Sommerfest im Literaturhaus Thurgau

«Der Wod» mit Silvia Tschui & Philipp Schaufelberger und «Textkiosk» mit Laura Vogt & Karsten Redmann

Frédéric Zwicker, Karl Rühmann, Urs Faes, Peter Stamm, Usama Al Shahmani, Michael Hugentobler, Annette Hug, Stefan Keller, Jochen Kelter, Dragica Rajčić Holzner, Annina Haab, Zsuzsanna Gahse, Ivna Zic, Lubna Abou Kheir, Michael Fehr, Thomas Kunst, Christoph Luchsinger, Christine Zureich, Christian Uetz, Charles Linsmayer, Silvia Tschui, Klaus Merz, Isabella Krainer, Lea Frei, Marianne Künzle, Sasha Filipenko, Nora Bossong, Peter Weibel, Rudolf Bussmann, Simone Lappert, Andreas Bissig

Das waren die Gäste in der vergangenen Spielzeit: Prosa, Lyrik, Musik, Installation, Illustration

Die Quellen, aus denen ein Literaturhaus schöpfen kann, sind unermesslich. Das, was kommen wird, wird nicht nur die Besucherinnen und Besucher der einzelnen Veranstaltungen begeistern, sondern auch all jene, die etwas von ihrer Kunst in diesem Haus zum besten geben werden.

Silvia Tschui mit ihrem Roman «Der Wod»

Urs Faes schrieb zum 20. Jubiläumsjahr unseres Literaturhauses:
„Es gibt Schreib-Orte und es gibt Orte des Lesens und beide sind Wort-Orte. Und Orte von Ankunft und vorläufiger Heimat: das ist das Bodmanhaus in Gottlieben für Schreibende, für Lesende, auch für mich. Schreib-Orte sind jene, wo der Text Ort, Gestalt und Sprache findet, eine vorläufige Ankunft: das Schreiben, das gelingt.
Und der Lese-Ort ist jener, wo der Text zum Lesenden findet, zum Dialog, zum Gespräch und damit erst Buch wird: in der Begegnung. 
Gottlieben ist immer beides.

Ein Ort hat immer etwas Unverwechselbares, ein besonderes Licht in der Dämmerung, ein Duft von See und Grenze, eine Verfärbung der Erde, ein Ufer mit Schattenspiel, Wasser, wo Schiffe treiben, ein Haus mit knarrenden Treppen und Atmosphäre von alten Schriften und sirrenden Balken, die Atmosphäre des Besonderen – Magie, die zum Bleiben einlädt.
Erwartungsvoll gespannte Gesichter von Lesenden und Hörenden.
Das alles hat das Bodman-Haus in Gottlieben, diesen Hauch von Grenze und grossen Dingen, von Verheissung und Magie. Und es ist alles: Ist Schreib-Ort, wo einer Sprache finden kann, Lese-Ort, wo Lesende Lauschende werden, Sehnsuchtsziel und ein wenig Wallfahrt: zu Schreibenden und Büchern, zu Begegnungen und Gesprächen, ein Ort zum Finden des Eigenen im Fremden.»

Zusammen mit Urs Faes machte ich manchen Spaziergang. Schreiben und Lesen in diesem Haus ist ein Geschenk. Nicht nur für Urs Faes. Mit allen Gästen, die hier wirken mit denen ich ins Gespräch kam, schwärmen diese von den Besonderheiten, der Magie dieses Ortes. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit der Schriftstellerin Mercedes Lauenstein, die sich zum Schreiben für ein paar Wochen in diesem Haus einquartierte. Sie erzählte davon, wie sehr dieses Haus zu einem Resonanzraum werden kann, Empfindungen verstärkt, dem Stillen eine Stimme geben kann.
Vielleicht wirkt ja noch etwas von dem Geist, den Emanuel von Bodman vor mehr als 100 Jahren erwirken wollte, gingen doch damals schon Dichter wie Rainer Maria Rilke oder Hermann Hesse in diesem Haus ein und aus. Es sollte ein Ort der Begegnung sein, ein Ort der Muse, ein Ort des gegenseitigen Beschenkens.

Silvia Tschui & Philipp Schaufelberger

Das Literaturhaus Thurgau ist ein Leuchtturm in der Literaturlandschaft Schweiz. Ein unverzichtbarer, ein weit in die Ferne leuchtender.

Auch wenn mich im Gespräch mit durchaus Leseinteressierten immer wieder die Überraschung trifft, dass viele von der Existenz dieses Hauses gar nicht wissen, bin ich überzeugt, dass wir in diesem Kanton mit diesem Haus allen Grund hätten, uns mit geschwellter Brust in der Kulturlandschaft Schweiz zu positionieren. Nicht nur weil die Bodman-Stiftung und der kleine Kanton Thurgau seit 22 Jahren ein eigenes Literaturhaus tragen, sondern weil die Liste derer, die in diesem Haus lasen, für mich als Literaturliebhaber und -geniesser mehr als beeindruckend ist. Weil ich jedes Mal, wenn ich im Haus oder ums Haus bin, wenn ich Menschen durch die Räume führe, wenn sich alles aufs Wort fokussiert, spüre, dass dieser Ort, dieses Haus ein Kraftort ist.

Klar wünschte ich diesem Haus mit jeder Veranstaltung ein volles Haus, ein Publikum, das sich auf Abenteuer einlässt. Klar weiss ich, dass mit den Geschehnissen in den vergangen zwei Jahren viele, vor allem ältere Stammgäste dieses Hauses, aus lauter Vorsicht den Weg nach Gottlieben nicht mehr so oft oder gar nicht mehr auf sich nehmen. Umso mehr danke ich ihnen, die sie hier sind und mit uns dieses kleine Sommerfest feiern. Dass sie hier sind und dem Haus mit jedem Besuch die Ehre erweisen, auf dass es seinen Platz in der Kulturlandschaft rechtfertigen kann, auch wenn Medien kaum Notiz von dieser Quelle nehmen.

«Textkiosk» mit Laura Vogt & Karsten Redmann

An diesem Sommerfest bieten wir ihnen ein ganz besonderes Geschenk, nicht nur Speis und Trank, sondern Literatur in vielfacher Form und Musik. Um 20 Uhr mit Lesung und Konzert mit Silvia Tschui und Philipp Schaufelberger, die ihnen bereits eine Kostprobe gaben und bis 20 Uhr mit dem Textkiosk, mit und von Laura Vogt und Karsten Redmann. Laura Vogt, die mit ihrem letzten Roman „Was uns betrifft“ schon einmal Gast hier war und Karsten Redmann, der mit dem Erzählband „An einem dieser Tage“ Vorfreude auf seinen Roman schürt, schreiben für sie im «Textkiosk“ Texte. Besuchen sie den Tisch mit den beiden SchriftstellerInnen. Erstehen Sie sich kostenlos ein Unikat, ein literarisches Kleinod, ein ganz besondere Erinnerung an den denkwürdigen Sommer 2022. Seien Sie mutig! Zwei, drei Wörter an die beiden und ihr Schreibmaschinengeklapper geht los. Und natürlich dürfen Sie den beiden über die Schulter gucken. Wenn hat man schon die Gelegenheit, SchriftstellerInnen bei ihrer Arbeit zuzuschauen!

Zum Schluss, liebe Gäste, möchte auch ich danken. Zum einen der Bodman-Stiftung, seinen Stiftungsräten, bei der Kulturstiftung Thurgau, dem Kulturamt Thurgau, bei Sandra Merten, der Buchbinderin im Erdgeschoss für die Betreuung der Webseite und die Freundlichkeiten allen Gästen des Hauses gegenüber. Ganz besonders aber Brigitte Conrad, die für dieses Haus viel mehr als eine Sekretärin ist. Brigitte Conrad ist das Rückgrat dieses Hauses. Ich verneige mich.

Und dann ganz zum Schluss: Das neue Programm ist in Druck. Wenn Sie es erhalten, tragen Sie es hinaus zu all jenen, die nicht einmal wissen, dass in Gottlieben der Nabel der Muse zu finden ist. Und vergessen sie nicht: Das aktuelle Programm bietet im September drei ultimative Highlights!

Geniessen Sie die Perlen!

