«deine hand ein schlüssel, dein auge ein see» Nadia Küchenmeister im Literaturhaus Thurgau

«Nach zehnstündiger Anreise aus Berlin waren die Stunden in Gottlieben wie eine lange Umarmung. Vielen Dank an Gallus Frei und Heike Brandstädter für die Vorbereitung und das intensive Gespräch auf der Bühne! Vielen Dank an die Zuhörerinnen und Zuhörer! Und vielen Dank für die schönen Gespräche nach der Lesung, für den Wein und die Münzen, die man mir schenkte, in der Hoffnung, im nächsten Leben nicht als Ameise wiedergeboren zu werden. Ich habe mich sehr wohl, sehr aufgehoben gefühlt. Herzlichen Gruß, Nadja Küchenmeister»

«Die Gedichte verstören, weil in eine quasi unschuldige, fast kindlich-heile Welt der Erinnerung, des Märchens, des Spiels, auch des Spiels der Gedanken, etwas Dunkles hereinbricht oder davon kündet. Das Unvorhergesehene war verborgen, aber es war immer schon da und wird an prominenter Stelle hervorgeholt. Das Hintergründige, das Abgründige, der Verlust kommt zur Sprache. Zugleich wirbelt die Sprache gewohnte Begriffe und Sichtweisen durcheinander. Leise, vielleicht sogar lustvoll werden wir eingebunden in paradoxe Wiederholungen, zyklische Strukturen, Rundungen. Aber: diesen Wiederholungen wohnt immer eine winzige Abweichung ein, eine unmerkliche Drehung der Perspektive, die das gewohnte Verständnis stört, es durcheinanderbringt. Das sind Passagen wie: „kein schatten mehr / im schatten“ oder „das schlafzimmer der eltern / das elternschlafzimmer“ oder „die bahn / bleibt in der bahn“ oder auch „keiner wusste genau wie spät es war / als es zu spät war“. Worte, Begriffe, Ausdrücke, Sprachbilder, die uns vertraut scheinen, werden ausgestellt, auseinandergelegt, befragt: Sind sie das, was sie vorgeben zu sein? Was taugen sie? Wie weit reichen sie?» Heike Brandstädter

Fast tausend Kilometer von Berlin nach Gottlieben hin und am nächsten Tag wieder zurück. Muss schon eine wichtige Sache sein, die so weit transportiert wird! War es auch! Nadja Küchenmeister bringt sie mit; in ihren Büchern fein säuberlich verpackt, ihrer Sprache, ihrer Dichtung, eine verschriftlichte Stimme, die durch Musikalität, Tiefe, Vielschichtigkeit, Sprachwitz und Klugheit auf der einen Seite gewichtig genug ist, um sie beim Vortragen in wohlproportionierten Dosen den Erwartenden zu übergeben, leicht genug, dass die Wortkonstrukte Höhen erreichen, die Schwindel erzeugen.

Ich lernte Naja Küchenmeister 2022 in Basel am dortigen Lyrikfestival kennen, erstand die Bücher im Vorfeld und war nach der Lektüre mehr als gespannt auf die Person, die hinter den Worten steckt. Hätte man mir die Gedichte damals ohne Hinweise auf die Autorin zur Lektüre gegeben, hätte ich die Dichterin im reifen Alter geschätzt, weil ihre Gedichte nicht nur viel Weisheit verraten, vor allem in der Art des Sehens, sondern jene kluge Distanz, die ein Gedicht zu einem Diamant macht, der das Licht auffächert und zu einem vielfachen Spiegel werden lässt.

