4. Lyrikfestival Neonfische 7./8. März in Lenzburg

Sie stehen an einem Morgen auf, schauen zum Himmel und haben das Gefühl, dass das Blau über ihnen blauer als sonst ist? Kennen sie das? Sie sitzen in einer romanischen Kirche und die Stille umfängt sie wie sonst nirgends mehr? Schon erlebt? Lesen sie die neuen Gedichte von Albert Ostermaier aus dem Band „Über die Lippen“ und aus Sprache wird eine grosse Gebärde der Liebe.

Selten passiert, was bei der Lektüre dieses Buches passierte. Ich zog den Band aus dem Regal mit jenen Büchern, die auf mich warten, an einem Morgen, ganz früh. Ich dachte mir, es müsse ein Morgen sein, meine Wahrnehmung ganz unverbraucht, mein Geist wach, alles in mir auf Empfang.

Ich setzte mich in den Sessel vor dem grossen Fenster mit Blick in den Garten. Und während es draussen langsam dämmerte, dämmerte mir, was für ein aussergewöhnliches Buch ich in Händen hielt.

schreiben
es ist da wo du nicht bist du
bist ein gedicht ich schriebe
dich fort du bist nicht
das papier wert auf dem es
gedruckt steht sondern mehr
das überschriebene du liebst
aber ich schreibe du liebst
und unterschreibe mein urteil
ich bin hier in meiner sprache
und du aus ihr und nicht mehr
hier aus fleisch und blut und
machst einen satz den ich nicht
einholen kann auf den zeilen
selbst wenn ich springe

„Über die Lippen“ sind fast hundert Gedichte, im Buch nach dem ersten Buchstaben der Titel geordnet. Ein Alphabet der Liebe. Ein Rundumschwenk durch alle Facetten dieser einen, grossen, vielleicht grössten Kraft. Allein die 80 Titel lesen sich wie eine Gedicht: … verbergen, vereinigung, verhalten, vermisst, verrückt, verstehen, wahrheit, warum, weinen…

Albert Ostermeier spricht zu mir, ganz unmittelbar, zieht mich hinein, lässt mich nicht los.
An diesem Morgen wuchs mir ein Buch regelrecht ans Herz, wurde zur Reliquie einer Begegnung der besonderen Art. Ich werde das Buch lange nicht weglegen können. Und selbst, wenn es einmal liegen gelassen wird, werde ich den Klang, all jene Gefühle, die es an diesem Morgen extrahierte, weitertragen.

entwertung
ich liebe nur die liebe du
bist nichts wert ausser ihr
ich werfe mich in deine
arme my love aber werfen dich
weg ich habe dich über
alles in der Welt und keine
mit dir als meine du ziehst
mich aus ich zieh dich an
du bist reizlos das reizt mich
alles von dir zu verlangen
bis nichts mehr bleibt als
mein verlangen und du
übrig bleibt dir nur mir den
letzten stich zu versetzen
mich mit mir selbst zu
verletzen mir die lippen
mit deinen zu netzen mir
den punkt den stein im herz
zu wetzen bis er wieder funkt

Liebesgedichte, die nichts verklären, die alles sagen, selbst im grössten Schmerz, unsäglicher Erkenntnis, grösstmöglicher Nähe und klaffender Entfernung. Albert Ostermaiers Gedichte sind Beschwörungen, Texttänze um ein Gegenüber, einmal nah und einmal schmerzend fern. Seine Gedichte tragen Hysterie und Trance, Verzauberung und Entzauberung, Wut und Enttäuschung, nicht zuletzt über sich selbst. Gedichte, weit weg von jeder Sentimentalität. Geschrieben in einer Sprache, die unmittelbar anschlägt, mitten hineingreift, genau den Punkt trifft.

Albert Ostermaier umarmt mich mit Sprache, setzt mich in seinen lyrischen Szenen direkt ins Leben, ins Lieben hinein. Er schweift nicht aus, mäandert nicht. Er flüstert, fragt, schreit und hadert. Und Albert Ostermaier liest in der Schweiz!

Am Wochenende vom 7. und 8. März treffen sich im Aargauer Literaturhaus Lenzburg grosse Namen wie Esther Kinsky oder Albert Ostermaier mit NewcomerInnen wie der Bündnern Flurina Badel und der eben mit dem Basler Lyrikpreis ausgezeichneten Eva Maria Leuenberger. Das Herz des Festivals sind traditionsgemäss Werkstattgespräche von jeweils drei Lyrikerinnen. AutorInnen stellen dabei dem Publikum nicht nur Texte aus ihrem Werk vor, sondern befragen sich gegenseitig über ihre Texte und beleuchten an ausgewählten Beispielen die kreativen Entstehungsprozesse.