Gallus Frei-Tomic, Programmleiter Literaturhaus Thurgau

Lukas Maisel «Tanners Erde», Rowohlt

„Buch der geträumten Inseln“ war sein furioses Debüt! Und nun liegt mit „Tanners Erde“ eine Novelle von Lukas Maisel bereit, der ich ein Heer von LeserInnen wünsche. Ein kleiner Hof im hügeligen Irgendwo. Und dann, mit einem Mal, tut sich die Erde auf.

Tanner ist Bauer. So wie es sein Vater war. Ein Kleinbauer irgendwo im Alpenvorland; ein paar Kühe, ein bisschen Getreide, immer Arbeit. So viel, dass es immer reichte für Marie und ihn. Vielleicht versteht Tanner seine Kühe besser als seine Frau Marie. Wenn das Vreni im Stall eine harte Zitze hat, weiss er genau, was es braucht, um der Kuh zu helfen. Aber gegen das stille Zusammensein mit seiner Frau, das alltägliche Einerlei des Alltags in Stube und Bett ist kein Kraut gewachsen. Wahrscheinlich wäre alles wie immer seinen Lauf gegangen, wenn eines Morgens der Kirschbaum in der Weide vor dem Haus nicht schief gestanden, wenn nicht in der Folge alles in Schieflage geraten wäre.

Huswil liegt abseits und Tanners Hof noch etwas mehr. Das ändert sich komplet, als sich in Tanners Weide über Nacht zwei Löcher öffnen, das eine gross, mehr als fünf Meter breit, das andere etwas kleiner. Zwei schwarze Löcher in Tanners Erde. Was sich da auftut, kann Tanner nicht fassen, denn das einzig Beständige waren bisher immer die Weiden und Wiesen, die Äcker und Hügel auf denen Tanner sein ganzes Leben verbrachte. Die Erde wankt nie. Und jetzt, mit einem Mal, von gestern auf heute, bricht sie weg, macht sich auf in schwarze Untiefen. Und über Löcher spricht man nicht, so wie man auch über die Löcher in Körpern nicht spricht.

Lukas Maisel «Tanners Erde», Rowohlt, 2022, 115 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00308-1

Tanner sperrt die Wiese um die Löcher ab. In seiner Stube und im Schlafzimmer hat er das mit seiner Marie schon lange vorher getan. Auch wenn er sie noch immer liebt. Dabei hat der Frühling gut begonnen, galoppieren Tanners Kühe wie jedes Jahr wild springend auf die fetten Matten, nachdem sie während Monaten im halbdunklen Stall den Winter wörtlich durchstanden. Und nun? Tanner traut sich nicht einmal mehr, mit seinen Maschinen sein Land zu befahren, Gras einzuholen. Tanner traut sich auch nicht, Marie von seinen Löchern zu erzählen, nicht bloss von denen, die sich auf der Wiese auftun. 

Sind die Löcher Strafe? Tanner geht zur Polizei, Tanner geht in den Staubigen Esel, den Gasthof in Huswil. Tanner geht zum Pfarrer. Tanner geht zur Gemeindevorsteherin. Aber Tanner ahnt, dass er sich nur selber helfen kann. Irgendwann klingelt das Telefon, man habe da von Löchern auf seinem Grundstück gehört, ob man für einen Exklusivbericht zusammenkommen könne. Dann sind es Wissenschaftler, die sich abseilen lassen, die Messungen machen, dann ist es das Fernsehen, irgendwann sogar solche aus dem Ausland.

„Das Loch kommt aus dem Nichts, es ist ja selber ein Nichts: ein Nichts aus dem Nichts. Tanner wird fast schwindlig von so viel Nichts.“

Im Stall beginnen die Tiere zu hungern. Marie rückt immer weiter weg, weil Tanner nicht in Worte fassen kann, was mit ihm geschieht. Da sind die schwarzen Löcher auf seiner Wiese. Aber es öffnet sich auch ein schwarzes Loch in seinem Innern. Ein Loch, mit dem er ganz alleine bleibt. Ein Loch, das immer mehr alles Licht zu schlucken droht.

Lukas Maisels Novelle ist ein Juwel. Selten habe ich so zärtlich Erzähltes gelesen! Kein Schmalz, kein Kitsch, auch kein Gotthelf-Verschnitt. Lukas Maisel erzählt gradlinig, eindringlich, lässt viel Platz für die verschiedensten Lesarten und Interpretationen. Es öffnen sich Metaphern, die sich niemals anbiedern. Es ist nicht die Geschichte des armen Bauern. Aber die Geschichte von Sicherheiten, die mit einem Mal wegrutschen, die ein Leben unkorrigierbar aus den Angeln heben. Es ist die Geschichte eines Verlorenen, eines Gefangenen, den der Sog eines schwarzen Lochs in den Abgrund zieht.

„Er würde wohl kaum irgendwas anders machen, wenn er sein Leben noch mal leben könnte. Ausser vielleicht die Marie häufiger auf die Stirne küssen.“

„Tanners Erde“ ist der Beweis, das schwergewichtige Literatur nicht an der Anzahl Seiten gemessen werden kann. Diese Novelle liest man gerne immer wieder, weil unsäglich viel Güte darin liegt, sei es jene des Erzählers oder jene des verzweifelnden Bauern! Danke Lukas Maisel!

© Sandra Kottonau

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, machte eine Lehre zum Drucker, bevor er am Literaturinstitut in Biel studierte. Für seinen ersten Roman «Buch der geträumten Inseln» erhielt er einen Werkbeitrag des Kantons Aargau, den Förderpreis des Kantons Solothurn und zuletzt den Terra-nova-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung.

Lukas Maisel «Ewiger Wanderer», Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Internationales Literaturfestival Leukerbad 2021

Das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Thurgau

Vielleicht können Sie sich eine Vorstellung davon machen, wie viel Freude, Erwartung, Stolz und Leidenschaft die Lancierung eines neuen Programms bedeutet! Neun Autorinnen und Autoren, zwei Musiker, Künstlerinnen und Künstler aus fünf Ländern, aus Weissrussland, Österreich und Tschechien zugleich, Deutschland und der Schweiz. Ein Programm, dass sich mit Prosa, Lyrik, Sachthemen und Musik auseinandersetzt, das Lesungen, Diskussionen, Konzerte, Performances präsentiert, das Literatur in den Mittelpunkt aktueller Auseinandersetzungen führt und zusammen mit einem wachen Publikum zur Konfrontation ebenso wie zum Genuss einladen will.

Liebes Publikum, liebe Stammgäste, liebe Begeisterte für Literatur, Musik und Kunst, Sie sind herzlich eingeladen! Nehmen Sie Freundinnen und Bekannte mit! Zeigen Sie Ihnen das schmucke Literaturhaus am Seerhein! Feiern die mit uns das Sommerfest am 20. August, an dem sie nicht nur musikalisch und literarisch verwöhnt, sondern ebenso zu Speis und Trank eingeladen werden.

Mir freundlichen Grüssen im Namen der Thurgauischen Bodman Stiftung Gottlieben, der seit mehr als zwei Jahrzehnten wirkenden Stiftungssekretärin Brigitte Conrad und des Programmleiters Gallus Frei-Tomic

Silvia Tschui «Vögel, frittiert»

Bei 36 Grad fallen einem Vögel tot vor die Füsse. Wenn einem wieder mal ein Vogel vom Himmel tot vor die Füsse fallen würde, denkt man, das wäre schön. Das wäre schön, denkt man, während man neben dem Grab eines Schriftstellers sitzt und auf die Hitze wartet, weil man dann am Anfang der ganzen Misère stünde. Und man wüsste noch nicht, was kommen wird, und man würde denken, oh, seltsam und irgendwie apokalyptisch, ein Vogel fällt tot vom blauen Himmel vor meine Füsse, und es würde einen nur ein leichtes Grauen befallen, statt dass es sich einem längst in jeden Knochen und jede Zelle gebohrt hätte. Und man würde nicht da sitzen und auf die letzte Hitze warten. Bei 27 Grad beginnt man schon leicht zu schwitzen. Und man hätte in diesem Moment vielleicht noch etwas tun können, wirklich etwas tun.

Und ausserdem hätte man etwas Frisches zu essen, so wie die Libanesen und Italiener in ihren Wäldern die da jeweils sassen, auf so Hockern, mit ihren Luftgewehren und auf alles schossen, was sich bewegte, also in der Luft, klitzekleine Singvögelchen, die sie dann frittierten. Wenn man etwas frittiert, binden sich die Proteine, und mit Haut und Haar, nein mit Schnabel und Feder frassen sie sie auf, zuhauf, und man hat sich damals, als man noch reiste, gefragt, weshalb die das tun, weshalb die so stolz ihre Gewehre schwangen, weshalb die das tun, so zum stupiden Sport, und man hat sie verachtet. Wenn doch die Supermärkte voll sind, mit Fleisch und Tomaten und Gurken und Wassermelonen.

Auch Jahre später, als einem ein Vögelchen nach tagelanger Hitze tot vor die Füsse fällt, sind die Supermärkte voll mit Tomaten und Gurken und Wassermelonen unter Neonlicht, und es packt einen eine Ahnung dieses Grauens, draussen dörren Felder unter blauem Himmel vor sich hin, wochenlang schon, und Bauern erschiessen sich und der hartbackende Boden zeigt Risse wie man sie früher auf Hungerbildern in Äthiopien auf diesen Hilfekatalogen gesehen hat, die zu Weihnachten in Unmengen unsere Briefkästen fluteten, erst hochglanz, später politisch korrekter auf mattem Papier, draussen hat es geschneit und jetzt gibt es keine mehr.

Keine Post, bestimmt keine Äthiopier, wahrscheinlich kaum mehr Italiener und Libanesen, keinen blauen Himmel, keine kleinen Singvögelchen, die sangen vorher schon kaum mehr, frittiert haben sie sie, trotz Tomaten, Wassermelonen und Gurken in Supermärkten und ich habe mich gefragt warum nur, und sie verachtet, und später im Supermarkt ein Huhn gekauft, mit Zitronen, die es nicht mehr gibt und Tomaten, die es nicht mehr gibt, und Oliven, die es auch nicht mehr gibt, in einem Ofen gebacken, und später war man froh, wenn die Temperatur Abends unter dreissig Grad gefallen ist, und hat darauf mit Weisswein auf einer Terrasse unter blauem Himmel angestossen, und auf das Huhn, und war guter Dinge und hat Musik gehört und Geschichten erzählt und in die blauen Augen von einem Mann geschaut, hinter ihm der See, so dass man dachte, man schaue durch diese Augen dieses Mannes direkt in die grosse Abendbläue, und das war schön.

Als es die Farbe Blau noch gab, blau, ein Wort, das die Jüngeren nicht mehr kennen, genausowenig wie grün, als die Sonnenuntergänge zuerst so richtig kitschig schockpinkorange rot wurden und man das noch schön fand, bevor sich auch tagsüber zunehmend eine Art bräunlicher Schleier über den zunehmend nicht mehr so blauen Himmel legte, das Methan, sagten die Zeitungen, und einige Zeit lang gab es dann diese Vollspektralglühbirnen, dass man den Kindern immerhin in Bilderbüchern zeigen konnte, wie das Meer und der Wald einst ausgesehen hatten und man hat ihnen vorgeschwärmt, wieviele Abstufungen von Blau und Grün es gegeben habe, Türkis und Moosgrün und Petrolgrün und Flaschengrün und Apfelgrün und Ceruleumblau und Ultramarin wie nur schon der See, an dem man wohnt, jeden Tag eine andere Farbe gehabt habe und wie schön das ausgesehen hat im Frühling mit dem blauen See unter dem blauen Himmel hinter dem unglaublich frischen Grün dieser Bäume, deren Namen man vergessen hat, diese Bäume, die einst das ganze Mittelland bedeckten, und dass der See eigentlich blau war, und nicht braun, dass der Himmel blau war und die Sonne gelb, dass Wolken weiss waren, und jetzt kennen die Kinder unserer Kinder die Wörter «blau» und «grün» nicht mehr, weil es auch diese Vollspektrallampen längst schon nicht mehr gibt, schon bevor es auch keine Elektrizität mehr gab, und wir haben aufgehört zu erzählen, von Meer und blauem Himmel und Vögeln die flogen, als wären sie schwerelos, weil die Wörter den Jüngsten nichts mehr bedeuten, sie können sie nicht fassen, und uns schmerzen sie zu sehr, und man lacht, wenn auch bitter, man lacht sowieso oft nur noch bitter, wenn man daran denkt, wie man sich
über Konnotationen und Denotationen von Wörtern gestritten hat in Seminaren und wofür das Wort blau alles stand, und wie ist etwa der grösste Teil deutscher Dichtung noch verständlich wenn es etwa keine blauen Blumen mehr gibt?

Wie sie etwa der Schriftsteller beschrieben hat, neben dessen Grab man jetzt sitzt, ohne Gewehr, man braucht es nicht mehr, und auf die letzte Hitze wartet, sonst wären sie nie gegangen, die Kinder, die keine mehr sind, und deren Kinder, die die Wörter «grün» und «blau» nicht mehr kennen, und für die die Konserven nun vielleicht reichen bis in den Norden, wo es noch regnen soll, sagt man sich, und den man vielleicht erreicht, wenn man nur nachts wandert und tagsüber einen Unterschlupf findet, denn ab siebenunddreissig Grad verlangsamt sich der Herzschlag und man kann nicht für längere Zeit wandern, ohne sich der Gefahr eines Hitzschlags auszusetzen.

Man wartet auf die Hitze unter einem beigen Himmel, neben dem Grab des Schriftstellers, der die blaue Blume beschreiben hat, sie stand für Sehnsucht, und man hatte nie eine Chance, wir hätten nichts tun können, in einem System, das auf Fressen ausgelegt ist, mit endlichen Grundstoffen, auf kleinster biologischer Ebene schon, jeder Mikroorganismus, der einen anderen frisst, hat einen Vorteil, und dann entwickeln sich Belohnungswechselwirkungen in Hirnen, die einem Glückshormone verschaffen, wenn man ein Vögelchen vom Himmel schiesst, oder die Zähne in einen Hühnerschenkel rammt, und man hat noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei, bei 39 Grad erweitern sich die Blutgefässe, man hatte keine Chance, weil man sich wahlweise gute oder rachevolle Überväter ausdenkt, die einem vom blauen Himmel herunter lächelnd zunicken und sagen, jaja, macht Euch die Erde untertan, denn inmitten aller kreisenden, glühenden oder längst toten Sterne und Nebel und Planeten ist es wichtig, dass Du, genau Du unter einem blauen Himmel deine Zähne in einen Hühnerschenkel rammst, und bei vierzig Grad beginnen bald Halluzinationen. Und man denkt nicht, wenn sich einer so eine Scheisse ausgedacht hätte, so ein krasser systemimmanenter Fehler, gehörte der gefoltert, bis ans Ende der Zeit gefoltert, weil die Wahrheit ist: Man hätte nichts tun können, nichts, man hatte nie eine Chance, mit Belohnungssystemen im Hirn, die und auf die Schulter klopfen wenn wir Vögelchen vom Himmel schiessen, und satt werden wir doch nie, ab einundvierzig Grad beginnen die Eiweisse in unseren Körpern sich zu binden, und da steht der Mann, seine Augen sind blau, ich sehe durch seine Augen direkt in die grosse Abendbläue, Ceruleum und Ultramarin und Türkis, und das ist schön, und die Kinder werden in der Nacht losgehen, nach Norden, der Schriftsteller steht daneben und sie nicken mir zu und niemand hätte rein gar nichts tun können und die Felder sind grün, moosgrün, apfelgrün, flaschengrün, ich bin ein Vogel, ich bin ein Vogel und ich fliege und ich singe und das ist schön.

(Originaltext erstmals erschienen 2022 in «20/21 Synchron» von Charles Linsmayer. Ein Lesebuch zur Literatur der mehrsprachigen Schweiz von 1920 bis 2020. Reprinted by Huber Bd. 40)

Silvia Tschui wird im August zusammen mit dem Musiker Philipp Schaufelberger (Gitarre) Gast beim Sommerfest des Literaturhauses Thurgau sein!

Silvia Tschui wurde 1974 in Zürich geboren. Sie studierte ein paar Semester Germanistik, absolvierte die Fachklasse Visuelle Gestaltung an der ZHdK und erwarb 2000 das Lehrdiplom Oberstufe. 2003 machte sie ihren Bachelor in Grafikdesign und Animation an Central St. Martins College in London und arbeitete vier Jahre als Animationsfilm-Regisseurin bei RSA Films in London. 2004 wurde ihre Arbeit für den British Animation Award nominiert. Zurück in der Schweiz arbeitete sie als Grafikerin, Journalistin und Redaktorin und schloss 2011 ihr Studium am Institut für literarisches Schreiben mit dem Bachelor ab. Zurzeit arbeitet sie als Redaktorin in Zürich bei Ringier.
Ihr erster Roman «Jakobs Ross» wurde mit dem Anerkennungspreis des Kantons Zürich ausgezeichnet und von Peter Kastenmüller fürs Theater Neumarkt adaptiert. Eine Verfilmung des Stoffs ist bei der Produktionsfirma Turnus Films in Arbeit. Ihr zweiter Roman «Der Wod» wurde von der Stadt Zürich 2017 mit einem halben Werkjahr gefördert. 2019 war sie damit für den Ingeborg Bachmann Preis nominiert (Videoportrait).

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Max Annas «Der Hochsitz», Rowohlt

Manchmal werde ich für meine Weigerung, Krimis zu lesen, bestraft. Obwohl man mit der Gattungsbezeichnung „Krimi“ im Fall von Max Annas Büchern wohl nicht gerecht wird. „Der Hochsitz“ ist eine Gesellschaftsanalyse der späten Siebziger, stierem Spiessbürgertum und der allgegenwärtigen Angst vor dem Bösen, die nicht nur bei den Nachbarn oder weit weg stattfinden kann.

Frühlingsferien 1978 in einem kleinen Nest in der Eifel, nahe an der Grenze zu Luxemburg. Sanne und Ulrich sind elf und haben Zeit, unendlich viel Zeit. Wenn sie nicht auf „ihrem Hochsitz“ über ihrem Dorf sitzen, dann streifen sie durch den Ort, auch mal in den kleinen Laden von Trines, die sie Hanukas klauen lässt, in denen immer ein Bildchen von der kommenden Fussballweltmeisterschaft in Argentinien steckt. Die Jungs im Dorf bekommen sogar mehr Taschengeld, um ihre Alben mit den Fussballern zu füllen. Sanne und Ulrike klauen sie und kleben sie oben auf ihrem Hochsitz in ein getarntes Heft. Voll wird es nicht werden, schon gar nicht in diesen Frühlingsferien. Und weil es neben Ronnie Worm, Rudi Kargos, Harald Konopka, Hansi Müller, Rainer Bonhof und Karl-Heinz Rummenigge noch Platz hat, kleben sie auf die leeren Stellen die ausgeschnittenen Gesichter vom RAF-Fahndungsplakat, das sie ebenfalls geklaut haben. Aber es sind nicht nur die Gesichter der Fussballer und Terroristen, die in diesem Frühling die sonst tote Zeit füllen.

Max Annas «Der Hochsitz» Rowohlt, 2021, 272 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00208-4

Im Nachbarort passiert ein Banküberfall und eines Nachts, Ulrike übernachtet bei Sanne, beobachten die beiden Mädchen in einer durchquatschten Nacht auf der Strasse vor dem Haus, wie ein Mann von seinem Motorrad kippt und eine Gestalt in Mantel und Hut mit einem Gewehr den am Boden liegenden exekutiert. Aber Sanne und Ulrike bleiben auf dem hocken, was sie gesehen haben und erzählen wollen, denn niemand glaubt ihnen, nicht einmal die Mütter, die Väter schon gar nicht. Wer glaubt schon kleinen Mädchen. Zudem fährt seit ein Paar Tagen ein übergrosser Cadillac durch die Dörfer an der Grenze. Betont langsam und immer wieder an Orten Pause machend, an dem das unpassende Gefährt gesehen werden muss. Ein Mann, der im Fond sitzt, lässt sich von Hof zu Hof chauffieren und bietet den Besitzern für Haus und Grund Summen, die träumen lassen, die einen von einer rosigen Zukunft, die anderen über die Gründe, warum der Mann noch nicht auftauchte oder dem einen viel mehr bieten sollte als ihnen.

Es kocht im Dorf, in dem sonst nie etwas passiert. In dem jede und jeder jede und jeden kennt, ausser die Hinzugezogenen. In einem Dorf, in dem  alle fast allen alles zutrauen. Der verrückten Gaby Teichert, die schon seit Jahren allein im Haus am Bach lebt und immer wieder mal nur in Mantel und Schlapfen an den Füssen zum Bach geht, um sich platt Gesicht voran ins kniehohe Wasser zu schmeissen. Vor Jahren fuhr ihr einziger Sohn ohne zu bremsen gegen einen Baum und der Mann weg. Aber ganz bestimmt die Peters vom Petershof. Die drei Brüder, von denen der jüngste Peter heisst, die aber auf dem Hof schon lange nichts mehr auf die Reihe bringen, es zuerst mit Zigarettenschmuggel versuchten, um dann später härteres Zeug über die Grenze zu bringen. Und als man wegen des Banküberfalls den langhaarigen Lehrling, der noch nicht lange frisch im Dorf wohnt und den jungen Frauen den Kopf verdreht, festnimmt, wo doch Sanne und Ulrike in einer Scheune ganz deutlich sahen, dass dieser sich mit ganz anderen Dingen leidenschaftlich beschäftigte, ist für die beiden Mädchen klar, dass die den Geheimnissen im Dorf auf die Spur kommen wollen. Auf ihre Art und Weise. Denn elfjährige Mädchen sieht man nicht.

Max Annas ist einer, der in seiner Hexerküche sitzt und mit List und grenzenlosem Vergnügen an den vielen kleinen Feuern werkelt, über denen die giftig explosiven Tinkturen köcheln, von denen ich als stiller Betrachter nie weiss, wann ihre schlummernde Gewalt ausbricht. Max Annas experimentiert mit den Untiefen menschlichen Seins in einem Dorf „am Ende der Welt“. In diesem kleinen Dorf in der Eifel, in dem jedes fremde Auto wie ein Eindringling wahrgenommen wird, hat Max Annas Lunten ausgelegt, verschlungen und versteckt, die alle gleichzeitig brennen, von denen ich als Leser genau weiss, dass irgendwo Dynamitstangen liegen, die zu explodieren drohen. „Der Hochsitz“ ist ein literarischer Flickenteppich, der sich vor meinen Augen zusammenwebt, der mich atemlos und fasziniert lesen lässt, weil der Roman viel mehr ist, als ein „Krimi“ aus Sicht des Ermittlers.

Wenn ich nun eines sicher weiss: Es gibt noch mehr von Max Annas!

Interview:

Obwohl ich noch nie in der Eifel war, bin ich es literarisch immer wieder. Erst mit den Romanen von Norbert Scheuer, den ich sehr verehre und nun mit Ihnen. War es einfach die nahe Grenze zu Luxemburg? Der ideale Kontext? Maximale Provinz? Oder doch eigene Erfahrungen, waren sie doch 1978 wenig älter als die beiden Mädchen Sanne und Ulrike?
In dem (fast) nicht genannten Dorf, in dem die meisten Kapitel spielen, ist meine Partnerin aufgewachsen. Die Kapitel, die sich mit den Fussballsammelbildern zur WM in Argentinien beschäftigen, und die Episode mit dem geklauten RAF-Fahndungsplakat sind dokumentarisch. Das ist der Auslöser gewesen für den Roman. Und die Geographie, die Geschichte und die Leute der Gegend hab ich natürlich sehr ernst genommen. Aber Sie haben Recht, ich bin damals nicht viel älter gewesen als die beiden Protagonistinnen. Vieles im Binnenleben der Familie Klein stammt also aus meinem eigenen Aufwachsen, aus der Erinnerung an meine Jugend in Köln, an meine Familie. Politisch, denke ich, waren sich viele Dialoge jener Zeit sehr ähnlich. Das konnte schon mal so wirken wie eine Fortsetzung der Moderationen des ZDF-Magazins unter Gerhard Löwenthal.

Sie bauen ein ganzes Dorf. Ein paar alt eingesessene Bauernfamilien, gescheiterte und gestandene, Zugezogene, Verschrobene, Verschlossene, Verrückte, Versteckte, ein Polizist, ein paar Grenzer und mittendrin zwei Mädchen. Sie erzählen aus allen möglichen Perspektiven. Wie bauen sie eine solche Geschichte? Wächst das nach und nach oder folgt die Geschichte einem Plan?
Tastend. Oder: Sowohl als auch. Ich baue eine solche Geschichte langsam und schreibend. So wie jeder neue Roman ein neues Vorgehen und einen neuen Plan braucht, so gibt es sicher Gemeinsamkeiten hinter den individuellen Plänen. Ein ganz und gar durchgeplotteter Roman, der alle Kapitel schon kennt, erscheint mir für den Schreibprozess nicht interessant. Ich muss mich mit den Figuren suchend im Terrain bewegen, mit ihnen im Dialog stehen. Vor allem mit den wichtigsten Figuren. Aber es gibt stets auch andere Fixpunkte. Bei «Der Hochsitz» war vom Beginn des Schreibens an klar, dass ich mich auf diesen doppelten Showdown zu bewegen würde.

Es ist die grosse Geschichte die fasziniert, ebenso die Kulisse, in der sie spielt. Aber auch die vielen kleinen Geschichten, sei es die Geschichte einer Mutter, die Mann und Sohn verliert, jeden Halt und irgendwie auch den Verstand. Oder die Minigeschichten wie die der beiden Mädchen, wie sie im Hochsitz Fussballerbildchen neben Fahndungsfotos von RAF-Terroristen kleben. Mussten Sie sich zusammenreissen, um sich nicht zu verlieren?
Die ganze Geschichte ist nur so gut wie deren einzelne Teile. Das Wunderbare an ihnen ist nun, das sie gar nicht ohne einander existieren können. Alles geschieht neben- und über- und gegen- und miteinander. Die Erzählebenen kreuzen sich, widersprechen sich, belauern sich beinah. Was ich in der inneren Stimme nicht erfahre, lerne ich dann durch die äußere Betrachtung. Drei Kapitel später. Der Prozess selbst, das Schreiben: Aufregend.

Damals hatten Kinder, wenn sie ihre Aufgaben in Haus oder Hof hinter sich hatten, Freiheiten, die Kinder heute gar nicht mehr kennen. Ihre Geschichte hätte so in der Gegenwart gar nicht spielen können, wo Eltern ihre Kinder mit dem Auto von der Schule abholen, Kinder in ein eigentliches Freizeitprogramm gepresst werden, um sie ja nicht auf „dumme Gedanken“ kommen zu lassen, in den Ferien in Kurse, ein Camp oder in ein Ferienressort mit Unterhaltungsmaschinerie. Die gute, alte Zeit?
Sicher ist «Der Hochsitz» ein Buch über das Erinnern. Hier und da möglicherweise ein Reflex auf die rechte Forderung, es möge alles so bleiben, wie es ist. Dann schauen wir doch einmal darauf, wie es gewesen ist. Werfen wir einen Blick in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland in der zeitlichen Mitte ihrer Existenz, der relativ kurzen sozialdemokratischen Phase. Und atmen wir also die Luft der guten alten Zeit. – Auf der anderen Seite war es für mich interessant, nach zwei Büchern, die in der DDR spielen, den Blick auf Westdeutschland zu justieren. Herauszufinden, wie sich mit dem Schreiben über das andere Deutschland der Blick aufs Eigene entwickelt.

Und auf der anderen Seite begegnet man in ihrem Roman all jenen, die durch die Zeit, durch die Maschen fallen. Denen, die es nicht schaffen, ob privat oder geschäftlich, in der Beziehung oder vor dem Spiegel. Ist Schreiben auch ein Mittel des Trosts?
Trost, natürlich, immer. Für den Autor. Er speist sich aus der Gewissheit, dieser Zeit lebend entkommen zu sein, lebend und lebendig. Vielleicht fehlt mir im Blick auf diese Zeit die Fähigkeit, jene zu sehen, die nicht durch die Maschen fallen. Liegts am Autor? Aufgewachsen in der Arbeiterklasse, prekär. Gut möglich. Liegts an der Zeit? An den falschen Versprechen, die samt und sonders bald wieder gebrochen werden sollten. Die Sicherheit, die soziale. Das Teilen. Das gesellschaftliche Miteinander. Alles gelogen. Alles aufgehoben.

Eine Figur in ihrem Roman erinnert ein bisschen an Dürrenmatts alte Dame. Ein Mann mit Geschichte kurvt in einem gemieteten Cadillac mit Chauffeur durch die Gegend und täuscht Kaufabsichten bei einer ganzen Reihe von Höfen vor. Was wie eine Einkaufstour ohne sichtbare Strategie aussieht, hetzt das Dorf, Nachbarn gegeneinander auf. Neid, Missgunst artet in Gewalt aus. Zufall?
Den Dürrenmatt kenne ich am besten über den Umweg via Senegal. Djibril Diop-Mambetys Verfilmung HYÈNES von 1992 war mir ein Fixpunkt in der Beschäftigung mit dem Kino des afrikanischen Kontinents. Aber der Stoff hat als Vorlage eigentlich keine Rolle gespielt. Das liegt an dem Fokus auf dem Chauffeur, der diese Erzählebene zieht. Der Mann, über den er uns erzählt, bleibt für uns im Undeutlichen, weil es der Chauffeur selbst ist, der nicht versteht. Ich bauchte hier einen Vermittler, der nichts zu vermitteln hat. Einen, der Augen hat, aber nicht sieht. Und damit gewiss nicht allein steht.

Müssen Sie Briefe aus der Eifel fürchten?
Tweets vielleicht? Grimmiges Gezwitscher aus der Eifel? Ich habe meine Premierenlesung in der Eifel gehabt, in Hillesheim, das ist ein paar Mal zehn Kilometer vom Schauplatz des Romans entfernt, da war alles ganz friedlich und freundlich. «Der Hochsitz» ist ja auch kein Schlüsselroman über die Eifel. Er nutzt das dort eigene, um darüber hinaus zu schauen. Dorf, Grenze, sich verändernde Strukturen, Mädchenleben im Aufbruch. Aber ich nehm die Briefe gern in Empfang. Furchtlos.

Max Annas, geboren 1963, arbeitete lange als Journalist, lebte in Südafrika und wurde für seine Romane «Die Farm» (2014), «Die Mauer» (2016), «Finsterwalde» (2018) und «Morduntersuchungskommission» (2019) sowie zuletzt «Morduntersuchungskommission: Der Fall Melchior Nikolai» (2020) fünfmal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Bei Rowohlt erschien ausserdem «Illegal» (2017).

Beitragsbild © Max Annas

Wenn sie jodelt – Silvia Tschui mit „Der Wod“

Wie gegensätzlich Literatur, wie unterschiedlich die Motivation ein Buch zu schreiben sein kann, bewiesen die Literaturtage Zofingen, die den Umständen geschuldet, den Fokus ganz auf die CH-Literatur richteten. Zwei Bücher zeigen die Breite des Spektrums ganz deutlich: «Der Wod», ein Gehörnter, der durch ein Jahrhundert Familie wütet und «Lamento», ein Abschiedsbrief an einen guten Vater.

Klar, man kann zuhause auf dem Sofa lesen. Dieser Tage erst recht, weil Spaziergänge kürzer werden, der Winterschal aus der Versenkung geholt wird und geprüft werden muss, ob das Schuhwerk, das vor der Eingangstür steht, dem Wetter entsprechend ist. Die beiden Schriftstellerinnen Susanna Schwager und Silvia Tschui bewiesen ziemlich deutlich, warum man einen Spaziergang manchmal länger werden lassen muss, um sich an einem Literaturfest wie in Zofingen von gemachten Vorstellungen zu trennen. Zum einen davon, dass die Auseinandersetzung mit Vätern und Müttern nicht immer aus Übergriffen, Schmerz und Verletzungen resultieren müssen. Und zum andern, dass Lesungen aus Büchern gut gepolstert, mit bedeutungsreichen Gesten und stets besonnen und brav vorgetragen werden müssen, sogenannte „Wasserglaslesungen“ längst nicht mehr Darbietungen von verdichteter Sprache allein repräsentieren.

© Ayse Yavas

Susanna Schwager hat mit ihren literarischen Reportagen, Büchern wie «Fleisch und Blut» oder «Das volle Leben» eine breite und treue Leserschaft gefunden. Bücher, die sich mit Menschen befassen, Bücher, bei denen die Autorin nach Antworten sucht. «Lamento – Brief an einen Vater» schert für einmal gleich mehrfach aus Mustern aus. «Lamento» ist keine Abrechnung an einen Vater, den man gerne anders gehabt hätte, an dem man ein Leben lang leiden musste. «Lamento» ist ein langer Brief an einen guten Vater, eine Ode an die Liebe einer Tochter zu ihrem Vater. Eine Liebe allerdings, die es in den letzten Monaten vor dem Tod des Vaters immer schwerer hatte, die akzeptieren musste, dass nicht nur eine Krankheit Stück für Stück des Vaters entfernt, sondern auch die Maschinerie einer auf Effizienz getrimmten Medizin und ihrer Institutionen. Zum andern musste sich Susanna Schwager für dieses eine Buch, das mit Sicherheit ihr persönlichstes ist, die Antworten auf ihre Fragen selber geben. «Lamento» ist ein zärtliches, behutsames Buch, das trotz alles Intimität Lesende zwingt, sich mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen.

Susanna Schwager im Gespräch mit der Moderatorin Nicola Steiner und der Schriftstellerin Ariela Sarbacher («Der Sommer im Garten meiner Mutter«)

Wie anders «Der Wod» von Silvia Tschui! Wann gibt es das schon: eine Schriftstellerin singt, jodelt, rockt, interagiert mit dem Publikum. Keine Spur von «Liebreiz» und sprachlichen Streicheleinheiten. Silvia Tschui schöpft aus dem Ganzen, macht Literatur zu einem Feuerwerk. Sie lässt ein ganzes Jahrhundert auftanzen, lässt es krachen, treibt einen wilden Wod, einen Gehörnten, den man nicht ungestraft aus dem Verborgenen holt, der eine Familie durch ein ganzes Jahrhundert jagt, durch Krieg und Vertreibung, Lügen und Tod. Silvia Tschui bricht aus, nicht nur in ihrer Performance auf der Bühne zusammen mit dem Gitarristen und Komponisten Philipp Schaufelberger, auch sprachlich, denn es ist, als ob das von ihr ausgebreitete Jahrhundert nur die Bühne sei, um ihrer virtuosen Sprache den nötigen Platz zu verschaffen. Silvia Tschui ist ein Tausendsassa, erfrischen vielseitig, ein Paradiesvogel in der sonst manchmal etwas biederen Literaturlandschaft Schweiz.

«Ich habe kein Buch in der Schweizer Literatur angetroffen, das solch einen Sog entwickelt.» Julian Schütt, Buchzeichen SRF

Webseite von Susanna Schwager

Webseite von Silvia Tschui

Lukas Maisel «Ewiger Wanderer», Plattform Gegenzauber

Ich sah den leuchtenden Schweif eines Kometen, der nur im Abstand eines Menschenlebens erscheint, sah ihn viele Male, bis er mir zum Gefährten wurde, mir keinen Schrecken einflösste wie jenen, die an Omen glaubten. Ich sah den Himmel, als er noch so hoch war, dass Götter darin leben konnten, und ich sah diese Götter ausziehen aus dem Himmel nach und nach, einem Allmächtigen platzmachend erst, bis auch dieser ausziehen musste, sodass der Himmel nun leer ist. Ich sah die Berge, als sie noch keine Namen trugen, als niemand daran dachte, sie zu besteigen, und ich sah diese Berge nach und nach bezwungen werden, auch jene, die als heilig galten. Ich sah in der Wüste einen Mann auf einer Säule stehen, sah ihn auf dieser Säule verharren für Jahre, und der Mann antwortete auf meine Frage, warum er das tue, er wolle sich nicht in Versuchung führen, er entsage dem Weltlichen, um das Himmlische zu erlangen. Ich sah die Meere, als sie noch weit waren, als sie noch als unüberwindbar galten, als in ihnen noch Leviathan und Cetus lauerten darauf, die Seefahrer hinabzureissen, sah diese Kreaturen schrumpfen und schliesslich verschwinden von den Meereskarten, ich sah Schiffe auslaufen in diese Meere, und ich sah sie zurückkommen tief im Wasser liegend und betörend duftend. Ich sah Menschen sich so sehr fürchten vor dem Tod, dass sie behaupteten, es gäbe den Tod nicht, hörte sie sagen, das Leben ginge nach dem Sterben weiter bis in die Ewigkeit. Ich sah Menschen sich so sehr fürchten vor dem Leben, dass sie ihre Körper aufschnitten, ihre Körper aufhängten, ihre Körper wegwarfen in Schluchten und in Flüsse. Ich sah Menschen sich so sehr fürchten vor dem Verlust eines andern Menschen, dass sie behaupteten, dass das Leiden, das einem der Verlust eines andern Menschen verursache, schlecht sei, dass man niemanden so sehr lieben dürfe, dass sein Verlust einem Leiden verursachen könnte. Ich sah einen Mann brennen, angezündet von denen, die nicht glauben wollten, dass jeder Stern am Himmel eine Sonne sei, und dass um jeden dieser Sterne Planeten kreisten. Ich sah Frauen brennen, viele Frauen, denen man vorwarf, Nadeln in Milch gezaubert zu haben, ich kenne den Geruch von brennendem Haar, von schmelzender Haut, ich kenne den Anblick von Gesichtern, die in Flammen verkohlen. Ich sah Frauen sich die Zähne schwärzen, sah sie sich die Zähne weissen, die Haare lang tragen oder kurz, sah sie all diese Dinge tun im Namen der Schönheit. Ich sah Tiere, die als heilig galten, und deren Tötung bestraft wurde, und ich sah dieselben Tiere bezeichnet als schmutzig und nichtswürdig, und sah ihre Tötung gefeiert von vielen Menschen. Ich sah die Menschen Gesetze aufstellen, wen man lieben durfte und wen nicht, sah sie die eine Liebe erheben zum Höchsten, was es gebe, die andere Liebe als teuflisch verbannen. Ich sah die Menschen Dinge schaffen, die ihnen die Arbeit erleichterten auf dem Felde, sah sie Maschinen schaffen, die sich bewegten wie sie selbst,  aber nicht aussahen wie sie selbst, ich sah die Menschen Fabriken errichten, welche die Bedürfnisse der Menschen befriedigen sollten, und ich sah sie Fabriken errichten, die Menschen vernichteten.

All das sah ich mit meinen eigenen Augen, aber niemand glaubt mir, dass ich all das gesehen habe.

Lukas Maisel «Buch der geträumten Inseln», Rowohlt, 2020, 272 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00202-2

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, machte eine Lehre zum Drucker. Bald merkte er, dass er Bücher lieber schreiben als drucken würde und studierte am Literaturinstitut in Biel. Für das Manuskript «Buch der geträumten Inseln» erhielt er 2017 einen Werkbeitrag des Kantons Aargau und 2019 einen Förderpreis des Kantons Solothurn.

Rezension mit Interview von «Buch der geträumten Inseln» auf literaturblatt.ch

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Beitragsbild © Rowohlt Verlag

Colum McCann «Apeirogon», Rowohlt

Colum McCann ist in Dublin aufgewachsen, nicht weit von Nordirland, wo sich „Katholiken“ und „Protestanten“ Jahrzehnte und über Generationen bekämpften, bis auf die Zähne bewaffnet, zu jeder Schandtat entschlossen. Colum McCann wählte für seinen Roman „Apeirogon“ einen Schauplatz, der sich in vielem mit seiner Heimat vergleichen lässt; Palästina und den unversöhnlichen Konflikt zwischen Palästinensern und dem hochgerüsteten Israel.

Colum McCanns Roman ist ein Monument, ein Berg! 500 aufwärts nummerierte Texte bis in die Mitte des Buches, zwei kurze Kapitel über die beiden Protagonisten, einen palästinensischen und einen israelischen Vater, die beide um ihre im Konflikt getöteten Töchter trauern, 500 abwärts nummerierte Texte und ganz in der Mitte der eine 1001., ein einziger Satz, der offenbart, was passiert, wenn Unvereinbares zusammenkommt. Zwei Seiten eines Berges, eines Trümmerberges genauso wie dem einzigen Berg, der aus dem Schlamassel herausragt. Jenen Berg, den es zu erklimmen heisst, wenn man über all den Sumpf, all die Trümmer, als das Leid, den vielfachen Tod hinwegschauen will, um Worte zu finden. Denn es sind Worte, mit denen man Konflikte löst, nicht Waffen. Mit jedem Schuss aus einer Waffe werden neue Wunden aufgerissen.

Rami Elhanan war Soldat in der israelischen Armee. Aus dem Krieg zurück begann er ein Studium an einer Kunstakademie, heiratete Nurit und wurde Vater von vier Töchtern. Eine davon war Smadar, geboren 1983, am Tag vor dem Jom Kippur, dem „Versöhnungstag“. 14 Jahre später, wieder kurz vor Jom Kippur, wird Smadar Opfer eines Selbstmordattentäters, sie zusammen mit zwei Freundinnen unterwegs in der Stadt, sie zusammen mit sieben andern, die von drei als Frauen verkleideten Selbstmordattentätern in die Luft gesprengt wurden, sie zusammen mit ihrem Vater und seiner Familie, der dem Schmerz danach nie mehr entfliehen konnte.

Colum McCann «Apeirogon», Rowohlt, 2020, 608 Seiten, CHF 35.00, ISBN 978-3-498-04533-3

Bassam Aramin ist Palästinenser, Vater von Abir, die mit zehn Jahren mit einer eben erst gekauften Zuckerkette nicht weit von ihrer Schule aus einem fahrenden Jeep amerikanischer Bauart, von einem Gummigeschoss amerikanischer Bauart, abgefeuert von einem Gewehr amerikanischer Bauart am Hinterkopf getroffen wird und nach einer ewig dauernden Fahrt mit dem Krankenwagen, vorbei an Checkpoints, aufgehalten von der Polizei an den Folgen dieser Schädelverletzung stirbt. Bassam Aramin war selbst siebzehn Jahre im Gefängnis, weil der Hass auf die Besatzer ihn dazu trieb, Handgranaten zu werfen.

Zwei Mädchen sterben, das eine zehn Jahre später als das andere. Aber beide in einem Land, dass gespaltener nicht sein kann. In einem Land, in dem Völker viel mehr als nur durch Mauern voneinander getrennt sind, unvereinbar, unendlich weit voneinander weg. Beide Väter tragen einen Schmerz mit sich, der sich leicht in Rache entladen könnte. Aber sie tun es nicht. Ganz im Gegenteil. Irgendwann stehen sie sich gegenüber in einem Jerusalemer Vorort, in einem Backsteinkloster, einer Veranstaltung einer Organisation, die die Väter von Opfern gegründet haben, die „Combatants for Peace“ und der „Parents Circle“. Was eine zaghafte Annäherung war, wird zu einer Freundschaft, was Selbsthilfe war, wird zu einer Mission. In den folgenden Jahren fahren Rami und Bassam von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent, in der Überzeugung, dass nur das Wort, das Verstehen, die Verständigung Brücken über die feindlichen Linien hinaus bauen kann.

„Apeirogon“ ist ein vielseitiges Panoptikum, 1001 Geschichten um die Tragik eines Landstrichs, der schon über Jahrhunderte im Brennpunkt der Geschichte liegt. Aber auch ein Ort über den abertausende von Vögeln ihren Weg finden, über ein Land, das wie ein Flickenteppich aus lauter Unvereinbarkeiten zusammengefügt ist, verklebt durch Hass, Unverständnis und himmelschreiender Ungerechtigkeit, voller Grenzen für Menschen, grenzenlos für die Vögel. Eine Begrenztheit, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint, die eingeschweisst und eingeritzt ist in das Bewusstsein der Menschen, Menschen, die oft nur einen Steinwurf voneinander leben.

Colum McCann ist ein ganz besonderer Roman gelungen. Ein Buch, das sich einbrennt!

Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt McCann zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award und den Rooney Prize for Irish Literature. Zum internationalen Bestsellerautor wurde er mit den Romanen «Der Tänzer» und «Zoli». Für den Roman «Die große Welt» erhielt er 2009 den National Book Award. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York.

Volker Oldenburg lebt in Hamburg. Er übersetzte unter anderem David Mitchell, Oscar Wilde, T Cooper und Dinaw Mengestu. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis.

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Beitragsbild © P. Matsas/Opale/Leemage/laif 

Szczepan Twardoch «Das schwarze Königreich», Rowohlt

«Das schwarze Königreich» trifft mitten in die Weichteile. Szczepan Twardochs neuer Roman prügelt mich aus dem schummrigen Gefühl der Zufriedenheit und zeigt schonungslos, was in den Tiefen der menschlichen Abgründe lauert und jederzeit wie Magma zum Vorschein kommen kann.

Es muss während meiner Ausbildung gewesen sein, als mich «Mila 18», ein Wälzer von Leon Uris, in seinen Bann zog und mich die Geschichte des Warschauer Ghettos während des aussichtslosen Widerstands der jüdischen WiderstandskämpferInnen gegen die Übermacht des nationalsozialistischen Gewaltapparats nicht mehr losliess. Szczepan Twardochs Roman «Das schwarze Königreich» erzählt aus der gleichen Zeit. Aber mit dem grossen Unterschied, dass es bei ihm keine HeldInnen gibt. Und wenn es sie gibt, dann sind es verzweifelte, gebrochene und gequälte HeldInnen.

Was hält Menschen trotz all der Schrecken, all des Leidens, all der Ängste am Leben? Was ist wirklich stärker; die Liebe oder der Hass? Was taugt mehr zum blanken Überleben? Was passiert mit dem, was wir als Menschlichkeit erhöhen, wenn in den Schlachten eines Krieges alle Masken, alle Hemmungen fallen?

Szczepan Twardoch «Das schwarze Königreich», aus dem Polnischen von Olaf Kühl, Rowohlt, 2020, 416 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-7371-0073-1

Szczepan Twardochs „Das schwarze Königreich“ ist angesichts all der Vergleiche, der sich selbst ernannte Querdenker auf Demonstrationen und in ihren digitalen Kanälen bedienen, ein Mahnmal dafür, wie wenig Menschen aus der Geschichte lernen, wie sehr man sich Zusammenhänge bedient, die gar nicht existieren und wie leicht sich Geschichte instrumentalisieren lässt. In einer Gegenwart, in der Kühlschränke noch immer voll sind, jeder seinen eigenen Mist als Wahrheit verkaufen kann, ein Gesundheitssystem alles tut, um jedem, der es braucht, zu helfen, Bankomaten jeden bedienen und die Arbeitslosigkeit erstaunlich tief bleibt, ist jeder Vergleich der Gegenwart mit der Vergangenheit während der Hochblüte von Nationalsozialismus und Faschismus ein Hohn. 

Szczepan Twardoch beschreibt jenes tiefe Loch, dass sich in jenen Jahren auftat, jenen dunklen, schwarzen Kontinent, der während Jahren alles Licht in Schwärze umzuwandeln schien. Szczepan Twardochs Roman gibt den Blick frei in die Tiefen der menschlichen Abgründe, ungeschönt, nie unterscheidend zwischen den Guten und den Bösen. Das Töten und Sterben, das Grauen und Vernichten ist überall. Und ganz bestimmt in seiner dunkelsten Konzentration an Orten wie dem Warschauer Ghetto 1943, als sich eine verhältnismässig kleine Gruppe aufständischer Juden gegen ihre Deportation in die staatlichen Konzentrationslager zur Wehr setzte und den Vernichtungslagern wie Treblinka, in denen die Tötungsindustrie Wehrlose zu Abertausenden nach ihrem Hertransport in Viehwagons vergaste und verbrannte.

