Ich habe mir zuhause einen Vorrat an Zsuzsanna Gahse Büchern angelegt. Warum? Weil ich ihre Bücher, erschienen in der Edition Korrespondenzen, über alles liebe. Ihre Prosaminiaturen, die für mich reine Poesie sind, nennt sie Störe;„Störe bewegen sich zwischen langen Erzählweisen und Gedichten, zwischen Essays und Novellen, szenischen Texten und Performance-Vorlagen“.
Gastbeitrag von Thomas Kunst Schriftsteller, Dichter,Kleist-Preiträger
„Zeilenweise Frauenfeld“ ist ein Bühnengewässer, in welchem die Dinge durcheinandergeraten können, wenn man das entlarvende Lesen gegen ein nachdenkliches Lesen eintauscht. Die Frauen an den Treppen. Die Frauen auf den Demos. Die kleine Kellnerin. Die Tochter der Wienerin. Damen und Frauen. Manu. Die Welsche. Nandu. Nora. Die Unbrennbare. Eine schwarz gekleidete Frau. Die Frau in Indigo. Frauen von vor etwa hundertfünfzig Jahren. Frauen beim Stolpern, Stürzen und Sterben. In einer Frauenfelder Inszenierung. Popkonzerte. Illusionen. Bahnhofsvorplätze. Festivals.
Das Bühnenwasser der Murg. Die Brücken und Stege von Frauenfeld. „Viele setzen sich bei der diesjährigen Trockenheit einfach ins Gras, aber wir haben uns vor Kurzem kleine, leichte Klappstühle besorgt, mit denen wir sogar durch die Stadt ziehen und beliebig Pausen einlegen, die zu unserer Langsamkeit passen.“ Die Chance, dass Texte zu großer Literatur werden, ist ihre Nicht-Nacherzählbarkeit. Zsuzsanna Gahse schafft es, uns auf ihre Prosafelder zu entführen, ohne uns daran zu erinnern, dass das Denken auch eine konzentrierte Fortbewegungsart des Sehens sein kann.
Ich musste beim Lesen von Zsuzsannas Buch an ein Gedicht von einem meiner amerikanischen Lieblingsdichter denken, das ich Mitte der neunziger Jahre zufällig beim Durchblättern einiger Ausgaben der Grazer Literaturzeitschrift „Manuskripte“ gefunden hatte: „Kriminalroman“ von Robert Kelly, ein Titel, der in seiner deutlichen Bezeichnung hoffentlich nur liebevolle Genreirritationen ausgelöst hat. Dieses Gedicht hatte von Anfang an kein Entkommen für mich parat, zog mich, von seinem Tempo, von seiner Gelassenheit her, sofort in seinen ambivalenten Kreis, beeindruckte mich vor allem durch die verhaltene Ökonomie im Gebrauch seiner Mittel, ein Gedicht, das klar und stringent war, elliptisch und karg, fast nur aus Hauptwörtern bestehend, wie es vielleicht seinerzeit Gottfried Benn in seiner Rede „ Probleme der Lyrik“ vorgeschwebt sein mag, ein Gedicht, geräumig entschlackt von verbalem Geraune und adjektivistischer Ausgelassenheit, einer der unverbindlichen Arten überzeichneter Wahrnehmungsplusterung.
„…Bei der Klinke. In der Schublade. Mit einem Taschentuch in der Hand. In der Hand. Im Zimmer die Hand. Im Zimmer. Auf dem Vorleger neben dem Bett. Neben dem Bett. Im Bett. Chenille. Auf dem Bett. Im Bett. Im Zimmer im Bett. In dem Zimmer In dem Bett…“
Genauso fühle ich mich beim Lesen der grandiosen Bücher von Zsuzsanna Gahse, das Glücksgefühl der Anstrengung bei der Lektüre auf sich zu nehmen, nicht nachzulassen in einer Art von musikalischer Konzentriertheit, den Einzelsätzen zu vertrauen, den sprachlichen Herzstücken der Gedanken niemals die Kondition bei der Durchblutung der poetisch-intuitiven Verästelungen zu versagen, wie es der kubanische Dichter José Lezama Lima einmal formuliert hat. „Nur die Anstrengung kann uns anregen, nur der Widerstand, der uns herausfordert, kann unser Erkenntnisvermögen geschmeidig krümmen, es wecken und in Gang halten.“
Verzeih mir, liebe Zsuzsanna, dass ich versucht habe, mich mit fremden Federn deinem neuen Buch zu nähern. Es ist deine Freiheit. Es ist meine Demut und auch ein Scheitern in Liebe.
Die Chance von Texten, große Literatur zu sein, ist ihre Nicht-Nacherzählbarkeit.
Es gibt Störe in der Murg. Wenn man sich Klappstühle ans Wasser stellt, kann man sie zählen, bestaunen und bei austauschbaren Temperaturen auswendig lernen, denn Die alten Jahreszeiten gehören zum Weltkulturerbe. Für diese Sätze liebe ich dich und deine Bücher.
„Ein Buch soll eine innige Mischung meiner wahren und falschen Erinnerungen sein, meiner Ideen, Hypothesen und imaginären Erfahrungen – all meiner verschiedenen Stimmen, ein Buch, das sich als Ausdruckswille dessen zu erkennen gibt, der da spricht, mit der freiesten Phantasie und mit äußerster Genauigkeit, in Prosa und Vers, beim Erwachen des Denkens zu sich selbst.“ (Paul Valery, Faust III)
Zsuzsanna Gahse, geb. 1946 in Budapest, aufgewachsen in Wien und Kassel, lebte längere Zeit als Schriftstellerin in Stuttgart und Luzern, zurzeit wohnt sie in Müllheim, Schweiz. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. aspekte-Literaturpreis (1983), Adelbert-von-Chamisso-Preis (2006), Italo-Svevo-Preis (2017), Werner-Bergengruen-Preis (2017), Schweizer Grand Prix Literatur (2019).
Trafen sich ein Mann. Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihm Düren. Trafen sich in dieser hochbegabten Steppe aus kurz Geschorener Musik. Wie das klingt. Frag Ihmdoch. Ihm seine Augen, ich beginne immer mit den Augen, wirkten, aber waren braun und Zerstritten. Als hätte Ihm In einer verschärften Situation Die Brille zu lange auf – Behalten. (Siehst du.) Die enge Allee Durch den stahlblonden Heimat ist eine Verschorfte Situation. Da passen zwei März Ärzte Ohne Schwestern nebeneinander. Warum ausgerechnet Zwei. Das kann ich dir sofort sagen, weil du nur so, schon von Weitem mit Mitte rechnest. Heimat kannst du schon auswendig Lernen, sobald sie nur über Wörter verfügt, die Freiwillig bei dir bleiben. Draußen, aber nicht unbedingt, zerriss der Schnee. Ich wusste, dass du nur Gas lachst, die blasse Allee in einer Angenehmenen Stadt, von der links und Rechts Flammen ab – Gehen. Pass doch auf, wo du hin Trittst, Kleiner, das Schöne Feuer. Zuerst ist es ganz sacht und spielt mit dir Mutter, Vater, Mitte. Dann ist es ganz Mitte und spielt mit dir Mutter, Vater, Feuer. Ist die Asche schon fertig. Wie lange braucht Ihr denn noch. Einsblondundachtzig. Das müsste doch in Einem Land zu machen sein, auch wenn es Hier nicht ganz für die sieben Winden reicht, aber vier, Dürre, flache würden sich schon auf – Treiben lassen. Einer davon hat Strandgut geatmet, ein wenig Schaum, ein wenig Flaschen – Rost. Dieser wäre Ihm sicher der liebste. Ich habe das Land nicht im Reim erstickt. Dabei ersticke ich Es gar nicht so gern. Ihm hat es so gewollt. Trafen sich ein Mann. Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihm Düren. Trafen sich in dieser kurzbegabten Steppe aus hoch – Geschorener Musik.
II
Ihrisches Crescendo
Trafen sich eine Frau. Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihr Belwas. Trafen sich in dieser hochgesteppten Musik aus kurz – Geschorener Begabung. Ich habe das Land nicht Im Reim erstickt. Dabei ersticke ich es gar nicht so Gern. Ihm hat es so gewollt. Ihr hat es so Gewollt. Schaum, Elektrischer Süden rückt von den Rändern nach Innen, Lehn – Sucht bleibt unser Ledergewächs, das Lager Hinauf, frisch Gerissene Ängste ändern die Sätze Auf, was ist Schon eher zu Ende (sag an) als kaum zu Beginnen, Belwas. Ihr hatte ihr glänzendes Haar, ich beginne immer mit dem Haar, aus frischen Kastanien gezogen. Weiß lag noch Mehl Auf dem Nabel. Ihrs Monat war der Oktober, geflochten aus Segel – Bekleideten Stürmen und den Überresten der Stranddorn – Kolonnen. Ihrs Heirat war folgerichtig mit dem Tag zusammen – Gefallen, da sie sich entschlossen hatte, allein zu Lieben. Doch nun trug sie einmal den Ring. Und das War schon immer so. Ihr hatte darauf bestanden, Ihren Mann nicht weiter zu erwähnen. Ich hatte Ihrs Schmerzen längst begriffen und willigte ein, natürlich Auch, um ihr, als Figur weiter folgen zu dürfen, ihr, der von Vornherein nichts anderes übrigblieb, sie bis ins Feinste auszukosten, die Technik des Scheiterns, Belwas, wenn du das durch – Hältst, finde ich dich zum Kosten. Schmerz gegen Schmerz ergibt irgendwann weit hinten an der Küste Einen neutralen Aufprall. In Ihrs Fall war es anders, sie Konnte nicht schwimmen, und das machte sich Ihr zunutze. Nach drei Tagen wurde Ihr, an den Strand geworfen, gefunden. Weiß platzte Der Schaum auf dem Nabel. Trafen sich eine Frau. Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihr Belwas. Trafen sich in dieser hoch – Begabten Steppe aus kurz – Geschorener Musik. Frag Ihm doch. Frag Ihr doch.
III
Verwaschene Grafschaft
Traf sich eine Mann und ein Frau. Traf sich und hatte nur den Namen bei. Ihm Düren. Ihr Belwas. Der golfene Strom hatte seine flache Wärme ins Land Gespült und das Januarmittel aufgeheizt auf sieben Komma sieben Grad, so dass Sich selbst hier, in dieser Abgeraschelten, bröckeligen Gegend Palme Und Rhododendron als zarte Requisiten entfalten konnten, was sich als Äußerst günstig erwies, denn dieser subtropische Hauch hatte die Beiden Toten ein wenig grün betastet. Verwesung ist doch auch nichts Anderes als nachlassende Kondition. Ihm hatte ein aschfahles Gesicht. Ich Beginne immer mit Asche. Ihrs Körper hatte die ausgeschlafene Form fleisch – Farbenen Wassers. Ich beginne immer mit Wasser. Nur, dass sie nicht weinte, schien Ihren Körper noch zusammenzuhalten. Es ist natürlich einfach, zwei Verendete Körper leger in dieselbe Landschaft zu streuen. Ich hatte ziemlich Genau darauf geachtet, dass es sich dabei um eine Region Handelte, so wie die Grafschaft Galway, die ziemlich dünn besiedelt War, so dass ich einigermaßen sicher sein konnte, nicht in die Lage zu Geraten, ländliche Bauern und deren Hütten skizzieren zu müssen, sobald Es Ihm und Ihr darauf anlegten, auf etwas Lebendiges zuzuhalten. Obwohl Eine schon vor Jahren verlassene Lehmmauer doch auch etwas Hat. Dass sich Ihm und Ihr vorher noch nie gesehen hatten, blieb erstmal Ihre einzige Verwandtschaft. Doch was willst du mit zwei Menschen Anfangen, die frieren, Hunger haben, doch keine Hütte aus ungefähr gleich – Langem Holz. Hier ist ein Hochlandrind zum Umwickeln. Hier Sind die Beeren. Hier sind neun besonders eng stehende Bäume. Bevor ich die Beiden jedoch sich näherkommen Ließ in der geölten Mechanik der Küste, nahm ich von Schafen, nahm von den Schultern und Säften, das, was sich eignet zur Scham. Jetzt bist du dran, Düren. Darf ich Sie zu einem Fell Einladen. Darf ich Sie zu den Beeren einladen. Darf ich Sie zu den Neun besonders eng stehenden Bäumen einladen. Am Ende solcher Sätze, die auch immer in einen Dschungel von nicht – Gesagten Sätzen münden, die jedoch nie den gemeinsamen Kern preisgeben, am Ende solcher Sätze entzündete sich immer Beinahe das schmale Fest des Fleisches. Ein wenig zuckten Die Lenden auf, in ihrer deutlichen, ledernen Sprache. Jetzt bist du dran, Belwas. Ihr sagte zwar Nichts. Ihr berührte zart mit dem Ellenbogen Ihms Kinn.
IV
Tage ja Monatelahm
trug ständig das Meer die gleichen Klänge nach innen, vor Die Hütte aus ungefähr gleichlangem Holz. Die neun besonders eng stehenden Bäume hatten Ihm und Ihr mit Schlamm und Steinwerk höhergezogen, so dass keine Behaarten Sterne mehr dazwischenfahren konnten, nur die Geräusche Gestrandeter Seevögel hatten noch gute Aussichten eingelassen zu Werden. Düren hatte mit Feuer, das Feuer habe ich ihnen zukommen Lassen, falls es Fragen gibt, Düren hatte mit Feuer einen majestätischen Stamm Gehöhlt, den er in den frühen Stunden der kaum behinderten Sonne zum Fischen benutzte, bis das Netz, das Netz habe ich ihnen zukommen lassen, falls Es Fragen gibt, bis das Netz gefüllt war mit beweglichem Bronzebesteck. Belwas Hatte in Ihms Abwesenheit ihr glänzendes Haar zu weichen, fließenden Kastanien Geflochten, die langsam und feucht auf die Lenden zu – Strömten. Den ganzen Tag nur die braune See, der Regen roh und in Würfel Geschnitten. So hielt die Insel ihren genauen Unterricht ab. Düren, nach vorn, an die Tafel, an welche denn Sonst. Hat ein Wort wie Heimat, wenn es dich ständig in einer beengenden Situation betrifft, nicht auch außerhalb solcher Zustände seine Neutrale Geschlossenheit. Sind nicht die Worte selbst zu Einem Täuschungsobjekt einer nicht eingestandenen, einer Verhinderten Liebe geworden, runtergehandelt zu dem Preis, für etwas Anderes nur Schmiere zu stehen. Erst wenn die Scham zerrissen, Zuckend vor unseren Füßen liegt, krümmt sich die Sprache Zurück in ihren tierisch zarten Zustand, gehört so noch Enger an die Zähne. Die wesende Geburt des Herbstes, beige faulten Die Bäume ineinander über, hatte es längst bewiesen, selbst die Liebe war Nur eine Schlichtungsform der Neugier. Jetzt, nach überstandenen Monaten Der Ähnlichkeit, hielt ich es für angebracht, ihm und ihr eine gleich – Mäßige und bedächtige Zerstörung der Insel durch das Wasser vorzu – Schlagen. Ihms und Ihrs Reaktionen darauf waren diesem Traurigen Programm angemessen. Belwas löste ihre erstaunlichen Kastanien Zu einem allmählichen Wasser. Golf, Rhododendron und eine Schon vor Jahren verlassene Lehmmauer hatten sich in feinen Fasern verbunden. Auch wenn es hier nicht ganz Für die sieben Winde reicht. Aber vier dürre, flache Würden sich schon auftreiben lassen. Und es kam wie ein trockenes, hoch – Triftiges Gas, das in den feinen Fasern ein zittriges Sirren Erzeugte und beim Berühren das Wasser Verähnelte in eine starre, elektrische Weide. Tage ja monatelahm trug ständig das Meer die gleichen Klänge nach Hütte, vor die Holz aus ungefähr gleich – Langem Innen. Jetzt bist du dran, Ihm. Darf ich Sie zu den nass Gewordenen Beeren einladen. Darf ich sich zu den neun besonders eng Unter Wasser stehenden Bäumen einladen. Darf ich dich in das Fell Tun. Ein wenig zuckten die Lenden auf, in ihrer Deutlichen, ledernen Sprache. Sehgestöber, Sanddornperlen von der Schnur Gelassen, Schlamm und Steinwerk in weicher Veränderung, Geräusche aufgespülter Seevögel, nur, dass Sie nicht weinte, schien Ihrs Körper noch zusammenzu – Halten. Es gelang ihr nicht mehr, ihm zu zeigen, wie sehr Sich über ihnen die See schloss. Das gefiel ihm an Ihr. Und ihr machte es Spaß, Ihm nicht zeigen zu Müssen, wie sehr sich über ihnen die See schloss. (Dürwas)
