszuleihen.

„Wortlaut“ verpflichtet sich darum auch nicht einfach dem Buch, sondern dem Wort und wie es sich verlautbart. Es wird während den Festivaltagen weit mehr als bloss gelesen und diskutiert. „Wortlaut“ gibt dem Wort das Wort. Absurdes Cabaret unter einer Autobahnbrücke, ein Künstlerkollektiv, das sich mit Text und Musik lautstark macht, ein Textkiosk, der für Neugierige persönlich zugeschnittene Texte verfasst, Poetry-Slammer aus der Meisterklasse, Illustratorinnen und Comiczeichner mit ihren lauten Bildgeschichten und selbstverständlich das, was Literaturtage braucht: Bücher und ihre Gesichter dahinter.

Grosse Namen in Sachen Belletristik: Nicol Ljubić, Markus Orths, Jens Steiner und Dana Grigorcea. Tim Krohn liest aus seinem Grossprojekt „Menschliche Regungen“, dem dritten Roman „Julia Sommer sät aus“, den Geschichten aus einem Zürcher Mietshaus und seinen bunten Lebensgeschichten darin. Tim Krohns Erzählen ist ein köstlicher Genuss; übersprudelnd, vielfarbig, witzig und mit Tiefgang:
Es geht um Neuaufbau und das Arbeiten an Utopien: Die Schauspielerin Selina May träumt davon, zu ihrer Jugendliebe nach Berlin zu ziehen, und der Forscherdrang des risikofreudigen Studenten Moritz Schneuwly treibt ihn zu immer neuen Experimenten. Seine geliebte Mary ist aus New York zurück, reist aber gleich nach Amsterdam weiter, um dort ein neues Leben als Studentin zu beginnen. Pit aus dem zweiten Stock hat sein Studium abgebrochen und ist fasziniert von der lebensfrohen Mutter seiner Freundin Petzi, die gerade ihr Leben noch einmal neu entwirft und ihn auf eine Reise nach Griechenland mitnimmt.
Beim alten Erich Wyss treibt der Frühling bisweilen seltsame Blüten, und Julia Sommer muss nicht nur sehr um ihr »Gärtlein« kämpfen, sondern plötzlich sogar um ihr Leben. Auch diesmal lässt Tim Krohn seine Figuren und Leser Gefühle aller Couleur durchleben. Und natürlich gärtnert nicht nur Julia Sommer – es wird viel gesät, gejätet, gestutzt und gepflegt in diesem Band: Pflanzen auf Fenstersimsen, Balkonen und in Garten – und Gedanken und Lebensentwürfe in den Köpfen vieler Figuren. (Infos Galiani Verlag)

Anja Kampmann, die nach begeisternden Lyrikveröffentlichungen mit ihrem ersten Roman „Wie hoch die Wasser steigen“, legt einen Roman, der nicht nur inhaltlich überzeugt, sondern mit einer kunstvollen Sprache:
Wenzel Groszak, Ölbohrarbeiter auf einer Plattform mitten im Meer, verliert in einer stürmischen Nacht seinen einzigen Freund. Nach dessen Tod reist Wenzel nach Ungarn, bringt dessen Sachen zur Familie. Und jetzt? Soll er zurück auf eine Plattform? Vor der westafrikanischen Küste wird er seine Arbeitskleider wegwerfen, wird über Malta und Italien aufbrechen nach Norden, in ein erloschenes Ruhrgebiet, seine frühere Heimat. Und je näher er seiner großen Liebe Milena kommt, desto offener scheint ihm, ob er noch zurückfinden kann. Anja Kampmanns überraschender Roman erzählt in dichter, poetischer Sprache von der Rückkehr aus der Fremde, vom Versuch, aus einer bodenlosen Arbeitswelt zurückzufinden ins eigene Leben. (Infos Hanser Verlag)