PDF Programmheft Neonfische

Webseite Aargauer Literaturhaus Lenzburg

Davide Enia «Schiffbruch vor Lampedusa», Wallstein

In den letzten Jahren sind Tausende von Flüchtlingen im Mittelmeer ertrunken und ein Vielfaches davon Traumatisierte. Das sind Zahlen, Statistiken, die niemals widerspiegeln, was in jeder einzelnen dieser menschlichen Katastrophen durchlebt werden muss. Davide Enia ist mit «Schiffbruch vor Lampedusa» so nahe an die Schicksale herangegangen, wie es Respekt zulässt. Ein Buch, das Fakten und Zahlen pulverisiert und die durchlittenen Schicksale vieler ganz nah an ein inneres Auge lässt.

Wir kennen Fotos und Reportagen. Manche sind tief eingebrannt, unauslöschlich bis in die Träume hineingemischt. Und doch ist es das Wort und nur es, das es schafft, mehr als nur einen Eindruck zu stempeln. Wenn Menschen erzählen. Von ihrem Zuhause, das sie zurücklassen, ihren Familien und Freunden, einer Heimat, die sich hinter ihnen verschliesst. Von der langen Reise, den Schleppern, der Angst, den Misshandlungen, der rohen Gewalt. Von den langen, wortlosen Märschen durch die Wüste, vorbei an jenen, die für immer liegenbleiben. Vom langen Warten in Lagern, der Willkür jener, die die Macht besitzen, von Vergewaltigungen und Folter. Von den endlosen Fahrten in einem überfüllten Schlauchboot, dem langsamen Sterben, dem Hoffen auf Rettung. Vom Ertrinken, vom Verdursten, vom Wahnsinn und dem Auftauchen eines Schiffes. Von den Männern und Frauen, die ihnen bei diesem einen Schritt ins Boot, auf den Steg, auf die Mole helfen und der Odyssee die mit der Rettung erst beginnt. Von den Flüchtenden und den Rettern, den Kapitänen und Rettungstauchern, Traumatisierten wie nach einem Krieg, Mensch gegen Mensch.

© Francesco Enia

«Auf See gibt es kein Abwägen von Alternativen, jedes Leben ist heilig. Und wer Hilfe braucht, dem wird geholfen.»

Die nicht einmal zehn Kilometer lange Insel Lampedusa, mitten im Mittelmeer zwischen Tunesien und Sizilien, einst eine freundliche Touristeninsel mit nicht einmal 5000 Einheimischen, ist seit dem Arabischen Frühling die erste vorgelagerte rettende Insel auf einer unsäglich langen, für uns Europäer kaum nachvollziehbaren Flucht. Zehntausende schaffen es auf lausigen Booten über das Meer, ohne Essen, ohne Trinkwasser, meist auch mit viel zu wenig Treibstoff, hoffen auf Rettung, auf einen Funken Zukunft. Tausende schaffen es nicht, fast ausnahmslos junge Menschen, denn nur ihnen ist eine solche Strapaze zuzumuten. Kinder, schwangere Frauen, Säuglinge in den Armen ihrer Mütter.

«Ich weiss nicht, weshalb ich überlebt habe. Ich bin einer der letzten fünf, der diese Leute lebendig gesehen hat, und trotzdem wüsste ich nicht, wie ich ihren Familien, den Dorfbewohnern gegenüber ihren Tod schildern sollte. Ich war erst siebzehn Jahre alt.»

Davide Enia wollte sich selbst ein Bild von der Situation machen, jenen eine Stimme geben, die sich auf der Insel um die Gestrandeten bemühen, alleine gelassen von Politik und Bürokratie. Einheimische, die nach einem ersten Schock teilen, was sie haben, die ebenso wenig wissen wie ihnen geschieht, wie all jene Hoffnungslosen, die nach dem Ausgestandenen in metallic schimmernden Wärmedecken an der Mole sitzen. Er besucht Freunde auf der Insel, zusammen mit seinem Vater, einem ehemaligen Kardiologen, der fotografiert (-> Fotos zum Text!). Es spricht der Rettungstaucher, den Davide Enia nur den «Samurai» nennt, ein Mann, aus dessen Gesicht tausend Schicksale sprechen. Ein Mann, der den Schrecken, das Elend, den Tod wie eine unsichtbare Kette um den Hals mit sich herumträgt. Es sprechen aber auch alle die liegengebliebenen Dinge in den verlassenen Booten, die die Einheimischen in einem leeren Haus wie in einem Museum sammeln.