Wortfreundinnen – Naja Küchenmeister und Zsuzsanna Gahse

Zusammen mit der Literaturwissenschaftlerin Heike Brandstädter aus Konstanz versuchten wir zu zweit ein ganz kleines bisschen hinter die Geheimnisse ihres Dichtens zu leuchten. Nadja Küchenmeister ist keine Vielschreiberin. Was sie zu Papier bringt, hat lange gereift, lange Prozesse durchlaufen. Sie hütet sich davor, sich vom Literaturbetrieb vorwärts treiben zu lassen. Ihre Sprachlandschaften sind klangvoll durchkomponierte Reisen mit dem inneren Auge. Sie nimmt mich mit in einen Kosmos, der aus Alltäglichkeiten, Kleinigkeiten, Normalitäten einen Zustand des Sehens erzeugen kann, der der Schwere Leichtigkeit, dem Unscheinbaren Gewicht und dem Losen Kraft gibt.

„es beginnt mit einem schlüssel, und es endet ohne tür“ – Nadja Küchenmeister, Trägerin des Basler Lyrikpreises 2022, ist Gast im Literaturhaus Thurgau

Laudatio für Nadja Küchenmeister zum Basler Lyrikpreis 2022

Sieben Raben hausen im Glasberg am Ende der Welt. Einst waren die Raben Knaben, doch ein Fluch verwandelte sie in Vögel. Ihre Schwester macht sich auf den Weg, sie zu erlösen. So beginnt das Märchen Die sieben Raben der Brüder Grimm. Die Erlösung hat einen Preis: Das Mädchen muss sich am Eingang des Glasbergs einen Finger abschneiden, denn nur mit einem «Beinchen» lässt er sich öffnen. Erst der Verlust macht die Rückkehr möglich.

«ohne furcht» macht sich ein Ich in Nadja Küchenmeisters jüngstem Band zum titelgebenden Glasberg auf, «raukt» sich alsbald an den Ort der Herkunft heran, den nordöstlichen Stadtrand Berlins:

ich rauke durch die stadt, entlang des strangs, die bahn
bleibt in der bahn, ich rauke mich heran, ans wuhletal
zwanzig winter weit verdammt, und ich bin wieder da.

Das Gedicht endet mit den verheißungsvollen Worten: «fangen wir an».

Fangen wir an: Es ist mir eine große Freude und Ehre, heute über die Dichtung von Nadja Küchenmeister zu sprechen. 1981 in Berlin geboren, wächst sie in der damals neu entstandenen Großsiedlung Hellersdorf im Wuhletal auf. Während sich in den 1990er-Jahren in der Innenstadt die Kulturen mischen, bleibt Hellersdorf ein vorwiegend ostdeutscher Bezirk, der zum Inbegriff Berliner Plattenbauarmut wird. «Aus dem einstmals angesehenen Wohngebiet war ein Problembezirk geworden. Wer es sich leisten konnte, zog weg», schreibt Nadja Küchenmeister 2013 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über den Ort ihres Aufwachsens. Der soziale Abstieg des Bezirks geht mit Brüchen in ihrer Biografie einher, die für ihr Schreiben prägend werden. Aus den Schichten ihrer Vergangenheit holt sie Bild- und Tonmaterial in die Gegenwart und verwebt dieses zu Gedichten. Lyrisches Erzählen wird zu ihrem poetologischen Verfahren. 

Nach dem Gymnasium in Hellersdorf studiert Nadja Küchenmeister Germanistik und Soziologie an der Technischen Universität Berlin sowie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Heute lebt sie in einem anderen Stadtteil Berlins, schreibt Hörspiele für den Rundfunk und lehrt an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Drei Lyrikbände sind von ihr erschienen, Alle Lichter (2010), Unter dem Wacholder (2014) und Im Glasberg (2020). In allen drei vergewissert sich ein Ich seines Daseins, indem es sich erinnert: an die Kindheit, an vertraute Orte oder an eine Liebe. Nadja Küchenmeister entwickelt einen einzigartig narrativen Sog. Wir folgen ihren detailgetreuen, luziden Zeilen, und diese Verfolgung fällt leicht, weil die Gedichte, ähnlich dem Märchen, das Geheimnis evozieren, ohne es unnötig zu verrätseln. Und so begleiten wir das Ich auf seinen Gängen durchs Wuhletal oder nach Zinnowitz, den kleinen Ort an der Ostsee, wo die Dichterin als Kind die Sommer verbrachte. Wir kehren mit ihr zurück im Wissen um die Unausweichlichkeit eines Verlustes in Gestalt eines «Beinchens», «rauken» uns heran ans Viertel oder an «das haus im ortsausgang», gehen durch den Hof, vorbei an der Laterne, der Tischtennisplatte oder Hollywoodschaukel.

«es beginnt mit einem schlüssel, und es endet ohne tür», lautet ein Vers aus dem Gedicht es beginnt, wo es endet. Wir drehen den Schlüssel zu Nadja Küchenmeisters lyrischem Schaffen und betreten ihre Gedichte wie die Räume eines verwunschenen Sprachhauses. In ihnen stoßen wir auf Landschaften, Gehörtes und Gesprochenes, auf Geschichte, Ahnen und Gesang, auf W.G. Sebald, die Bright Eyes oder Jürgen Becker, auf ein Nebeneinander aus Erinnertem und Sichtbarem. Wir gehen in diese Gedichte hinein, gehen einen dunklen «flur entlang» und fragen uns: «was kommt dann?» Wir glauben dem «flur sein flursein nicht ganz», lassen uns von «halbschuhen beruhigen, höflich / in reihe, abgetragen» und ahnen schon, dass in der klangvollen Abzweigung, die der Vers gleich nehmen wird, eine streng komponierte Idylle ins Gegenteil kippen kann. Wir schreiten durch einen gegenwärtig-vergangenen Echoraum, tasten uns entlang Terzetten, denen die Dichterin vertraut, und hören Schritte, die zu unseren werden. Wir gehen in ihren Stillleben aus Drehsätzen, Klang- und Sprachspielen eigene Wege, treffen auf Assonanzen, stolpern über verstreute Reime, folgen Enjambements oder einem traditionellen Versmaß, das in einen freien Rhythmus übergeht, um uns in einem weiteren Zimmer wiederzufinden, das in weitere historische, philosophische und poetische Hall- und Denkräume führt.

Es ist Nadja Küchenmeisters Methode, in diesen Räumen von ganz konkreten und alltäglichen Dingen zu erzählen: von Wäscheständern und Kommoden, von überbackenen Nudeln, Resopal und Unterhosen, von Fliesen, Herztabletten, Eduscho Kaffee und Blockschokolade. Von der Zuverlässigkeit der Dinge ist in der abendländischen Tradition des Denkens immer wieder die Rede. Denn in den Dingen lässt sich die Geschichte sehen. Im Gedicht rauperich heißt es: «wer aufräumt, der begegnet sich, wie ungünstig». Das Ich und das Du spiegeln sich in vielen von Nadja Küchenmeisters Gedichten nur noch in den Dingen. Oder, wie die Dichterin selbst es einmal beschrieb: «Ich bin in allem, was mich umgibt, enthalten, sofern ich es in mich aufgenommen habe, und manchmal will es mir sogar scheinen, als erinnerten sich die Dinge auch an mich, als bedeuteten sie mir in ihrer unverrückbaren Existenz, dass sie bleiben, wie sie waren, damit auch ich ein wenig so bleiben darf, wie ich war.»

Doch nicht nur das Ich konstituiert sich in den Dingen. Sie erzählen auch von einem fehlenden Du, von der Anwesenheit in Abwesenheit, etwa beim Betreten eines plötzlich verlassenen Elternhauses:

[…] an der garderobe
hängt dein schwacher abdruck, mantel, ärmel
ohne muskeln, ohne geschichte kann ich nicht

nach hause gehen: ich zähle deine hemden, socken
unterhosen, entwirre die kabel unter dem tisch, schwarze
wurzeln, die keinen anfang und kein ende haben.

Der Versuch, die Herkunft zu ergründen, führt ins Uferlose. Oder in die Dunkelheit der Geschichte. Die Dichterin weiß, dass man dem Erinnern nicht immer trauen kann. «ich erinnere mich ans erinnern, noch mehr erinnere ich mich an nichts», heißt es unsentimental in einem ihrer Liebesgedichte. Nadja Küchenmeisters Poesie des Erinnerns ist gleichzeitig immer eine Reflexion darüber. Sie macht deutlich, dass die Frage, was war, und die, wie es war, keine rein persönliche ist. In einem Gedicht des Zyklus der tod im traum liegt das Ich im Gras, es ist ein Du geworden. Die Hunde jaulen wie Wölfe, und die längst vergessene Schlagerzeile «heißer sand und ein verlorenes land» klingt zaghaft aus dem Radio:

dann trittst du noch einmal über die schwelle … und deine ahnen
heckenschützen unterm lampenbogen, reichen schüsseln und servietten.
ein hauch von lippenstift am glas. sie sprechen heiser, sprechen durchs
papier: verschweigen manches und erinnern nichts, das war ja klar.

Die Bruchlinien, auf die wir in diesen Chroniken des gewöhnlichen Augenblicks stoßen, zeigen, wie sich ein Ich in der Wirklichkeit, in einer historischen Begebenheit, einer sozialen Lage oder einem Schmerz verliert. Das macht diese Lyrik so eindringlich, zeitlos und gegenwärtig.

Wir übergeben diesen Preis an Nadja Küchenmeister für ihre virtuose sprachliche Beobachtungsgabe, für ihr großes und ebenso kritisches Vertrauen in literarische Traditionen, für ihr Gespür für Musikalität, mit dem sie die vertraute Welt der Dinge in den Vordergrund rückt. Im scheinbar Nebensächlichen und Bekannten lauert immer auch das Fremde und Abgründige, dem die Dichterin durch meisterhafte Konkretion begegnet. Wir fühlen den Schlüssel zu ihrem Sprachhaus in unseren Taschen und danken ihr dafür.

von Ariane von Graffenried

Nadja Küchenmeister, geboren 1981 in Berlin, lebt dort. Sie studierte Germanisitik und Soziologie an der Technischen Universität in Berlin sowie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Diverse Lehrtätigkeiten, u.a. am Deutschen Literaturinstitut sowie an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Für den Rundfunk schreibt sie Hörspiele, Features und Rezensionen. Ihre Gedichtbände wurden vielfach ausgezeichnet.

Die Gäste im Literaturhaus Thurgau zwischen Mai und August 2023

«Vielleicht braucht es für Genauigkeiten die totale Reduktion der inneren Betriebsamkeit.» Lisa Elsässer

Liebe FreundInnen des kleinsten aber feinsten Literaturhauses,
zücken Sie Ihre Agenden, Planer, Mobilphones oder Wandkalender und markieren Sie die folgenden Termine. Wir danken Ihnen für Ihr Interesse, Ihre Treue und den Mut, sich in Neues hineinzugeben.

Donnerstag, 4. Mai, 19.30 Uhr
Ein Abend mit Lisa Elsässer
„Elsässers Sprache, die aus dem Unbewussten kommt, funktioniert wie eine Lupe. Sie vergrössert und bündelt das Licht, bis es plötzlich brennt.“ Felix Schneider, SRF Literatur

Donnerstag, 11. Mai, 19.30 Uhr
Nadja Küchenmeister „Im Glasberg“
Samstag, 13. Mai, 16 Uhr: Nachlese
In der jungen deutschsprachigen Lyrik gilt Nadja Küchenmeister als einzigartige Stimme. Sie verwebt Erinnerungen mit Märchen und Traumbildern – und findet im Unscheinbaren das Besondere, im Nebensächlichen das Wesen der Dinge. Ihre Dichtung ist immer suchend, tastend unterwegs: sprachspielerisch und zugleich von hoher formaler Schönheit.

Donnerstag, 1. Juni, 19.30 Uhr
Robert Prosser „Verschwinden in Lawinen“, Performance mit Gespräch
Percussion: Lan Stricker
In einem Bergdorf in Tirol herrscht am Ende der Wintersaison gespannte Stille: Zwei Einheimische sind von einer Lawine verschüttet worden. Während die junge Frau um ihr Leben kämpft, fehlt von ihrem Freund vorerst jede Spur.

Freitag, 9. Juni, 19.30 Uhr
Milena Michiko Flašar
„Oben Erde, unten Himmel“
Herr Ono ist unbemerkt verstorben. Allein. Es gibt viele wie ihn, immer mehr. Erst wenn es wärmer wird, rufen die Nachbarn die Polizei. Und dann Herrn Sakai mit dem Putztrupp, zu dem Suzu nun gehört. Sie sind spezialisiert auf Kodokushi-Fälle.

Donnerstag, 15. Juni, 19.30 Uhr
„Der Garten“ von Paul Bowles
mit Florian Vetsch (Autor), Dagny Gioulami (Schauspielerin, Autorin) und Klaus-Henner Russius (Schauspieler)
Szenische Lesung und Gespräch zu Paul Bowles› Bühnenstück „Der Garten“ (Tanger 1967). Paul Bowles (1911–1999) zählt zu den bedeutendsten Autoren der amerikanischen Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Mittwoch, 21. Juni, 20 Uhr
Judith Hermann „Wir hätten uns alles gesagt“ 
in Kooperation mit dem Literaturhaus St. Gallen, im Kunstmuseum St. Gallen
„Judith Hermanns Bücher sind unbeirrbare Erkundungen der menschlichen Verhältnisse.“ Roman Bucheli, NZZ

Donnerstag, 6. Juli
Tabea Steiner „Immer zwei und zwei“
18 Uhr „Literatur am Tisch“
20 Uhr Lesung
Natali heiratet Manuel, Mitglied einer Freikirche, und wird so Teil einer streng christlichen Gemeinschaft. Zunehmend ist sie um ihre eigene und die Unabhängigkeit ihrer Töchter besorgt. Als sie die alleinstehende Theologin Kristin kennenlernt, wird ihr klar, dass sie so nicht weiterleben kann.

Samstag, 19. August, 18 Uhr, Sommerfest; Ausstellung, Lesungen
18.30 Uhr: Ruth Loosli, Schriftbilder und Lyrik, begleitet von Quirin Oeschger am Hackbrett 
20 Uhr Sarah Elena Müller „Bild ohne Mädchen“
„Sarah Elena Müller bringt eindrucksvoll zum Ausdruck, wie viel Uneinsichtigkeit, wie viel Hilf- und Sprachlosigkeit die Aufarbeitung eines Missbrauchsfalls oft erschweren oder gar verhindern. Ein starkes Debüt.“ Julian Schütt
«Ruth Loosli schreibt, wie andere tanzen. Anmutig, leichtfüssig, den Menschen zugeneigt.» Susanne Rasser, Salzburg

Illustrationen leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Ariane von Graffenried «es beginnt mit einem schlüssel, und es endet ohne tür», Laudatio für Nadja Küchenmeister zum Basler Lyrikpreis 2022

Sieben Raben hausen im Glasberg am Ende der Welt. Einst waren die Raben Knaben, doch ein Fluch verwandelte sie in Vögel. Ihre Schwester macht sich auf den Weg, sie zu erlösen. So beginnt das Märchen Die sieben Raben der Brüder Grimm. Die Erlösung hat einen Preis: Das Mädchen muss sich am Eingang des Glasbergs einen Finger abschneiden, denn nur mit einem «Beinchen» lässt er sich öffnen. Erst der Verlust macht die Rückkehr möglich. 

«ohne furcht» macht sich ein Ich in Nadja Küchenmeisters jüngstem Band zum titelgebenden Glasberg auf, «raukt» sich alsbald an den Ort der Herkunft heran, den nordöstlichen Stadtrand Berlins:

ich rauke durch die stadt, entlang des strangs, die bahn
bleibt in der bahn, ich rauke mich heran, ans wuhletal
zwanzig winter weit verdammt, und ich bin wieder da.

Das Gedicht endet mit den verheißungsvollen Worten: «fangen wir an».

Fangen wir an: Es ist mir eine große Freude und Ehre, heute über die Dichtung von Nadja Küchenmeister zu sprechen. 1981 in Berlin geboren, wächst sie in der damals neu entstandenen Großsiedlung Hellersdorf im Wuhletal auf. Während sich in den 1990er-Jahren in der Innenstadt die Kulturen mischen, bleibt Hellersdorf ein vorwiegend ostdeutscher Bezirk, der zum Inbegriff Berliner Plattenbauarmut wird. «Aus dem einstmals angesehenen Wohngebiet war ein Problembezirk geworden. Wer es sich leisten konnte, zog weg», schreibt Nadja Küchenmeister 2013 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über den Ort ihres Aufwachsens. Der soziale Abstieg des Bezirks geht mit Brüchen in ihrer Biografie einher, die für ihr Schreiben prägend werden. Aus den Schichten ihrer Vergangenheit holt sie Bild- und Tonmaterial in die Gegenwart und verwebt dieses zu Gedichten. Lyrisches Erzählen wird zu ihrem poetologischen Verfahren.

Nach dem Gymnasium in Hellersdorf studiert Nadja Küchenmeister Germanistik und Soziologie an der Technischen Universität Berlin sowie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Heute lebt sie in einem anderen Stadtteil Berlins, schreibt Hörspiele für den Rundfunk und lehrt an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Drei Lyrikbände sind von ihr erschienen, Alle Lichter (2010), Unter dem Wacholder (2014) und Im Glasberg (2020). In allen drei vergewissert sich ein Ich seines Daseins, indem es sich erinnert: an die Kindheit, an vertraute Orte oder an eine Liebe. Nadja Küchenmeister entwickelt einen einzigartig narrativen Sog. Wir folgen ihren detailgetreuen, luziden Zeilen, und diese Verfolgung fällt leicht, weil die Gedichte, ähnlich dem Märchen, das Geheimnis evozieren, ohne es unnötig zu verrätseln. Und so begleiten wir das Ich auf seinen Gängen durchs Wuhletal oder nach Zinnowitz, den kleinen Ort an der Ostsee, wo die Dichterin als Kind die Sommer verbrachte. Wir kehren mit ihr zurück im Wissen um die Unausweichlichkeit eines Verlustes in Gestalt eines «Beinchens», «rauken» uns heran ans Viertel oder an «das haus im ortsausgang», gehen durch den Hof, vorbei an der Laterne, der Tischtennisplatte oder Hollywoodschaukel.

Nadja Küchenmeister «Im Glasberg», Schönling, 2020

«es beginnt mit einem schlüssel, und es endet ohne tür», lautet ein Vers aus dem Gedicht es beginnt, wo es endet. Wir drehen den Schlüssel zu Nadja Küchenmeisters lyrischem Schaffen und betreten ihre Gedichte wie die Räume eines verwunschenen Sprachhauses. In ihnen stoßen wir auf Landschaften, Gehörtes und Gesprochenes, auf Geschichte, Ahnen und Gesang, auf W.G. Sebald, die Bright Eyes oder Jürgen Becker, auf ein Nebeneinander aus Erinnertem und Sichtbarem. Wir gehen in diese Gedichte hinein, gehen einen dunklen «flur entlang» und fragen uns: «was kommt dann?» Wir glauben dem «flur sein flursein nicht ganz», lassen uns von «halbschuhen beruhigen, höflich / in reihe, abgetragen» und ahnen schon, dass in der klangvollen Abzweigung, die der Vers gleich nehmen wird, eine streng komponierte Idylle ins Gegenteil kippen kann. Wir schreiten durch einen gegenwärtig-vergangenen Echoraum, tasten uns entlang Terzetten, denen die Dichterin vertraut, und hören Schritte, die zu unseren werden. Wir gehen in ihren Stillleben aus Drehsätzen, Klang- und Sprachspielen eigene Wege, treffen auf Assonanzen, stolpern über verstreute Reime, folgen Enjambements oder einem traditionellen Versmaß, das in einen freien Rhythmus übergeht, um uns in einem weiteren Zimmer wiederzufinden, das in weitere historische, philosophische und poetische Hall- und Denkräume führt.

Es ist Nadja Küchenmeisters Methode, in diesen Räumen von ganz konkreten und alltäglichen Dingen zu erzählen: von Wäscheständern und Kommoden, von überbackenen Nudeln, Resopal und Unterhosen, von Fliesen, Herztabletten, Eduscho Kaffee und Blockschokolade. Von der Zuverlässigkeit der Dinge ist in der abendländischen Tradition des Denkens immer wieder die Rede. Denn in den Dingen lässt sich die Geschichte sehen. Im Gedicht rauperich heißt es: «wer aufräumt, der begegnet sich, wie ungünstig». Das Ich und das Du spiegeln sich in vielen von Nadja Küchenmeisters Gedichten nur noch in den Dingen. Oder, wie die Dichterin selbst es einmal beschrieb: «Ich bin in allem, was mich umgibt, enthalten, sofern ich es in mich aufgenommen habe, und manchmal will es mir sogar scheinen, als erinnerten sich die Dinge auch an mich, als bedeuteten sie mir in ihrer unverrückbaren Existenz, dass sie bleiben, wie sie waren, damit auch ich ein wenig so bleiben darf, wie ich war.»

Doch nicht nur das Ich konstituiert sich in den Dingen. Sie erzählen auch von einem fehlenden Du, von der Anwesenheit in Abwesenheit, etwa beim Betreten eines plötzlich verlassenen Elternhauses:

[…] an der garderobe
hängt dein schwacher abdruck, mantel, ärmel
ohne muskeln, ohne geschichte kann ich nicht

nach hause gehen: ich zähle deine hemden, socken
unterhosen, entwirre die kabel unter dem tisch, schwarze
wurzeln, die keinen anfang und kein ende haben.

Der Versuch, die Herkunft zu ergründen, führt ins Uferlose. Oder in die Dunkelheit der Geschichte. Die Dichterin weiß, dass man dem Erinnern nicht immer trauen kann. «ich erinnere mich ans erinnern, noch mehr erinnere ich mich an nichts», heißt es unsentimental in einem ihrer Liebesgedichte. Nadja Küchenmeisters Poesie des Erinnerns ist gleichzeitig immer eine Reflexion darüber. Sie macht deutlich, dass die Frage, was war, und die, wie es war, keine rein persönliche ist. In einem Gedicht des Zyklus der tod im traum liegt das Ich im Gras, es ist ein Du geworden. Die Hunde jaulen wie Wölfe, und die längst vergessene Schlagerzeile «heißer sand und ein verlorenes land» klingt zaghaft aus dem Radio:

dann trittst du noch einmal über die schwelle … und deine ahnen
heckenschützen unterm lampenbogen, reichen schüsseln und servietten.
ein hauch von lippenstift am glas. sie sprechen heiser, sprechen durchs
papier: verschweigen manches und erinnern nichts, das war ja klar.

Die Bruchlinien, auf die wir in diesen Chroniken des gewöhnlichen Augenblicks stoßen, zeigen, wie sich ein Ich in der Wirklichkeit, in einer historischen Begebenheit, einer sozialen Lage oder einem Schmerz verliert. Das macht diese Lyrik so eindringlich, zeitlos und gegenwärtig.


Wir übergeben diesen Preis an Nadja Küchenmeister für ihre virtuose sprachliche Beobachtungsgabe, für ihr großes und ebenso kritisches Vertrauen in literarische Traditionen, für ihr Gespür für Musikalität, mit dem sie die vertraute Welt der Dinge in den Vordergrund rückt. Im scheinbar Nebensächlichen und Bekannten lauert immer auch das Fremde und Abgründige, dem die Dichterin durch meisterhafte Konkretion begegnet. Wir fühlen den Schlüssel zu ihrem Sprachhaus in unseren Taschen und danken ihr dafür.

Herzliche Gratulation, liebe Nadja Küchenmeister!

Ariane von Graffenried

Beitragsbild © Dirk Skiba