Oder Lika Nüssli, 2016 Trägerin des „Comicstipendium der Deutschschweizer Städte“, mit der Buchvernissage von „Vergiss Dich Nicht“, einer gezeichneten Erzählung über das Erinnern, das Vergessen und über den Migrationskosmos in Altersheimen:
Die Mutter der Künstlerin Lika Nüssli lebt seit einigen Jahren in einem Heim für demenzkranke Menschen. Als die Besuche bei der Mutter immer schweigsamer werden, beginnt Lika Nüssli die Menschen um sie herum zu zeichnen. Die Künstlerin empfindet die vom Leben gezeichneten Körper als faszinierend und die Gespräche, Sätze, Worthülsen als herrlich absurd. Anfangs ist es ihr schwer gefallen, länger als nötig im Heim zu bleiben. Das hat sich mit dem Zeichnen geändert. (Infos likanuessli.ch)

„Wortlaut“ eröffnet seinen Strauss an Veranstaltungen am Donnerstag, den 22. März, um 21 Uhr in der Grabenhalle St. Gallen mit „Säg rächt!“ einem Dialekt Poetry Slam. Und am Freitag, 23. März um 19 Uhr die eigentliche Eröffnung im Waaghaus St. Gallen mit „KOSOVȄ IS EVERYWHERE – Bern ist überall“.

Mehr Informationen unter wortlaut.ch

Tim Krohn «Bäcker am Ofenpass»