© Francesco Enia

«Meine Freunde sind alle da draussen.»

Davide Enia berichtet und erzählt und gibt den Menschen eine Stimme. Auch wenn er die Flüchtenden nur selten sprechen lässt. Was Gesichter, die Blicke, das Leid im Leben der Rettenden hinterlassen, genügt. Und weil der Autor gleichzeitig von seiner Familie erzählt, der Annäherung an seinen wortkargen Vater und seinen sterbenden Onkel, weil es auf beiden «Schauplätzen» um Heimat, Entfremdung und darum geht, ob man diesen einen, unsagbar grossen Schritt wagt, sind die Schilderungen in «Schiffbruch vor Lampedusa» erträglich. Davide Enia nähert sich behutsam, genauso wie sein Vater mit dem Objektiv.

Lampedusa, «europäisches» Territorium, gehört eigentlich zum afrikanischen Kontinent. Die Flucht ist noch lange nicht ausgestanden, auch wenn die Geflohenen mit letzter Kraft den Boden unter ihren Füssen küssen. Entkommen sind sie noch lange nicht.

© Francesco Enia

Warum ein solches Buch lesen? Weil Davide Enia etwas schafft, was angesichts der Zahlen, Statistiken, Fakten und endlosen politischen Debatten unsichtbar wird; der Schrecken, die Menschen, die Schicksale und die Tatsache, dass niemand einen solchen Fluchtweg riskiert, der nicht radikal in seiner Existenz bedroht ist. Dabei von Wirtschaftsflüchtlingen zu sprechen, ist angesichts der Lebensqualität von Millionen Europäern ein Hohn.

Davide Enia, geb. 1974, ist Dramatiker, Schauspieler und Autor mehrerer Romane. Für seine dramatischen Texte, die er teilweise selbst inszeniert und aufführt, hat er bedeutende italienische Theaterpreise gewonnen. Sein erster Roman «Così in terra» (2012) wurde in bisher achtzehn Sprachen übersetzt.

© Tony Gentile

Nachwort: Albert Ostermaier

Die Übersetzerin Susanne Van Volxem, geboren 1965, ist Lektorin, Übersetzerin und Autorin. Sie lebt mit Mann und Kind in Frankfurt am Main. Olaf Matthias Roth, geb. 1965, studierte Romanistik und Germanistik. Er übersetzt aus dem Französischen, Italienischen und Englischen, außerdem arbeitet er als Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Theater Kiel.

Webseite des Autors

Alle Fotos © Francesco Enia / Webseite

Ich danke Francesco Enia für die freundliche Erlaubnis, seine Fotos in meinen Text einfügen zu dürfen!

Albert Ostermaier «Über die Lippen», Suhrkamp

Sie stehen an einem Morgen auf, schauen zum Himmel und haben das Gefühl, dass das Blau über ihnen blauer als sonst ist? Kennen sie das? Sie sitzen in einer romanischen Kirche und die Stille umfängt sie wie sonst nirgends mehr? Schon erlebt? Lesen sie die neuen Gedichte von Albert Ostermaier aus dem Band «Über die Lippen» und aus Sprache wird eine grosse Gebärde der Liebe.

Selten passiert, was bei der Lektüre dieses Buches passierte. Ich zog den Band aus dem Regal mit jenen Büchern, die auf mich warten, an einem Morgen, ganz früh. Ich dachte mir, es müsse ein Morgen sein, meine Wahrnehmung ganz unverbraucht, mein Geist wach, alles in mir auf Empfang.