(Veröffentlicht in «Die Verteilung des Lächelns bei Gegenwehr» (Gedichte und Texte 1986-1988, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig))
Thomas Kunst wurde am 09.06.1965 in Stralsund geboren. Nach dem Abitur studierte Thomas Kunst zunächst 3 Monate Pädagogik in Leipzig und ist seit 1987 als Bibliotheksassistent der Deutschen Nationalbibliothek tätig. Er schreibt Gedichte und Romane. Kunst debütierte 1991 bei Reclam Leipzig mit dem Buch »Besorg noch für das Segel die Chaussee. Gedichte und eine Erzählung«. Bislang sind 20 Einzeltiteln veröffentlicht worden. 2021 war er mit seinem Roman «Zandschofer Klinken» auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. 2023 überreichte man ihm den Kleist-Preis. 2024 wir bei Suhrkamp sein neuer Gedichtband «Wü» erscheinen.
„Um aus Zandschow herauszukommen, bleibt er in Zandschow“, steht im Roman „Zandschower Klinken“ von Thomas Kunst, einem Roman, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises für Furore sorgte und selbst auf dieser Liste von gewissen KritikerInnen nicht ernst genommen werden wollte.
Man kann diesen Satz vielfältig verstehen. Vielleicht auch in den verschiedensten Lesarten eines Buches, in den vielfältigen Möglichkeiten mit Sprache Leben zu gestalten. Wer nur das eine sieht, wem von vorneweg klar ist, wie Literatur sein muss, wer sich in fixen Kategorien bewegt, wer eine Geschichte erzählt haben will mit klarem Schnittmuster und einem kunstvollen Plott, der ist mit Thomas Kunsts Prosa schlecht bedient. Da schreibt einer fernab von allen Paradigmen, denen sich der Literaturbetrieb im Gravitationsfeld der verschiedensten Interessen angepasst hat.
Thomas Kunst macht in einem Interview sehr deutlich, was er mit seinem Schreiben will und nicht will: „Mich interessiert keine Linarität, keine Nacherzählbarkeit. Mein Erzählen ist ein chaotischer Klumpen aus Einzeleinfällen, die ich irgendwie zusammenfüge.“ Was aus diesem angekündigten Chaos entsteht, ist aber alles andere als ein wirrer Haufen Sätze. Thomas Kunst lässt sich treiben, sowohl im Geschehen, wie in seiner Sprache. Sein Roman mäandert zwischen den verschiedensten Erzählweisen; manchmal wie ein Bericht, ein Brief, ein Gebet, ein Gedicht, eine Stimmung. Er mäandert auch in seinen Perspektiven, mal ganz nahe, mal von weit weg. Thomas Kunst liebt seine Figuren, die Gegend, die Sonderlinge, die Gestrandeten, die Erfolglosen, Gescheiterten, Aufrechtgebiebenen. Thomas Kunst erklärt nicht die Welt, schon gar nicht das idealisierte, verklärte Landleben, das in Magazinen bis zur Unkenntlichkeit entfremdet wird.
„Zu Beginn eines jeden Buches ist Wut und Zorn“, erklärt Thomas Kunst an der Lesung im Literaturhaus Thurgau. Eine Energie, eine Kraft, die der Autor in ausufernde Kreativität verwandeln kann. Das verlangt von mir als Leser einiges ab. „Ich habe grosse Lust, LeserInnen zur Weissglut zu bringen“, sagt Thomas Kunst in einem Interview. Seine Sprachkunst flötet nicht mit leisen Tönen, will mich nicht verzücken, schmeichelt mir nicht, schon gar nicht meinen eintrainierten Lesegewohnheiten, obwohl Thomas Kunsts Roman durchaus moralische Kraft hat, wenn er sich selbst ganz dezidiert als „politischer Autor“ bezeichnet. In “Zandschower Klinken“ steckt viel Kritik, viel Gesellschaftskritik, auch viel DDR, ohne dass der Roman ein Wenderoman oder ein DDR-Roman wäre. „Zandschower Klinken“ ist vielleicht eine Art Gegenentwurf zu all den „Dorfromanen“, die in der aktuellen Literaturszene Hochkonjunktur haben.
„Zandschower Klinken“ strotzt vor Potenz. Wer sich auf Kunst einlässt, wird belohnt, auch wenn einem der Autor nicht brav an der Hand nimmt.
Thomas Kunst ist ein Meister der skurrilen Poesie. Dass es sein neuster Roman „Zandschower Klinken“ in die Shortlist des Deutschen Buchpreises schaffte, ehrt das Buch, den Schriftsteller, aber auch die Jury des Buchpreises, die ein Buch ins Scheinwerferlicht stellen wollte, das in vielem gängigen Mustern widerspricht. „Zandschower Klinken“ ist ganz und gar Kunst-Werk!
Das Wort „Klinke“ müsste man vielen in der Schweiz erklären. Das helvetische Pendant „Türfalle“ würde wohl nicht klingen wie Klinke, ergäbe aber in der Geschichte durchaus Sinn. Zandschow gibt es nicht, genauso wie seinen Nachbarort Höverlake. Aber Zandschov muss irgendwo in der flachen Pampas Norddeutschlands liegen. Ein Kaff, ein paar Häuser und ein Feuerwehrteich mit einer Schenke am Ufer und einer kleinen Insel mitten im kleinen Wasser.
„Im glücklichsten Fall hast du Eltern und Geschwister, die du liebst. Im unglücklichsten Fall hast du Eltern und Geschwister, kurz vor deinem Tod, die dir egal sind.“
Bengt Claasen ist mit seinem Auto aus seinem alten Leben weggefahren, mit der Absicht, nicht zurückzukehren und dort zu bleiben, wo das Hundehalsband, das er auf das Armaturenbrett unter der Frontscheibe gelegt hat, runterrutscht. Folglich fährt Claasen langsam, langsam und sehr lange. Ungeachtet dessen, dass sich andere Autos hinter dem seinigen stauen und hupen. Bis das Hundehalsband wirklich rutscht und er seinen Wagen an den Strassenrand stellt, nicht weit von Zandschow, dem kleinen Ort im Nirgendwo. Kulturelles und gesellschaftliches Zentrum dort ist die Schenke am Feuerlöschteich; „Getränke-Wolf“. Dort gibt es alles, was es zum Existieren braucht. Und wenn nicht, dann hilft Getränke Wolf auch mal bei den Etiketten nach, um die Bedürfnisse seiner Gäste zu stillen. Zandschow folgt einem strikten Wochenplan. Am Montag übt man im ausrangierten Bauwagen das U-Bahn-Fahren, dienstags die Handhabung eines wiederbelebten Geldautomaten zwischen den Bäumen am Feuerlöschteich. Mittwochs dann die Europakonferenz mit Diskussionen über soziale Gerechtigkeit, Altersdemut und Selbstverteidigung. Am Donnerstag werden Plastikschwäne ausgesetzt, an den Freitagen soll jeder im Ort demonstrieren, wie der Weltuntergang manipulativ aufzuhalten sei und die Wochenenden sind zur Naherholung an der Küste. Der Teich ist Zandschows Indischer Ozean und Getränke Wolfs Sansibar. Im hintern Teil des Ladens steht eine Sonnenbank mit Lichtanimationen im Innenraum. Auch Wolf ist einer, der hätte gehen können, aber geblieben ist. Und wenn man nicht in die Welt draussen zieht, dann holt man die Welt zu sich, Sansibar an den Feuerlöschteich, feiert jedes Jahr das Darajani-Fest mit Hängematten und Freibier.
