Nathalie Schmid «Lass es gut sein», Geparden

Muttersein zwingend mit Mutterglück zu verbinden, ist ebenso naiv wie weltfremd, zumindest jetzt, in Zeiten, in denen die Stereotypen von Familie aufbrechen. Nathalie Schmid hat sich an einen Stoff gewagt, den alle mit sich herumtragen, an Fragen, die niemanden kalt lassen, auch die Väter nicht. Und Nathalie Schmid traut sich, sich mit jedem Satz gegen den Titel ihren Romans zu stemmen; „Lass es gut sein“.

Larissa erzählt. Eine Frau, fest eingebunden in ihre Familie. Als Mutter, Schwester, Tochter und Enkelin. Dieses Eingebundensein ist wie ein Netz. Ein Netz, das sie ebenso hält wie zurückhält, ein Netz, das ebenso trägt wie fesselt. „Lass es gut sein“ ist der erzählte Versuch, der Lebenssituation eine Ordung zu geben, sich Gewissheiten zu verschaffen, zu überprüfen, wie sehr die Gegenwart an der Vergangenheit klebt oder endlich jenes Fenster aufgeht, von dem man sich freie Sicht in die Zukunft verspricht.

In christlicher Tradition sind wir einem demütigen Mutterbild verbunden; jener sanften Frau, die ergeben dem Kind alles gibt, was es braucht, ganz selbstverständlich alle Liebe und Hingabe – bis zur Selbstaufgabe. Frauen, die sich dieser scheinbar selbstverständlichen Rolle verweigern, werden noch immer mit Argwohn kommentiert, ausser die Karriere gibt ihnen die Rechtfertigung, sich „ihrer Bestimmung zu verweigern“. Larissa ist Restauratorin, hat sich ihr eigenes Atelier im kleinen Ort eingerichtet, wartet aber vergebens auf Auträge, dümpelt in Beschäftigungen und dem permanenten Hadern mit der Situation.

Nathalie Schmid «Lass es gut sein», Geparden, 2023, 316 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-907406-01-4

Larissa ist sich nicht sicher. Nichts scheint sicher. Bin ich die Mutter, die ich sein müsste? Bin ich die Tochter, die ich sein müsste? Muss ich damit rechnen, dass ich dereinst mit eben jenen Vorwürfen konfrontiert werde, die ich meiner Mutter mache? Larissas Mutter ist so sehr in ihr eigenes Leben eingebunden, dass es selbst Larissa schwer fällt, diese Distanz zu akzeptieren. Vielleicht bin ich Restauratorin geworden, weil ich lieber einen Weg zurückverfolge, als mir einen neuen auszudenken. Larissas Kinder werden erwachsen. So wie sie sich distanzieren, versucht sie sich aus der Umklammerung ihrer Familie zu distanzieren.

„Wir konnten einander nicht retten, die Tage nicht stemmen, das Licht nicht finden.“

„Lass es gut sein“ ist nicht in erster Linie ein Roman, der eine Geschichte erzählen will. Der Roman beschreibt den Befreiungsversuch einer Frau, die in einem Dazwischen gefangen ist. In Rückblenden hinein in ihre Kindheit, in die vielen Streitereien mit ihrer eigenen Mutter, den unsäglich vielen kleinen Lügen, um sich herauszuwinden. Von den Versuchen als junge Frau, den Konventionen zu trotzen, um dann doch in sie hineinzurutschen, sich den ungeschriebenen Vorschriften entgegenzustellen. Vom Kampf gegen Überforderung, Zweifel und Unsicherheit. Ich will die Augen schliessen und mich davontreiben lassen, weg von hier, von diesem Haus, aus dieser Ehe, aus der gesamten Verantwortung, die so schwer wiegt und der ich mich zu stellen habe. „Lass es gut sein“ ist eben dieser Versuch, eine ehriche Auseindersetzung, der die Ausweglosigkeit droht. Keine heldenhafte Geschichte einer Frau, die allem trotzt, sondern das verletzliche Spiegeln in die Mechanismen einer gesellschaftlichen Festlegung.

„Leben wir nicht alle mit angezogener Handbremse?“, fragt sich Larissa. Dass es nicht einfach ein schneller Akt sein kann und hopp die Handbremse ist gelöst, erzählt Nathalie Schmid mit grösster Sensibilität. Ist das Leben, das ich führe, das Leben, das mir bestimmt ist? Nathalie Schmid nimmt mich mit in eine Auseinandersetzung. Keine entblössende Nabelschau, keine exibitionistische Selbstzerfleischung, aber der mäandernde Weg einer Selbstbestimmung. Dass sich die Autorin in ihrer Perspektive zwischen die Fronten schiebt, macht den Roman flirrend, auch wenn ich mir mehr Reibung gewünscht hätte. Ihr Buch ist mutig!

Nathalie Schmid, geboren 1974 in Aarau (CH). Sie studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und arbeitet als Schriftstellerin und Erwachsenenbildnerin. Bisher sind von ihr drei Gedichtbände erschienen. «Lass es gut sein» ist ihr Debütroman. Für ihre Texte hat sie u.a. den Publikumspreis des MDR-Literaturwettbewerbs und ein Aufenthaltsstipendium der Stiftung Landis & Gyr in London erhalten.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Miklós Klaus Rózsa

4. Lyrikfestival Neonfische 7./8. März in Lenzburg

Sie stehen an einem Morgen auf, schauen zum Himmel und haben das Gefühl, dass das Blau über ihnen blauer als sonst ist? Kennen sie das? Sie sitzen in einer romanischen Kirche und die Stille umfängt sie wie sonst nirgends mehr? Schon erlebt? Lesen sie die neuen Gedichte von Albert Ostermaier aus dem Band „Über die Lippen“ und aus Sprache wird eine grosse Gebärde der Liebe.

Selten passiert, was bei der Lektüre dieses Buches passierte. Ich zog den Band aus dem Regal mit jenen Büchern, die auf mich warten, an einem Morgen, ganz früh. Ich dachte mir, es müsse ein Morgen sein, meine Wahrnehmung ganz unverbraucht, mein Geist wach, alles in mir auf Empfang.

Ich setzte mich in den Sessel vor dem grossen Fenster mit Blick in den Garten. Und während es draussen langsam dämmerte, dämmerte mir, was für ein aussergewöhnliches Buch ich in Händen hielt.

schreiben
es ist da wo du nicht bist du
bist ein gedicht ich schriebe
dich fort du bist nicht
das papier wert auf dem es
gedruckt steht sondern mehr
das überschriebene du liebst
aber ich schreibe du liebst
und unterschreibe mein urteil
ich bin hier in meiner sprache
und du aus ihr und nicht mehr
hier aus fleisch und blut und
machst einen satz den ich nicht
einholen kann auf den zeilen
selbst wenn ich springe

„Über die Lippen“ sind fast hundert Gedichte, im Buch nach dem ersten Buchstaben der Titel geordnet. Ein Alphabet der Liebe. Ein Rundumschwenk durch alle Facetten dieser einen, grossen, vielleicht grössten Kraft. Allein die 80 Titel lesen sich wie eine Gedicht: … verbergen, vereinigung, verhalten, vermisst, verrückt, verstehen, wahrheit, warum, weinen…

Albert Ostermeier spricht zu mir, ganz unmittelbar, zieht mich hinein, lässt mich nicht los.
An diesem Morgen wuchs mir ein Buch regelrecht ans Herz, wurde zur Reliquie einer Begegnung der besonderen Art. Ich werde das Buch lange nicht weglegen können. Und selbst, wenn es einmal liegen gelassen wird, werde ich den Klang, all jene Gefühle, die es an diesem Morgen extrahierte, weitertragen.

entwertung
ich liebe nur die liebe du
bist nichts wert ausser ihr
ich werfe mich in deine
arme my love aber werfen dich
weg ich habe dich über
alles in der Welt und keine
mit dir als meine du ziehst
mich aus ich zieh dich an
du bist reizlos das reizt mich
alles von dir zu verlangen
bis nichts mehr bleibt als
mein verlangen und du
übrig bleibt dir nur mir den
letzten stich zu versetzen
mich mit mir selbst zu
verletzen mir die lippen
mit deinen zu netzen mir
den punkt den stein im herz
zu wetzen bis er wieder funkt

Liebesgedichte, die nichts verklären, die alles sagen, selbst im grössten Schmerz, unsäglicher Erkenntnis, grösstmöglicher Nähe und klaffender Entfernung. Albert Ostermaiers Gedichte sind Beschwörungen, Texttänze um ein Gegenüber, einmal nah und einmal schmerzend fern. Seine Gedichte tragen Hysterie und Trance, Verzauberung und Entzauberung, Wut und Enttäuschung, nicht zuletzt über sich selbst. Gedichte, weit weg von jeder Sentimentalität. Geschrieben in einer Sprache, die unmittelbar anschlägt, mitten hineingreift, genau den Punkt trifft.

Albert Ostermaier umarmt mich mit Sprache, setzt mich in seinen lyrischen Szenen direkt ins Leben, ins Lieben hinein. Er schweift nicht aus, mäandert nicht. Er flüstert, fragt, schreit und hadert. Und Albert Ostermaier liest in der Schweiz!

Am Wochenende vom 7. und 8. März treffen sich im Aargauer Literaturhaus Lenzburg grosse Namen wie Esther Kinsky oder Albert Ostermaier mit NewcomerInnen wie der Bündnern Flurina Badel und der eben mit dem Basler Lyrikpreis ausgezeichneten Eva Maria Leuenberger. Das Herz des Festivals sind traditionsgemäss Werkstattgespräche von jeweils drei Lyrikerinnen. AutorInnen stellen dabei dem Publikum nicht nur Texte aus ihrem Werk vor, sondern befragen sich gegenseitig über ihre Texte und beleuchten an ausgewählten Beispielen die kreativen Entstehungsprozesse.

PDF Programmheft Neonfische

Webseite Aargauer Literaturhaus Lenzburg