Ich setzte mich in den Sessel vor dem grossen Fenster mit Blick in den Garten. Und während es draussen langsam dämmerte, dämmerte mir, was für ein aussergewöhnliches Buch ich in Händen hielt.

schreiben
es ist da wo du nicht bist du
bist ein gedicht ich schriebe
dich fort du bist nicht
das papier wert auf dem es
gedruckt steht sondern mehr
das überschriebene du liebst
aber ich schreibe du liebst
und unterschreibe mein urteil
ich bin hier in meiner sprache
und du aus ihr und nicht mehr
hier aus fleisch und blut und
machst einen satz den ich nicht
einholen kann auf den zeilen
selbst wenn ich springe

«Über die Lippen» sind fast hundert Gedichte, im Buch nach dem ersten Buchstaben der Titel geordnet. Ein Alphabet der Liebe. Ein Rundumschwenk durch alle Facetten dieser einen, grossen, vielleicht grössten Kraft. Allein die 80 Titel lesen sich wie eine Gedicht: … verbergen, vereinigung, verhalten, vermisst, verrückt, verstehen, wahrheit, warum, weinen…

Albert Ostermeier spricht zu mir, ganz unmittelbar, zieht mich hinein, lässt mich nicht los.
An diesem Morgen wuchs mir ein Buch regelrecht ans Herz, wurde zur Reliquie einer Begegnung der besonderen Art. Ich werde das Buch lange nicht weglegen können. Und selbst, wenn es einmal liegen gelassen wird, werde ich den Klang, all jene Gefühle, die es an diesem Morgen extrahierte, weitertragen.

entwertung
ich liebe nur die liebe du
bist nichts wert ausser ihr
ich werfe mich in deine
arme my love aber werfen dich
weg ich habe dich über
alles in der Welt und keine
mit dir als meine du ziehst
mich aus ich zieh dich an
du bist reizlos das reizt mich
alles von dir zu verlangen
bis nichts mehr bleibt als
mein verlangen und du
übrig bleibt dir nur mir den
letzten stich zu versetzen
mich mit mir selbst zu
verletzen mir die lippen
mit deinen zu netzen mir
den punkt den stein im herz
zu wetzen bis er wieder funkt

Liebesgedichte, die nichts verklären, die alles sagen, selbst im grössten Schmerz, unsäglicher Erkenntnis, grösstmöglicher Nähe und klaffender Entfernung. Albert Ostermaiers Gedichte sind Beschwörungen, Texttänze um ein Gegenüber, einmal nah und einmal schmerzend fern. Seine Gedichte tragen Hysterie und Trance, Verzauberung und Entzauberung, Wut und Enttäuschung, nicht zuletzt über sich selbst. Gedichte, weit weg von jeder Sentimentalität. Geschrieben in einer Sprache, die unmittelbar anschlägt, mitten hineingreift, genau den Punkt trifft.

Albert Ostermaier umarmt mich mit Sprache, setzt mich in seinen lyrischen Szenen direkt ins Leben, ins Lieben hinein. Er schweift nicht aus, mäandert nicht. Er flüstert, fragt, schreit und hadert. 

Lesen Sie und lassen sie sich mitnehmen!

© Susanne Schleyer

Albert Ostermaier ist 1967 in München geboren, wo er heute als freier Schriftsteller lebt. 1995 erschien sein erster Gedichtband «Herz Vers Sagen», der mit dem Lyrikpreis des PEN Liechtenstein ausgezeichnet wurde. Im selben Jahr fand die Uraufführung seines ersten Stückes Zwischen zwei Feuern – Tollertopographie im Marstall des Bayerischen Staatsschauspiels statt. Seither gilt Ostermaier als einer der wichtigsten Gegenwartsdramatiker.
Neben seinen zahlreichen Lyrik-Bänden und Theaterstücken schrieb er 2008 seinen ersten Roman «Zephyr», 2011 «Schwarze Sonne scheine», der auch als Hörbuch erschien und mit dem Preis der Schallplattenkritik ausgezeichnet wurde, 2013 den Roman «Seine Zeit zu sterben» und 2015 ist der neueste Roman «Lenz im Libanon» erschienen, der auch auf Arabisch publiziert wurde. Die Lyrikbände «Flügelwechsel Fußball-Oden und Gedichte» sowie der Gedichtband «Ausser mir» sind ebenfalls bei Suhrkamp erschienen.
Albert Ostermaier wurde mit namhaften Preisen und Auszeichnungen geehrt, u.a. dem Kleist-Preis, dem Bertolt-Brecht-Preis und in 2011 mit dem »Welt«-Literaturpreis für sein literarisches Gesamtwerk.

Ich danke dem Autor für die ausdrückliche Erlaubnisse, Gedichte aus dem Band «Über die Lippen» in den obigen Text einfügen zu dürfen.

Albert Ostermaier: Autorenporträt und Gespräch auf der Suhrkampseite

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau