Rückblick: Andri Beyeler eröffnete das 11. Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

Don Quijotes Kampf gegen Windmühlen stand damals für den aussichtslosen Kampf der untergehenden Aristokratie des 17. Jahrhunderts gegen den «technischen Fortschritt». Kämpft ein Literaturfestival diesen Kampf im 21. Jahrhundert? Den Kampf gegen den blossen Konsum, gegen die Berieselung, das frühlingshafte Wetter, gegen die Übermacht all dessen, was in einer Stadt wie St. Gallen sonst noch läuft?

«Wörter können ihre Bedeutung verändern», sagte Christine Lötscher, freie Literaturkritikerin und Rednerin an der diesjährigen Eröffnungsfeier. Genau das macht Literatur aus, unterscheidet sich von Journalismus und Geschichtsschreibung, zumindest in ihrer ursprünglichen Idee. Aber von Geschichtsschreibung bis Geschichten schreiben sind es nur ein paar wenige Buchstaben. Literatur pflegt den Fake bis zur Vollkommenheit, aber Fake ist noch lange nicht Literatur. Literatur spielt mit Inhalt, Sprache, Text und Wort.

Ideales Beispiel dafür, wofür das Wortlaut steht, für die Verbindung von «klassischer» Literatur, Comic, Kabarett, Spoken Word und Illustration war der diesjährige Starter Andri Beyeler am 11. Literaturfestival. Ein Text wie ein Trommelfeuer, vorgetragen von einer Schauspielerin, illustriert vom Autor selbst, geschrieben wie ein Theater, Kleinstadtmythen, die sich in einem Gasthaus in existenzielle Intensitäten hinaufschaukeln. Andri Beyeler, der bisher vor allem für die Bühne schrieb und dessen Text sich auch als Buch erst dann entfaltet, wenn er laut und mit viel Dynamik gelesen wird, schuf mit «Mondscheiner» ein aussergewöhnliches Sprachkunstwerk.

Beyeler formuliert das, was sonst im Kopf ausgeblendet wird, gibt den Gedanken jene Spur, die neben dem reinen Erzählen sonst vergessen wird. Andri Beyeler erzählt nicht wie andere sonst, lässt aus, wiederholt, kommentiert, schwingt zu ganz eigener Komik auf, zu einer Sprache, die dem Leben, den Gedanken, nicht unbedingt dem Denken und schon gar nicht der Struktur huldigt, schwingt sich zu Witz auf, der in seiner Beyeler’schen Entfaltung ganz eigen ist und wirkt.

Andri Beyeler ist Theatermann, badet in seinem Text über drei Figuren in einem Kleinstadtkosmos, genauso in Sprache wie in Auslassungen, Wort- und Sprachspielen, feinen Kommentaren, durchaus gesellschaftskritisch, sehr oft beissend und entlarvend, spielt mit der Dramatik des Alltags, mit dem, was sich im Alltäglichen an Dramatischem abspielt, den Bildern «dazwischen», jenen Momenten, wo andere während des Sehens blinzeln.

Andri Beyeler, geboren 1976 in Schaffhausen, lebt in Bern. Mitglied der freien Tanz-Theater-Gruppe Kumpane. Mehrere Theaterstücke, Bearbeitungen und Übertragungen. 2017 wurde er von der Stadt Bern mit dem «Welti-Preis für das Drama» ausgezeichnet.

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Am Samstag Nachmittag war ich als Moderator engagiert. Hier einige Eindrücke:

Lesung im «Raum für Literatur» in der Hauptpost St. Gallen mit Anna Stern und ihrem bei Salis erschienenen Roman «Wild wie die Wellen des Meeres»,
mit der Lyrikerin und Essayisten Monika Rinck aus ihrem bei kookbooks erschienen Lyrikband «Alle Türen»
und mit Daniela Krien, die aus ihrem zweiten, bei Diogenes erschienenen Roman «Die Liebe im Ernstfall» las.

Der Illustrationskiosk: Eine interaktive Maschine am Wortlaut Literaturfestival

Vier junge Studentinnen und Studenten der Hochschule Luzern Fachrichtung Illustration nahmen im Wortlaut Literaturfestivalzentrum in der Focacceria in der Webergasse St. Gallen Zitat, Sätze und Romantitel entgegen, um sie innert kürzester Zeit in eine Illustration zu verwandeln.

Jana Siegmund, Julia Trachsel, Lea Frei und Alain Schwerzmann zeichneten während mehr als sechs Stunden was das Zeug hielt. Geworden sind eine Vielzahl kleiner Kunstwerke und ebenso viele glückliche Besitzerinnen und Besitzer. Hier eine winzig kleine Auswahl:

«Der fünfundzwanzigste Januar hatte eine Welle ausgelöst, die auch uns erfasste und vier Tage später nach Hause aufbrechen liess.» Erster Satz von Laura Vogts Roman «So einfach war es also zu gehen», gezeichnet von Lea Frei
«Schandbriefe» Roman von Andrea Gerster, gezeichnet von Alain Schwerzmann
«Lesen hilft immer.» gezeichnet von Alain Schwerzmann
«Wir weben den Teppich den Teppich des Lebens, fliessen ineinander. Alles ist miteinander verbunden.» gezeichnet von Jana Siegmund
«Ich machte vieles richtig, weil ich meiner Freude folgte, dem, was mich begeisterte.» (Daniela Egger), gezeichnet von Julia Trachsel
«Elefantenscharen, alte Kriegslöwen! Finstre Fische aus den Meerestiefen» (Valèrie Novarina) gezeichnet von Lea Frei

Anna Stern «Wild wie die Wellen des Meeres», Salis

Ava hat sich abgesetzt. Was formell ein Praktikum in einem schottischen Naturschutzgebiet ist, ist eigentlich die Insel, auf die sich Ava absetzen will, um ein neues Leben zu beginnen, all jene Fragen für sich zu beantworten, die die «untergegangene» Heimat nicht mehr beantworten konnte. «Wild wie die Wellen des Meeres» macht die Gischt spürbar, das Salz auf den Lippen, den Schmerz des Verlorenen und die Sehnsucht nach Liebe und Ordnung.

«Wild wie die Wellen des Meeres» ist ein Sedimentroman, der beim Lesen Schicht um Schicht freilegt, als sei ich der Archäologe, als würde ich die Stein gewordenen Wurzeln eines Lebens freilegen, Wurzelfaden um Wurzelfaden.

Ava ist schwanger, erfährt dies erst kurz bevor sie nach Schottland abreist. Aber sie reist trotzdem. Sie braucht Distanz zu einem Leben, dass sich in der Enge verkeilt hat. Distanz zu Paul, dem werdenden Vater, dem Mann, der nicht zu ihrem Mann an ihrer Seite werden kann, solange die Geister der Vergangenheit sie nicht in Ruhe lassen. Distanz zu ihrer Familie oder dem, was davon übrig geblieben ist, dem Tod ihrer Mutter, dem Unfall ihres Vaters und den Beinahekatastrophen um ihre jüngeren Geschwister. Distanz vor dem Gefühl, viel mehr als Heimat verloren zu haben. Distanz zu Therapie und Zwängen, aus denen sie sich nur selbst befreien kann.

Ich bin manchmal nicht ich, sagt Ava, es tut mir leid.

Die Feldstation des Reservats (Das Beinn Eighe National Nature Reserve) liegt unweit des kleinen schottischen Dorfes Kinlochewe an der Westseite des Landes mit Sicht auf Loch Maree. Ava will dort Ruhe finden, um einen Weg, vielleicht einen Ausweg zu finden. Gegen den Willen fast aller, trotz der Bedenken Pauls, ihres Freundes, der nicht verstehen will und kann, dass man Probleme gemeinsam lösen kann. Paul ist Polizist, daran gewöhnt und daraufhin geschult, dass man Probleme anpacken soll. Ava und Paul sind seit ewig ein Paar. Ava kam als junges Mädchen in Pauls Familie, ausgesiedelt aus einer Familie, der der Boden entzogen wurde. Paul, zuerst mehr ein grosser Bruder, acht Jahre älter, wird Vertrauter, Freund. Und als Ava Studentin wird, ziehen sie zusammen, in eine kleine Mansardenwohnung. Aber nicht nur die Wohnung wird Ava schnell zu eng. Es ist die Vergangenheit, die sich nicht abschütteln lässt, auch wenn Ava sich den Fragen verweigert.

Sorgen, sagt Ava, ich mag es nicht, wenn man mit Fesseln anlegt.

Ava kämpft. Sie kämpft mit sich und der Entscheidung, ob sie ihr ungeborenes Kind behalten kann oder nicht. Sie kämpft gegen die Geister aus der Vergangenheit, die selbst ihre Träume dominieren. Sie kämpft gegen die Liebe, weil sie ihr nicht traut, weil sie sich fürchtet, damit neuen Katastrophen Platz zu geben. Sie kämpft mit Fragen an Die Welt, ohne je eine Frage an sie selbst zuzulassen. Aber sie kämpft vor allem gegen sich selbst. Ein Kampf, der sie letztlich in Lebensgefahr bringt. Ava will in ihrer Enge Weite spüren, das Meer, dieses verlorenen Gefühl Everything is going to be alright.

Anna Stern schrieb einen facettenreichen Roman, bildstark, verspielt und mit grosser Sogwirkung. Ein Roman, der die Umweltwissenschaftlerin nicht ausklammert, voller Engagement für alles, was Leben bedeutet, für die grossen Fragen der Zeit und die ewig grossen Fragen des Menschseins, Fragen die Ava seit ihrer Kindheit an das Leben stellt. So wie Ava (Avis hiesst Vogel) mit zwei ungleich farbigen Augen sich weder der Vergangenheit noch der Zukunft stellt, so ungleich sind Lee und Luv ihres Lebens, von abweisender Kälte wie die Winde in Schottland bis irritierende Wärme wie unter der Decke zusammen mit Ava. „Wild wie die Wellen des Meeres“, eine Collage aus Realität und Traum, Songtexten und Briefen, Familienfotos und Polaroid-Bildern, Notizen und Erzähltem.

Anna Stern, geboren 1990 in Rorschach, lebt in Zürich. Studium der Umweltnaturwissenschaften an der ETH Zürich. Seit 2018 Doktorat am Institut für Integrative Biologie. 2017 Teilnahme an der Kunstausstellung EAM Science Meets Fiction mit den Kurzgeschichten «Karte und Gebiet» und «Quecksilberperlen». 2014 erschien ihr erster Roman «Schneestill», 2016 «Der Gutachter», in dem Ava Garcia und Paul Faber zum ersten Mal auftauchen (beide Salis). 2017 folgte der Erzählband «Beim Auftauchen der Himmel» bei lectorbooks. Die Arbeit am neuen Roman wurde von der Pro Helvetia und dem Kanton St. Gallen mit Werkbeiträgen unterstützt.

Anna Stern liest an den Wortlaut-Literaturtagen 2019 in St. Gallen, vom 28. – 31. März. Moderiert wird die Lesung von Gallus Frei.

Webseite der Autorin

Beitragsbilder aus dem Roman, mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags. Vielen Dank! © Anna Stern (Titelbild: © Anna Stern, nach leagueoflostcauses.com)

Daniela Krien «Die Liebe im Ernstfall», Diogenes

Paula, Judith, Brida, Malika und Jorinde. Fünf Frauen, fünf Leben, fünf Varianten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Leben zwischen Traum, Entwurf, Realität und Ernüchterung. Eingebetet in eine Gegenwart, die oft nicht dem entspricht, was hätte sein können. Ein Roman wie ein Teppich, dicht verwoben, kunstvoll konstruiert. Ein literarisches Soziogramm. Viel mehr als ein femininer Schicksalsroman.

Als Paula Ludger kennenlernte, wohnte sie schon Jahre mit Judith zusammen. Paula und Judith waren Freundinnen, obwohl sie schon als Teenager grundverschieden waren. Was durch nichts zu brechen war, schaffte die Heirat von Paula und Ludger. Eine Freundschaft zerbricht. Judith ist Ärztin und als „Unberührbare“ dauernd auf der Suche nach dem perfekten Mann. Eine Suche, die längst zum Selbstzweck geworden ist. 

Brida liebt Götz, den Mann, den nichts aus der Ruhe zu bringen scheint, den Fels. Brida ist Schriftstellerin und zerbricht an der Unmöglichkeit, jenes Leben zu führen, das ihr bestimmt sein muss. 

Malika ist die Schwester von Jorinde, die Verschmähte von Götz, die ungeliebte Tochter umtriebiger DDR-Intellektueller. Bis Malika ihre Schwester retten soll, bis sich die Spiesse zu drehen scheinen. Und Jorinde, der einst alles zu Füssen liegen schien, zieht der immer grösser werdende Spagat zwischen Pflichten und Berufung den Boden unter den Füssen weg.

Obwohl Daniela Krien in ihrem zweiten Roman „Die Liebe im Ernstfall“ die Geschichten der fünf Frauen hintereinander erzählt, sind alle Leben, alle Geschichten tief ineinander verflochten. Sie berühren sich nicht einfach wie bei einem Episodenroman, sondern füllen ein Pentagon weiblicher Lebensentwürfe, ein Spannungsfeld zwischen Anziehung und Abstossung, zwischen Liebe und Hass, zwischen eigenem Selbst und unergründlichem Gegenüber.

„Die Liebe im Ernstfall“ ist ein Roman über die Spielarten der Liebe, darüber wie viel Schmerz sich Liebe aufladen kann. Wie aus Liebe Schuld werden kann. Paula verliert ein Kind an den Folgen einer Impfung. Sie verliert Kind und Glück. Judith verliert auch ein Kind, mehr als eines und spürt die Schuld, die sich in ihr Leben schleicht. Brida verliert Götz und das Familienglück mit ihren zwei Kindern, ein Glück das unumstösslich schien. Malika verliert schon früh die Liebe ihrer Eltern, die Liebe ihrer Mutter. Und Jorinde den Platz, der ihr zugesprochen scheint. Liebe ist ein Gefühl. Und Gefühle sind nie in Stein gehauen, auch wenn sie übergross und übermächtig erscheinen.

Obwohl der Titel des Romans, die fünf Frauenleben nach Fallstudie riecht, ist Daniela Kriens Roman mehr als Liebesgeschichte, viel mehr als Fallstudie. Daniela Krien erzählt von fünf Frauen, die im ganz normalen Leben wirklich zu leben versuchen, nicht nur funktionieren und reagieren, sondern agieren. Aber aus Wunsch und Idee wird Krampf und Kampf. Daniela Krien erzählt von Sehnsüchten. Der Sehnsucht nach Liebe zu einem Gegenüber, einem Gegenüber, das versteht und jener Sehnsucht, sich selbst dabei treu zu bleiben. 

Daniela Krien, geboren 1975 in Neu-Kaliß, studierte Kulturwissenschaften und Kommunikations- und Medienwissenschaften in Leipzig. Seit 2010 ist sie freie Autorin, 2011 erschien ihr Roman «Irgendwann werden wir uns alles erzählen», der in 14 Sprachen übersetzt wurde. Ihr 2014 veröffentlichter Erzählband «Muldental» wurde 2015 mit dem Nicolaus-Born-Debütpreis ausgezeichnet. Daniela Krien lebt mit zwei Töchtern in Leipzig.

Daniel Krien liest aus ihrem Roman «Die Liebe im Ernstfall» am 11. Wortlaut Literaturfestival St. Gallen 2019, am Samstag, den 30. März! Weitere Informationen finden Sie auf wortlaut.ch! Moderation: Gallus Frei-Tomic

Beitragsbild © Sandra Kottonau