Tim Krohn «Die heilige Henni der Hinterhöfe», Kampa

Das Reich unter Kaiser Wilhelm II ist zerschunden, der Krieg verloren, ein Land, Berlin im Ausnahmezustand. Tim Krohn erzählt in seinem neuen Roman „Die heilige Henni der Hinterhöfe“ die Geschichte einer jungen Wilden in einer wilden Zeit. Und Tim Krohn erzählt die Geschichte Berlins inmitten politischer Tumulte und wirtschaftlicher Miseren. Ein grosses Panorama der Kleinen!

Henni kommt am 29. November 1902 in Berlin zur Welt. Im Kaiserdeutschland. Als der erste Weltkrieg zu Ende ist, der Krieg, der doch eigentlich eine klare Sache war und nur ein paar Wochen hätte dauern sollen, ein Krieg, den man hätte gewinnen sollen, ist Henni ein Mädchen in einer Stadt, die von den Wirren des Krieges ins Chaos der Nachkriegszeit hinübertorkelt, in der die Hurrarufe verstummten und die wenigen Männer mit Arm- und Beinstümpfen dem Leben hinterherhumpeln. Henni, von der man schon in jungen Jahren sagte, „sie is zu Höherem jeborn, aus der wir wat, da wernse noch staunen“ schafft es wirklich hoch hinaus, nur nicht dorthin, wo sie sich in ihren Träumen gerne hingehoben hätte.

Hennis Vater, Arthur Binneweis, arbeitet bei der Post, eine Staatsstelle. Aber weil das staatliche Zerbröckeln mit dem verlorenen Krieg nicht zu Ende ist und die Jahre danach durch Wirtschafts- und Währungskrisen ebenso beschleunigt werden wie durch die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, ist alles, was einst sicher war, auf Sand gebaut. Von Umzug zu Umzug werden die Wohnungen der Familie Binneweis am Prenzlauer Berg mit jedem Mal enger, bis Henni gezwungen ist, unter der Treppe im Stiegenhaus zu schlafen, bis klar ist, dass sie ihr junges Leben selbst in die Hand nehmen muss.

Henni will tanzen. So wie es im Berlin der Nachkriegszeit viele wollen. Henni ist hübsch, Henni ziert sich nicht. Und in der Stadt kocht das Leben und die Sehnsucht nach Zerstreuung. Was im Vorkriegsdeutschland Sitte und Anstand war, Tradition und Ehre, danach scheint im Berlin der Nachkriegszeit niemand mehr zu rufen. Dafür ruft jeder und jede nach seiner Fasson, die einen nach einer neuen kommunistischen Weltordnung, die andern nach einem judenfreien, sauberen Nationalstaat oder nach Freikörperkultur, sei es in entsprechenden Etablissements oder in Ringeltänzen unter Gleichgesinnten auf freiem Feld.

Tim Krohn «Die heilige Henni der Hinterhöfe», Kampa, 2020, 256 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-311-10026-3

Tim Krohn breitet ein Nachkriegspanorama der kleinen Leute aus, taucht mit mir an seiner Seite in eine Stadt ab, die in einem Vakuum zu sein scheint. Tim Krohns Henni kämpft sich durch den Grossstadtdschungel, hangelt sich von Misere zu Misere. Tim Krohn schafft es, dass das Berlin der Nachkriegsjahre vor mir zu leben beginnt. Die Lektüre benebelt meine Sinne, berauscht mich sprachlich, steigt mir durch die Nase tief ins Hirn. Was Tim Krohn schafft, schaffen nur ganz wenige. Sein Berlin ist nicht einfach Kulisse einer wilden, verrückten Geschichte. Sein Berlin ist durchdrungen von seiner Imaginationskraft. Ich begleite Henni durch einen wilden Strauss von Ereignissen, tauche mit ihr ein in den Strudel dieser Stadt, eine Zeit, in der die Weltordnung auseinandergebrochen ist. Es sind die kleinen Leute und kleinen Geschichten, die sich zu einem feinmaschigen Teppich verweben, einem Flickenteppich mit Löchern und Maschen, über die man stolpert, mit Rissen und Verwerfungen, die nicht verbergen, was darunter liegt. Tim Krohn lässt mich ein- und abtauchen, ganz unmittelbar, auf eine eigentliche Zeitreise, eine Historienreise in ein Innen, das man sich hundert Jahre später gar nicht mehr vorstellen kann. Aber Tim Krohn kann es, spinnt ein Netz, das verblüfft, taucht in Tiefen ein, die einem verwirren. Und wenn der gebürtige Nordrhein-Westfale, der im Kanton Glarus aufgewachsen ist und heute im Val Müstair, am äussersten Zipfel der Schweiz ein Leben führt, das sich in maximaler Distanz zu einer urbanen Stadtexistenz zu verorten scheint, mit berliner Schnauze sein Personal im Roman sprechen lässt, dann ist perfekt, was sonst nur ganz wenigen gelingt; absolute Authentizität!

„Die heilige Henni der Hinterhöfe“ ist ein Familien- und Gesellschaftsroman, ein Sittengemälde der Sonderklasse. Die Geschichte einer jungen Frau, die sich durch Sodom und Gomorrah kämpft, auf der Suche nach sich selbst, ihrem Glück und dem Glück ihrer Familie, die zu zerbrechen droht. In einer Stadt, in der Hakenkreuzfahnen zu flattern beginnen und „Jude“ mehr als ein Schimpfwort wird. In einer Gesellschaft, die sich zu finden hofft, die sich im Schmerz zudröhnt, die torkelt und fällt. In einem Land, in dem ein Machtvakuum von allen möglichen und unmöglichen Strömungen eingenommen werden will, in der der Zerfall von der Institution bis in die Familien wirkt.

„Sie is zu Höherem jeborn, aus der wir wat, da wernse noch staunen“, sagt ganz zu Beginn des Romans ein Feuerwehrmann zu Hennis Vater Arthur Binneweis. Der Feuermann bekommt Recht, in mehrfacher Hinsicht!

© Nina Mann

Tim Krohn ist 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich, in einer sehr liebenswerten Genossenschaft. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair. Er ist freier Schriftsteller. Er schrieb unter anderem die Romane»Quatemberkinder» (1998), «Irinas Buch der leichtfertigen Liebe» (2000), «Vrenelis Gärtli» (2007) und «Ans Meer» (2009), die Erzählbände «Aus dem Leben einer Matratze bester Machart» (2014) und «Nachts in Vals» (2015) sowie zahlreiche Theaterstücke, so auch die Vorlage zum «Einsiedler Welttheater 2013». Seine Romane «Herr Brechbühl sucht eine Katze» und «Erich Wyss übt den freien Fall» erschienen beide 2017. 2018 erschien «Julia Sommer sät aus». Er gewann unter anderem das Berliner Open Mike, den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung und den Kulturpreis des Kantons Glarus.

Tim Krohn «Und was erzählt Ihr Parfüm?», eine Versuchsanordnung 

Rezension von «Der See der Seelen» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau