Steven Uhly «Die Summe des Ganzen», Secession

Kann man sich einer Schuld entledigen? Gibt es Busse? Wie schafft es der Mensch, all die Schrecken menschlichen Tuns hinter Fassaden so gut inszeniert zu verbergen? Steven Uhlys Roman „Die Summe des Ganzen“ schlägt ein wie Blitz und Donner zugleich. Möge es danach brennen!

Ein schwarzes Buch mit einem schwarzen Schaf auf dem Cover. Auf der Stirn dieses jungen, schwarzen Schafs prangt ein goldenes Kreuz. Das junge Schaf ist gezeichnet. Das golden schimmernde Kreuz prangt mitten auf der Stirn, unübersehbar, leuchtend in der Schwärze. Das Buch nahm mich schon, bevor ich es zu lesen begann, in seinen Bann. Kaum aus seiner durchsichtigen Hülle gepult, musste ich zu lesen beginnen. Mit Sicherheit, weil es ein Buch von Steven Uhly ist – aber auch weil all meine Assoziationen, die das Buch schon mit seinem Auftritt auslösen, wissen wollten, ob sie im Roman ihre Bestätigung finden.

Padre Roque de Guzmán, 50 Jahre, betreut eine kleine Gemeinde in einem Aussenbezirk Madrids. Noch nicht lange, aber so lange, dass sich seine Tage in immer gleichem Rhythmus abspulen. Dazu gehören die Zeiten im Beichtstuhl der Kirche, stets von 17 bis 18.30 Uhr. Die Menschen, die in dieser Zeit im Dunkel des kleinen Gevierts Erleichterung suchen, ihre grossen und kleinen Sünden offenbaren und auf Erlösung hoffen, sind immer die gleichen. Zum Beispiel José Maía Espín, der seine Frau chronisch betrügt. Oder Señora Barros, die immer und immer wieder über ihren verstorbenen Mann schimpft, ihrem Mann selbst nach seinem Tod immer und immer wieder den Tod wünscht.
Bis jemand Fremder seinen Beichtstuhl betritt, ein junger Mann, der Padre Roque de Guzmán nur zaghaft verrät, welche Sünde, welch finstere Absichten er mit sich herumträgt, weil er den Beichtstuhl meist fluchtartig verlässt, dann wenn „die Summe des Ganzen“ unerträglich wird.

Steven Uhly «Die Summe des Ganzen», Secession, 2022, 160 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-96639-048-4

Wer katholisch erzogen ist, wird unweigerlich mit jenem eigenartigen dreiteiligen Ding konfrontiert, das an den Seiten einer Kirche hinter Vorhängen und Sichtschutz die Gläubigen einladen soll, Busse zu tun, sich jenen zu öffnen, die als Vertreter Christi ihre Absolution erteilen können, uns weissen uns schwarzen Schafen. Scheinbar kostenlos, nicht wie der Gang zu PsychologInnen. Aber eben doch nicht kostenlos, sowohl die Preisgabe wie das Empfangen, denn was sich Padre Roque de Guzmán anhören muss, lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren.
Der junge Mann scheint im Begriff zu sein, sich an seinem Nachhilfeschüler zu vergehen. Der junge Mann erzählt, er wäre verheiratet, habe eine kleine Tochter. Aber selbst die Familie, die Liebe und die Sorge um sie, schütze ihn nicht davor, sehenden Auges ins Verderben zu schreiten. Im Beichtstuhl dieser Kirche spiegeln sich Dramen. Jenes des jungen Mannes, der sich in einem fatalen Sog befindet, dessen schwarzes Loch in seinem Bauch alles schluckt. Aber auch jenes des Beichtvaters. Zum einen weil er weder bei dem jungen Mann noch bei ihm selbst verhindern kann, was als Katastrophe unaufhaltsam rollt, zum andern weil es aufreisst, was sich in die Tiefen des Verdrängens geschoben hat.

Steven Uhlys Roman ist viel mehr als ein Buch über die Abgründe der Pädophilie, auch nicht die Bestätigung dessen, was uns Medien gerne mit Wonne auftischen, wenn sich Kirchenmänner wieder und wieder, selbst nach medial inszenierten Entschuldigungen, die Besserung und Aufklärung versprechen, an Kindern vergehen. Letztlich sind es die Schicksale jener, die in diesem Buch im Hintergrund bleiben, auch wenn Steven Uhly in seinen Schilderungen Schmerzgrenzen berührt. Es gibt Wunden, die sich nie schliessen. Auch dann nicht, wenn man für sie büsst, auch dann nicht, wenn über sie gesprochen wird, auch dann nicht, wenn man sich dafür rächt.

„Die Summe des Ganzen“ ist ein Kammerspiel zweier Männer im Dunkel eines Beichtstuhls. Und ein Lehrstück für mich selbst, denn Steven Uhly straft mich während der Lektüre für mein voreiliges Urteil, zeigt mir, wie sehr ich mich verleiten lasse. «Die Summe des Ganzen“ geht unsäglich tief, zeigt, wie sehr sich der Mensch durch seine egomanischen Triebe offenen Auges in den Abgrund schickt.
Mag sein, dass Steven Uhly Klischees bedient. Aber die katholische Kirche bestätigt fleissig jedes Klischee, immer und immer wieder.

Interview

Sie wohnen in München. Weder in Deutschland noch in der Schweiz sind Kleriker an den Abgründen der Pädophilie vorbeigekommen, ganz und gar nicht. Und trotzdem siedeln sie das Geschehen in der spanischen Hauptstadt an mit zwei Protagonisten, die südamerikanischer Herkunft sind, zwei Verlorene. Warum in spanischem Kleid?

Es gibt nur einen Südamerikaner, Lucas Hernández. Der Padre stammt aus der Gegend von Sevilla, ist also Spanier, und Akachukwu ist Nigerianer. Die Konstellation hat verschiedene Gründe. Erstens stammt ein Freund von mir aus jenem Viertel in Madrid. Er wurde als Kind von einem Padre belästigt. Zweitens aber fand die größte und gewalttätigste christliche Missionierung eben dort, in Südamerika, statt. Ihre Opfer sind zahllos. Eines Tages werde ich vielleicht ein Buch über Bartolomé de las Casas schreiben, der das bereits damals erkannte und schier daran verzweifelte – für mich eine der Lichtgestalten der Menschheit. Mein Buch ist insofern eine versteckte Metapher dessen, was Europa in seinen Kolonien tat – erinnern Sie sich daran, dass Akachukwu mehrmals die Engländer erwähnt, die sein Volk zu Christen gemacht hätten. Ich habe diese Metapher nicht weiter ausgearbeitet, weil ich wegen der Stringenz des Handlungsverlaufs Prioritäten setzen musste. Aber wer aufmerksam liest, der findet es.

Abgründe tragen wir alle mit uns herum. Niemand ist vor ihnen geschützt. Warum gelingt es Menschen nicht, rechtzeitig das Ruder herumzureissen? Warum verletzen wir andere im Wissen darum, dass unser Tun unentschuldbar ist? Und warum ausgerechnet jene, die uns den Weg zum Frieden weisen wollen, Kinder? Warum die Kirche, die die sich die Nächstenliebe übergross auf ihr Banner geschrieben hat?

Das sind sehr tiefgründige Fragen, ich werde versuchen, sie im Rahmen meiner eher bescheidenen Fähigkeiten zu beantworten: Ich glaube an das Gute im Menschen, doch ich glaube auch, dass uns das nichts bringt, wenn wir es nicht in uns selbst entdecken. Erinnern Sie sich an den schmutzigen Teller, den der Padre erwähnt? Ich glaube der Teller ist wie das Gute im Menschen: Er verliert seine glatte saubere Oberfläche nie, doch wenn sie vom Schmutz unserer schlechten Gewohnheiten, unserer Ängste und Wünsche, unseres Zorns oder Grolls, unserer Gier und unserer fehlenden Disziplin überdeckt wird, verschwindet sie, sprich: sind wir uns ihrer nicht bewusst. Und je länger wir unseren schlechten Gewohnheiten nachgeben, desto stärker werden sie, wie Essensreste, die zu lange auf dem Teller getrocknet sind, und desto schwerer wird es, ihn zu spülen.

Was die Kirche betrifft, so glaube ich, dass sie einem Missverständnis aufsitzt: Gott ist ein geistiges Wesen, sein Reich ist das spirituelle Universum des Menschen. Die Kirche hat daraus jedoch ein materielles Reich gemacht mit Besitztümern, Begehrlichkeiten und der Notwendigkeit, ihre Pfründe zu verteidigen. Eine solche Konstellation zieht immer auch Machtmenschen und Heuchler an, wie überall sonst auch. Und der Zölibat fügt dem einen weiteren Aspekt hinzu: materielle, sprich: körperliche Macht, erotische Macht. Es gibt meines Wissens keine wirkliche Prüfung jener Menschen, die den Zölibat akzeptieren. Warum will jemand auf seine Geschlechtlichkeit verzichten? Sex ist meiner Erfahrung nach die intimste Form der Kommunikation zwischen zwei Menschen, vielleicht sogar die Essenz der Kommunikation überhaupt. Beim Sex wird man immer mit der Wahrheit konfrontiert – der eigenen und der des anderen. Warum will jemand freiwillig darauf verzichten? Aus Angst? Warum kann jemand Liebe nur im Rahmen eines Machtgefälles empfinden? Vielleicht weil er eine traumatische Ohnmachtserfahrung gemacht hat, die er zu verdrängen versucht?

Bestimmt gibt es Menschen, die jenseits des Geschlechtlichen sind, es wirklich nicht mehr brauchen, doch viele werden es nicht sein. Die Kirche aber will im Prinzip endlos wachsen – darin unterscheidet sie sich weder von Imperien noch von multinationalen Unternehmen. Sie braucht also sehr viele Priester, und vielleicht liegt da ein ganz einfacher Konflikt zwischen den Statuten und dem Wachstumspotenzial vor: So viele zölibatäre Priester kann es gar nicht geben. Und die übrigen?

Priester betreiben Seelsorge, sie sollten, wie Therapeuten auch, zunächst einmal sich selbst therapieren lassen, und zwar durch weltliche Therapeuten. Erinnern Sie sich an die Stelle, an der der Padre dem Sünder empfiehlt, eine Therapie zu machen? Wenn Sie bedenken, dass das Buch wie ein Spiegelkabinett angelegt ist – der Sünder spiegelt die Gedanken- und Gefühlswelt des Priesters -, dann sagt er das eigentlich zu sich selbst.

Die Kirche hat aufgrund ihres Missverständnisses ein fast schon dogmatisches Problem mit der Psychotherapie, denn auch die Psychotherapie verspricht Befreiung vom Leid, allerdings ohne Gott. Doch die Psychotherapie ist weltlich, sie steht gar nicht in Konkurrenz zu Gott, weil Gottes Reich nicht von dieser Welt ist. Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, warum die Kirche nicht längst eine Therapie für alle angehenden Priester verpflichtend gemacht hat.

Verletzungen gibt es. Sie vernarben. Manche vergisst man. Und manche eitern ein Leben lang. Pädophilie provoziert selbst als Thema enorme Aggressionen. Kein Verbrechen entblösst so sehr die menschliche Fratze, sei es bei Tätern oder bei AnklägerInnen. Schon klar, wenn man ins Gesicht eines Kindes schaut und sich dessen Verletzbarkeit bewusst wird. Sie stechen mit Ihrem Roman mitten ins Herz, gleich vielfach. Da hätte doch einiges schiefgehen können!

Ich glaube wie gesagt nicht an die menschliche Fratze. Ich glaube, das Böse entsteht immer dort, wo wir uns selbst nicht erkennen. Ignoranz ist meiner Meinung nach die wahre Wurzel des Bösen: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Vielleicht ist es deshalb nicht schiefgegangen. Der Padre hat letztlich keine Ahnung, was er wirklich braucht. Er hat sich dem Glauben verschrieben, aber vielleicht war das die falsche Entscheidung, zumindest zu dem Zeitpunkt, als er sie traf. Das Problem, was er seitdem hat, besteht darin, dass er keine Handhabe für sein Begehren entwickelt. Solche unnatürlichen Neigungen verdecken meiner Meinung nach stets das eigentliche Problem, das oftmals ganz anders geartet ist. Ich denke, der Padre hat nicht erkannt, dass Lieben wichtiger ist, als geliebt zu werden. Um das zu erkennen, muss man als Kind geliebt worden sein. Und es gibt so viele Menschen, die ohne diese Gewissheit aufwachsen. Der Glaube allein kann ihnen nicht helfen, weil sie stets Gefahr laufen, auch ihn zu benutzen, um ihr eigentliches Problem zu kompensieren. Erinnern Sie sich daran, dass er immer wieder versucht, Selbstlosigkeit zu üben. Aber wenn das Selbst nicht gesund ist, muss man sich zuerst darum kümmern, es zu heilen, bevor man sich selbst zugunsten anderer vergessen kann. Dem Padre ist all dies nicht bewusst, und die Bibel liefert auch keine Methode, denn sie richtet sich an Menschen, die schon so weit sind, dass sie das Wort Gottes ungefiltert in sich aufnehmen können.

Was Lucas betrifft: Seine Gefühlswelt ist mir im Laufe einer fast dreißigjährigen intensiven  Freundschaft mit einem Opfer und seinen Angehörigen immer näher gekommen. Ich wusste also, wovon ich sprach.

Nicht die Rache bringt Erlösung, nicht die Entlarvung, nicht die Überführung. Etwas von dieser Erlösung bringt ein Mann mit dem Namen Akachukwu. Wie kam es zu diesem Namen?

Akachukwus Charakter ist einem nigerianischen Freund nachempfunden. Sein Name ist das Ergebnis einer Recherche. Ich wollte, dass er bedeutsam wäre, vor allem für Lucas.

Es geht in Ihrem Roman um weit mehr als Pädophilie. Das eigentliche Thema ist „Schuld“. Ein Thema, ein Wort, mit dem die Kirche während Jahrhunderten Angst und Schrecken verbreitete, womit man Menschen zu Schafen werden lassen konnte, weil niemand jenes schwarze Schaf sein wollte, auf das der Zorn Gottes und seiner Kirche mit Sicherheit zielen würde. Ist die Emanzipation aus den Krallen der ewigen Schuldzuweisungen vergeblich?

José Saramago schrieb in seinem Meisterwerk „Das Evangelium nach Jesus Christus“, die Schuld sei wie ein Wolf, der sich durch die Generationen frisst. Ich glaube, Schuld ist ein universales Phänomen, eine Funktion oder ein Reflex unseres Gewissens, unseres Wissens um die Wahrheit über das Richtige und das Falsche, Gut und Böse, Mitgefühl und Egoismus. Wir Menschen werden immer in Furcht davor leben, uns schuldig zu machen, wir werden immer darum kämpfen, unschuldig zu sein, ob mit Kirche oder ohne. Und gleichzeitig werden wir doch immer wieder Schuld auf uns laden, weil wir Menschen sind. Die Beichte ist eigentlich etwas sehr Sinnvolles. Wenn die Kirchenoberhäupter nur nicht aus der Genesis die Erbsünde gebastelt hätten. Ich glaube, die Kinder sind der Beweis dafür, dass wir nicht sündig zur Welt kommen. Und das wiederum ist der Beweis dafür, dass die Sexualität nichts Sündiges ist. Die Erkenntnis von Gut und Böse bringt zwar unweigerlich ein Bewusstsein von Schuld und Unschuld mit sich. Doch ich glaube nicht, dass es jemals einen paradiesischen Zustand gegeben hat, der frei davon war. Ich glaube nicht an den Sündenfall, er ist meiner Meinung nach ein Grund dafür, dass der alttestamentarische Gott in seiner Essenz anders ist als der christliche Gott. Dies und seine Eifersucht, seine Rachsucht. Ich glaube, der christliche Glaube sollte ausschließlich auf dem Neuen Testament basieren. Das wäre auch eine Voraussetzung dafür, dass der christliche Glaube sich weiter entwickeln kann.

Die katholische Kirche befindet sich hier natürlich in einem Dilemma: Sie kann nicht auf das Alte Testament verzichten, und deshalb kann sie die Beichte nicht zu einer echten Reinigung von aller Schuld entwickeln. Das wäre aber etwas sehr Gutes. Ich glaube, die Aufgabe des Priesters besteht nicht darin, die Sünden seiner Schutzbefohlenen zu kennen, sondern ihnen ein Ritual zu geben, mit dessen Hilfe sie sich von ihren Schuldgefühlen befreien können – mehr wie ein Schamane und weniger wie ein Therapeut ohne Ausbildung und ohne Handhabe, was sie bis heute leider geblieben sind.

Steven Uhly, 1964 in Köln geboren, ist deutsch-bengalischer Abstammung. Er studierte Literatur, leitete ein Institut in Brasilien, übersetzt Lyrik und Prosa aus dem Spanischen, Portugiesischen und Englischen. Sein Debütroman »Mein Leben in Aspik« ist 2010 und »Adams Fuge«, ausgezeichnet mit dem Tukan-Preis, ist 2011 bei uns erschienen. »Glückskind« (2012) wurde zum Bestseller und von Michael Verhoeven für die ARD verfilmt.

Beitragsbild © Matthias Bothor