„Wolf besass alles, um aus Zandschow herauszukommen. Um aus Zandschow herauszukommen, blieb er in Zandschow.“
Claasen ist nicht der einzig Gestrandete in Zandschow. Da gibt es auch noch den Kleinen Grabosch, der vor Jahren mit einem Handwagen, allerlei Zeugs und einem übergrossen Kronleuchter in Zandschow ankam. Grabosch auf der Suche nach einem Ort, einer Decke, einem Raum für seine Leuchte.
Zandschow ist ernstzunehmen. Zandschow ist der Gegenentwurf zur Rationalität. Claasen hat sein Leben zurückgelassen. Zum Wenigen, das er mitnahm, gehört das Hundehalsband ohne Hund und seine Erinnerungen. Erinnerungen an seine Familie, einen fehlenden Vater, eine strenge Mutter und sein Reh, seine Schwester.
Es geht nicht darum, die Geschichte zu verstehen. So wenig, wie es dem Autor darum geht, eine Geschichte zu erzählen. „Zandschower Klinken“ ist eine literarische Symphonie mit Themen, die immer wieder auftauchen, Wiederholungen, Verdopplungen. Man spürt die Musikalität des Textes. Zugegeben, die Komposition ist eigenwillig und, zumindest für mich, nicht immer nachvollziehbar. Aber eben genauso wie das Leben selbst, dass nie einem Plan folgt, das eigenwillig bleibt, voller Wiederholungen und Zusammenhängen, die sich nie erschliessen. Thomas Kunst Roman hat etwas Fellinisches, einen ganz eigenen Zauber.
Thomas Kunst, geb. 1965, studierte zunächst Pädagogik. Er schreibt Lyrik und Prosa und befasst sich mit musikalischer Improvisation (Gitarre und Violine). Kunst debütierte 1991 bei Reclam Leipzig mit dem Buch «Besorg noch für das Segel die Chaussee. Gedichte und eine Erzählung». Seitdem sind seine Texte in 16 Einzeltiteln sowie in Anthologien, Literaturzeitschriften und im Internet veröffentlicht worden. Thomas Kunst ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland, lebt und arbeitet in Cuba.
Mit grosser Vorfreude präsentiere ich das neue Programm von Januar bis Mai 2022 im Literaturhaus Thurgau. Klar bleibt ein Vorbehalt, die leise Angst, dass uns wie im ersten Quartal 2021 ein Strich durch die Rechnung gemacht werden könnte. Aber wäre die Zuversicht nicht da, dann würden sich all die ProgrammmacherInnen nicht die Mühe machen, der Kultur einen Bühne zu bieten.
Das neue Programm bietet viel: Prosa und Lyrik, Musik und Installation, Ausstellung und Diskurs! Bleiben Sie uns auch in schwierigen Zeiten treu, treu dem schmucken Haus am Seerhein aber auch all den Kunstschaffenden, denen Orte wie das Literaturhaus Thurgau Lebensader ist!
Sie stehen an einem Morgen auf, schauen zum Himmel und haben das Gefühl, dass das Blau über ihnen blauer als sonst ist? Kennen sie das? Sie sitzen in einer romanischen Kirche und die Stille umfängt sie wie sonst nirgends mehr? Schon erlebt? Lesen sie die neuen Gedichte von Albert Ostermaier aus dem Band „Über die Lippen“ und aus Sprache wird eine grosse Gebärde der Liebe.
