Ein Haus mit weit offenen Türen – das Haus Parli

Schreiben Sie? Sind Sie künstlerisch tätig? Suchen Sie einen Ort des kreativen Rückzugs? Eine Woche oder länger? Gar Monate? Im Sommer, wenn die dicken Mauern kühlen oder im Winter, wenn der Schnee alles schluckt? Das Haus Parli ist genau das richtige! Und alle, die einmal dort waren, tragen die Sehnsucht nach einer Wiederholung ein Leben lang mit sich!

Am äussersten Zipfel der Schweiz steht das 400jährige Chasa Parli in Sta. Maria, dem zweitletzten Dorf vor der italienischen Grenze. Wer das ehrwürdige Gemäuer durch den Eingang an der Strasse betritt, steht auf einem massiven Holzboden, wo einst Fuhrwerke durch das Tor hindurch fuhren, wo es nach Pferden roch, Soldaten ihre Gewehre an die Wand lehnten, Frauen den Schweiss mit dem Schürzenzipfel von der Stirn wischten.

Micha Friemel, die Gastgeberin erzählt, dass sie dereinst in der kleinen Wohnung im Erdgeschoss wohnen möchte, wenn die Kinder flügge geworden sind. Die Gastgeberin ist jung, trägt ihr jüngstes Kind auf dem Rücken, hat uns einen Laib Brot gebracht, selbst gebacken, mit Dinkelmehl. Sie habe als Stadtkind alles lernen müssen; die Arbeit im Garten, das Überwinden der Abscheu vor allem, was kreucht und fleucht, die Pflege eines alten Hauses, das Hinnehmen von immer neuen Rissen in den alten Mauern.

Im Haus sind es auf drei Etagen neben einer Wohnung fünf Gästezimmer, die einen mit Wohn- und Arbeitsstube und Schlafkammer, die andern schlicht, mit Bett, Tisch, Stuhl und Schrank, aber jedes mit Geschmack eingerichtet, als wären die Zimmer über Jahrzehnte zu dem geworden, was sie heute sind; Arbeits- und Rückzugsorte zur Kreativität, Einkehrklausen, Stützpunkte, Schaltzentralen für das eigene Selbst, Schnittpunkte all jener Spuren und Stränge, die gebündelt werden wollen. Zimmer, die etwas versprechen, die tragen, schmeicheln. Zimmer, die Geschichten erzählen, Stimmen verstärken, Flügel wachsen lassen. Dazu eine Küche wie für eine Grossfamilie, ein Mittelgewölbe mit langem Tisch, vielen Stühlen und einem Fenster gen Südwesten, auf dessen zweigeteiltem Sims man seinen Kaffee mit Sonne geniessen kann, das einem an ein Fenster in einer Burg erinnert, einer Flucht- und Trutzburg. Und ganz oben mit einem Lese- und Arbeitszimmer, wo eine Gitarre wartet, ein grosser Tisch und ein Bücherschrank, der unter anderem auch vom Leben in vergangenen Zeiten erzählt.

So wie alles in diesem Haus erzählt, stimmhaft und stumm. So wie die Porträts ehemaliger Bewohnerinnen und Bewohner, solchen mit Namen und Namenlose, so wie die Karten im Büro, auf denen Knechte, Mägde, Soldaten und Bäuerinnen in ungewisse Zukunft schauen, so wie der Schreibtisch, der einst im Kontor einer Bank stand, im Haus der Gastgeber, dem Wohnhaus der Familie Krohn und Friemel. 

Tim Krohn und Micha Friemel versichern, es brauche keinen Schlüssel. Es braucht keinen Schlüssel. Das Haus ist ein Schlüssel, der Garten auf der anderen Strassenseite, selbst die Jukebox mit Titeln aus einem ganzen Jahrhundert. Lässt man der Musik freien Lauf, ploppen Bilder auf, entschlüsseln geschlossene Räume.

Die Mauern sind dick, die Böden und vertäferten Wände aus altem Holz, die Kachelöfen abgegriffen und voll mit Spuren von Leben. Alte Truhen, Tische, Stühle und Schränke, Lampen wie zu Grossmutters Zeiten. Auf der Ovomaltinebüchse in der Gemeinschaftsküche steht noch kein Hinweis auf einen grossen, weltumspannenden Multi und die Eisenringe an den Decken einiger Gästezimmer verraten, dass die Räume einst ganz anderen Zwecken dienten, als KünstlerInnen einen kreativen Rückzugsort zu bieten.

Alles an diesem geistvollen Haus erzählt Geschichten. Und wenn nicht Geschichten aus der Vergangenheit, dann evozierte Geschichten aus den Köpfen der Gäste. So wie das leise Ticken der Küchenuhr, das bei mir in Kombination mit dem Knarren der Dielenbretter an die Wochen erinnert, die ich in drei verschiedenen Kapuzinerklöstern verbrachte. Alles erzählt Geschichten. Und wenn Tim Krohn, der Gastgeber und Schriftsteller, Vater und Gärtner, Hausmann und Geschichtensammler zu erzählen beginnt, öffnen sich überall Fenster, Türen und Räume, weht mit einem Mal ein Wind aus den Tiefen der Zeit. Geschichten sind dann viel mehr als blosse Unterhaltung, profanes Futter zum Zeitvertreib, sondern Elixier, Lebensatem, Fundament und Baustoff in die Zukunft.
 
Micha Friemel, die uns an einem Sonntag Morgen aus ihrem noch unveröffentlichtem Romanmanuskript, dann aus einem erhellenden Essay aus dem Sammelband «Geographie der Freiheit», in dem sich Micha Friemel neben anderen AutorInnen Gedanken zu John Bergers Essay «Fellow Prisoners» machte und kleinere Texte vorlas, bringt mit einem Satz auf den Punkt, worum es bei der Literatur, beim Schreiben gehen muss und soll:
«Es gibt zwei Dinge, die uns davon abhalten, Hamsterräder zu drehen: Freunde und Bücher.»

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