Der Ofenpass ist beliebt bei Jungs mit schweren Maschinen. Na ja, nicht nur der Ofenpass, der ist nur einer von vierzig Passstrassen im Umkreis von hundertfünfzig Kilometern, und sommers jagen die Jungs (Was heisst Jungs, das Durchschnittsalter liegt bei 70.) dort gern Rekorde. Deshalb wollte Hein, als er vor einigen Jahren auf der Höhe des Ofenpasses kurz austreten musste, dafür auch nicht extra ins Restaurant, sondern querte, nachdem er die Maschine geparkt hatte, nur eben die Strasse, um sich ins Gebüsch zu schlagen. Dort treffen allerdings gleich so einige Wanderwege zusammen, entsprechend gross war das Geläuf. Während Heins Not immer grösser wurde, folgte er dem dünnsten Weglein und hoffte, recht bald zu einem ungestörten Plätzchen zu kommen. Sein Problem war, dass inzwischen ein grosses Geschäft rief, das hiess den Overall ausziehen, und sowas macht man macht man doch lieber im Privaten.
Nachdem er eine ganze Weile dem Schafsberg entlang gegangen war, entdeckte er in der Bergflanke eine Höhle, die er auch gleich eroberte. Mit herrlichem Blick über die Bündner Alpen gab er seinem Drang nach. Doch schlagartig wurde er dabei todmüde, schlief ein und wachte erst in tiefer Nacht wieder auf.
Es war kalt – er kauerte noch immer mit barem Hinterteil an einen Felsvorsprung gelehnt –, und aus dem Berg vernahm er ein Rumoren. Während er sich noch bemühte, die steifen Glieder zu strecken, sah er sich plötzlich von weissen, matt aus sich heraus leuchtenden Gestalten umringt, Bäckergesellen offenbar. Da blieb er doch lieber hocken und hoffte, dass sie ihn übersahen.
Das schienen sie auch zu tun.„Was backen wir heute?“, fragte der eine die anderen.
„Schaiblettas“, schlug der zweite vor.
„Wer heizt den Ofen ein?“, fragte wieder der erste.
Der ist schon heiss“, stellte der dritte fest, „ich muss ihn nur noch öffnen.“ Und während er das sagte, schlug er dem Hein mit einer Brotschaufel ganz unspektakulär die Schädeldecke ab. Jetzt konnte Hein sich überhaupt nicht mehr regen, selbst wenn er gewollt hätte. Und offenbar glomm in seinem Schädel wirklich eine Glut, denn seit jenem Schlag war die Höhle in mattes, rotes Licht getaucht. Er musste mit ansehen, wie die Gesellen in einer Vertifung im Fels, einer Art Wanne, Mehl, Zucker, Eier und Nüsse, dass es nur so stob, dann formten sie daraus Plätzchen und backten sie dort, wo Heins Hirn sitzen musste.
Das ging hurtig, und der Anblick hatte auch einen gewissen Zauber. Kurz vergass Hein tatsächlich, wie es um ihn stand, stellte wiederum der erste der Gesellen fest: „Genug gebacken für heute. Wer schliesst den Ofen?“
„Ich“, sagte der dritte, schlug Hein – klack! – die Schädeldecke zu, und im selben Augenblick waren sie verschwunden.
Hein wartete noch eine Weile, dann regte er sich behutsam, tastete den Schädel ab, der zu seiner grossen Erleichterung doch heil schien und sah sich um, im Licht des Feuerzeugs. Die Kekse schienen die Gesellen mitgenommen zu haben, das bedauerte er etwas. Doch dann entdeckte er, dass von seinem Geschäft ein warmer Schimmer ausging: ganz offensichtlich war es vergoldet!
Da nun sein Schädel doch tüchtig brummte, kroch Hein kurz aus der Höhle, um sich tüchtig strecken zu können. Dabei sah er, dass die Gegend dicht verscheit war, und noch immer fielen Flöcklein, fein wie Mehlstaub.
Er robbte zurück, schob sein vergoldetes Geschäft in die Tasche und suchte den Rückweg. Der Schnee leuchtete so hell in der Nacht, dass er den Weg gut fand.
Und weil ihm nicht danach war, mit seiner Suzuki 600 auf einer verschneiten Strasse zu fahren, klopfte er den Wirt der Herberge aus dem Schlaf, der schob ihn unkompliziert ins Massenlager ab. Hein war noch ganz aus dem Häuschen, und als er einen entdeckte, der offensichtlich schlaflos lag, ging er zu ihm und erzählte die aufregende Geschichte. Natürlich zeigte er auch sein vergoldetes Geschäft.
„Wenn das massiv ist, bist du ein gemachter Mann“, sagte der andere, nachdem er das Geschäft in der Hand gewogen hatte.
Daran hatte Hein noch gar nicht gedacht. Er schlug den goldenen Klumpen übers Knie, um zu sehen, was geschah. es zerbrach, und dabei zeigte sich leider, dass es doch nur vergoldet war. Die Stücke rollten unter die Pritschen, es stank gehörig, der andere schimpfte ihn einen Idioten und schlug auf ihn ein, und darüber wieder erwachten die anderen. Zuletzt prügelten sie ihn gemeinsam aus dem Schlafsaal. Das Ende vom Lied war, dass Hein von da an keine Pässe mehr fahren konnte, sein Hirn blieb überaus empfindlich – sei’s von den Schlägen oder den Ereignissen in der Höhle –, der kleinste Höhenunterschied war schmerzhaft. Liftfahren ging gerade noch.
„Und was lernst du daraus?“, fragte seine Freundin, als er heimkam?
„Was soll ich daraus lernen?“, fragte er zurück. „Von nun an gehe ich eben aufs Klo.“ Aber vor allem ärgerte er sich, dass er sein Geschäft nicht einem Museum übergeben hatte, denn in den kommenden Jahren las er immer wieder von Künstlern, die mit Kacke berühmt geworden waren.

Tim Krohn, geboren 1965, lebt als freier Schriftsteller in Santa Maria Val Müstair. Seine Romane «Quatemberkinder» und «Vrenelis Gärtli» machten ihn berühmt. 2015 veröffentlichte Tim Krohn bei Galiani den hochgelobten Erzählband «Nachts in Vals». Der Auftaktband des ›Menschliche Regungen‹-Projekts «Herr Brechbühl sucht eine Katze» war wochenlang in den Schweizer Bestsellerlisten. Zuletzt erschien der zweite Band «Erich Wyss übt den freien Fall».