Selten passiert, was bei der Lektüre dieses Buches passierte. Ich zog den Band aus dem Regal mit jenen Büchern, die auf mich warten, an einem Morgen, ganz früh. Ich dachte mir, es müsse ein Morgen sein, meine Wahrnehmung ganz unverbraucht, mein Geist wach, alles in mir auf Empfang.
Ich setzte mich in den Sessel vor dem grossen Fenster mit Blick in den Garten. Und während es draussen langsam dämmerte, dämmerte mir, was für ein aussergewöhnliches Buch ich in Händen hielt.
schreiben
es ist da wo du nicht bist du
bist ein gedicht ich schriebe
dich fort du bist nicht
das papier wert auf dem es
gedruckt steht sondern mehr
das überschriebene du liebst
aber ich schreibe du liebst
und unterschreibe mein urteil
ich bin hier in meiner sprache
und du aus ihr und nicht mehr
hier aus fleisch und blut und
machst einen satz den ich nicht
einholen kann auf den zeilen
selbst wenn ich springe
„Über die Lippen“ sind fast hundert Gedichte, im Buch nach dem ersten Buchstaben der Titel geordnet. Ein Alphabet der Liebe. Ein Rundumschwenk durch alle Facetten dieser einen, grossen, vielleicht grössten Kraft. Allein die 80 Titel lesen sich wie eine Gedicht: … verbergen, vereinigung, verhalten, vermisst, verrückt, verstehen, wahrheit, warum, weinen…
Albert Ostermeier spricht zu mir, ganz unmittelbar, zieht mich hinein, lässt mich nicht los.
An diesem Morgen wuchs mir ein Buch regelrecht ans Herz, wurde zur Reliquie einer Begegnung der besonderen Art. Ich werde das Buch lange nicht weglegen können. Und selbst, wenn es einmal liegen gelassen wird, werde ich den Klang, all jene Gefühle, die es an diesem Morgen extrahierte, weitertragen.
entwertung
ich liebe nur die liebe du
bist nichts wert ausser ihr
ich werfe mich in deine
arme my love aber werfen dich
weg ich habe dich über
alles in der Welt und keine
mit dir als meine du ziehst
mich aus ich zieh dich an
du bist reizlos das reizt mich
alles von dir zu verlangen
bis nichts mehr bleibt als
mein verlangen und du
übrig bleibt dir nur mir den
letzten stich zu versetzen
mich mit mir selbst zu
verletzen mir die lippen
mit deinen zu netzen mir
den punkt den stein im herz
zu wetzen bis er wieder funkt
Liebesgedichte, die nichts verklären, die alles sagen, selbst im grössten Schmerz, unsäglicher Erkenntnis, grösstmöglicher Nähe und klaffender Entfernung. Albert Ostermaiers Gedichte sind Beschwörungen, Texttänze um ein Gegenüber, einmal nah und einmal schmerzend fern. Seine Gedichte tragen Hysterie und Trance, Verzauberung und Entzauberung, Wut und Enttäuschung, nicht zuletzt über sich selbst. Gedichte, weit weg von jeder Sentimentalität. Geschrieben in einer Sprache, die unmittelbar anschlägt, mitten hineingreift, genau den Punkt trifft.
Albert Ostermaier umarmt mich mit Sprache, setzt mich in seinen lyrischen Szenen direkt ins Leben, ins Lieben hinein. Er schweift nicht aus, mäandert nicht. Er flüstert, fragt, schreit und hadert. Und Albert Ostermaier liest in der Schweiz!
Am Wochenende vom 7. und 8. März treffen sich im Aargauer Literaturhaus Lenzburg grosse Namen wie Esther Kinsky oder Albert Ostermaier mit NewcomerInnen wie der Bündnern Flurina Badel und der eben mit dem Basler Lyrikpreis ausgezeichneten Eva Maria Leuenberger. Das Herz des Festivals sind traditionsgemäss Werkstattgespräche von jeweils drei Lyrikerinnen. AutorInnen stellen dabei dem Publikum nicht nur Texte aus ihrem Werk vor, sondern befragen sich gegenseitig über ihre Texte und beleuchten an ausgewählten Beispielen die kreativen Entstehungsprozesse.