Die polnische Leuchtfigur der Gegenwartsliteratur will weder erklären noch beweisen, nicht einmal verstehen. Szczepan Twardochs Roman ist ein Versuch, jene Zeit und deren Geschehnisse nicht zu entfremden, sie nicht zu beschönigen. In jenem Königreich regiert der Wille zu überleben, die Macht des Stärkeren. Szczepan Twardoch erzählt von Jakub Shapiro, einem Warschauer Juden, König seiner Unterwelt. Von einem Mann, der sein Recht mit Fäusten und mit Geld zu zementieren wusste, einer Geschichte, die Szczepan Twardoch schon in seinem 2018 auf Deutsch erschienenen Roman „Der Boxer“ zu erzählen begann. „Der Boxer“ war der Aufstieg Jakub Shapiros, „Das schwarze Königreich“ sein ungebremster Niedergang. Aber Szczepan Twardochs neuer Roman ist viel mehr als eine Fortsetzung. Szczepan Twardoch erzählt von ganz vielen Leben. Von Ryfka, der Geliebten Jakubs, die ihn in den Trümmern des Ghettos in die Postapokalypse zu retten versucht. Von Jakubs Zwillingsöhnen Daniel und David, dem einen als engelhafter Begleiter in den sicheren Vernichtungstod, dem anderen als Retter und Kämpfer. Von Emilia, Jakubs betrogener und gedemütigter Ehefrau, die alles was ihr bleibt mit dem letzten Rest ihrer Liebe nackt und geschoren ins Gas trägt.

„Das schwarze Königreich“ ist wahrhaft schwarz, über weite Strecken nicht leicht zu lesen. Szczepan Twardoch verklärt nichts und beschreibt alles in seiner tiefsten Grausamkeit. Und doch ist die beschriebene Brutalität nicht Selbstzweck und genüssliche Inszenierung. Szczepan Twardoch peitscht mich durch Wahrheiten, die ich allzu leicht auszublenden versuche. Die Menschen in seinem Roman sind aller Sicherheiten beraubt, aus der Zeit gehoben, in höchstem Masse sich selbst überlassen. Zitate wie „Gerechtigkeit ist die lachhafteste aller Fiktionen, an die die Menschen glauben“ sind Speerspitzen, die sich in mein Herz bohren.

Dass sich ein Mann mit Jahrgang 1979 in jene Geschehnisse, die vor über 40 Jahren seiner Zeitrechnung den Beginn jenes „schwarzen Königreichs“ öffneten, derart tief hineinschreiben kann, ist mehr als Empathie, mehr als Recherche, mehr als Imagination. Szczepan Twardoch ist ein Grosser!

© Zuza Krajewska

Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Zuletzt erschienen der hochgelobte Roman «Der Boxer» sowie das Tagebuch «Wale und Nachtfalter». Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.

Der Übersetzer Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte und arbeitet seit 1996 als Osteuropareferent für den Regierenden Bürgermeister von Berlin. Er ist Autor und einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen, u.a. wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis und dem Brücke Berlin-Preis ausgezeichnet. Sein zweiter Roman, «Der wahre Sohn», war 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Beitragsbild © Zuza Krajewska

Katrin Seddig «Sicherheitszone», Rowohlt

Als die Hubschrauber über der Stadt kreisten und Staatschefs durch die Strassen eskortiert wurden – Katrin Seddig nutzt die bis heute diskutierten Auseinandersetzungen um das G20-Treffen 2017 in Hamburg für einen fulminanten Familienroman: „Sicherheitszone“.

Frank Keil

„Menschen enttäuschen andere Menschen“
von Frank Keil, freier Journalist

Als es zum eigentlichen Geschehen geht, haben wir schon 216 Seiten gelesen. Sind wir eingetaucht in das Leben der Familie Koschmieder, sind vertraut worden mit den verschiedenen Mitgliedern, jung und alt, Männer und Frauen. Haben unsere Sympathien mal diesem, mal jenem zuweilen recht grossherzig gegeben – und sie bald wieder abgezogen. Denn Familie – oha! Da weiss man nie, da fühlt man sich schnell selbst angesprochen – und ertappt.

„Eine deutsche Familie“, so nüchtern sollte er ursprünglich heissen, ihr Familienroman. Der von einer Familie zu erzählen sucht, in dem Moment, wo sie noch besteht und sich zugleich auflöst, aber auch eine Familie bleibt, irgendwie. Katrin Seddig skizziert die Ausgangssituation: „Die Kinder gehen aus dem Haus und die Eltern fangen an sich aus der Familie zu befreien, die ja keine Familie mehr ist.“

Bei den Koschmieders in Hamburg-Marienthal, einem gediegenen und zugleich abgeschiedenen Hamburger Stadtteil, zu dem eine gewisse Unauffälligkeit gehört, wohnen drei Generationen unter einem Dach, noch. Und auch das mit „unter einem Dach“ ist eine nicht ganz eindeutige und damit zu deutende Sache: Denn Thomas Koschmieder, Vater, Ehemann und Sohn in einer Person, wie das oft vorkommt, wohnt neuerdings in der Gästewohnung über der Garage. 52 Jahre ist er alt, was einerseits kein Alter ist, wie man so sagt, aber jung ist er nun mal auch nicht mehr. Weshalb er wohl selbst am meisten überrascht ist, dass er sich so schnell wieder verliebte – und dass dieses Verlieben mit Verlieben beantwortet wurde: von der Lehrerin seiner Tochter, ausgerechnet.

Was ihn auch irritiert: wie er ebenso von Eifersucht geplagt die gleichfalls neue Liebschaft seiner Exfrau Natascha verfolgt, sie beobachtet, die plötzlich so aufblüht, so locker und so entspannt wirkt – und die trotzdem weiter seine Wäsche bügelt! Was er auch nicht versteht: Warum ausgerechnet er bald eine Ladung Pfefferspray ins Gesicht bekommt, als er an einer Polizeikette vorbeikommt, einfach so, eben im Vorübergehen. Und dann sind da noch seine Kinder, die ihm entgleiten und seine Mutter, die ihn bittet, sich bitte-bitte zusammenzureissen. Auch als Chef eines kleinen Antiquitätenladens (er hat ursprünglich Linguistik studiert) ist er nicht unbedingt immer Herr des Geschehens.

„Auf dem Fensterbrett stehen Zimmerpflanzen, die nicht lebten und die nicht tot waren“, so skizziert Katrin Seddig ein Detail in seinem neuen Übergangsheim. Sie lacht: „Solche Zimmerpflanzen kennt man doch! Man muss sich nur entscheiden, ob man sie nun wegwirft oder ob man sie noch mal beschneidet, düngt, sie vielleicht umtopft.“ Aber diese Entscheidung sei, wenn man um die 50 ist, einfach sehr schwer: „Man hat sie schon zu oft umgetopft.“
Überhaupt, der Thomas: „Er ist einsam, er ist mittelalt, aber er fährt Fahrrad“, ist über ihn zu lesen. Sie nickt wieder: „In dem Alter, indem er ist, werden viele Männer noch mal sportlich; sie haben dann ein Rennrad für 1000 Euro.“ Denn es müsse ja nicht immer das neue Auto sein oder die neue junge Frau. „Fahrradfahren ist schon okay, auch wenn es nicht die Revolte ist“, sagt sie.
„Thomas ist die Figur, die am nächsten an mir dran ist“, sagt sie langsam. Sagt: „Wenn ich schreibe, sind die Figuren, die ich am meisten verachte, die, in denen ich mich am meisten wiederfinde.“ Es sei dann eine Art von Liebe, von Fürsorge mit im Spiel. „Mich interessiert nicht der Böse, der komplett anders ist als ich, sondern der Mensch, der sich falsch oder lächerlich verhält und in dem ich mich wiedererkenne“, sagt sie.

Und das ist entsprechend das Schöne an Katrin Seddigs Romanen: Sie sind weder Aufrechnungen noch Abrechnungen, wo Eins und Eins unbedingt Zwei und keine andere Summe ergibt. Das gilt auch für ihre Heldin Helga, die Mutter von Thomas, die zu Zusammen-Reisserin. 87 Jahre ist sie alt, die verlässlich ihre Pillen nehmen muss, aber die das immer wieder vergisst und dann durch die Siedlung irrt, bis eine gnädige Nachbarin sie dann auf eine Tasse Kaffee rettet. Entsprechend verstört, aber auch verbittert schaut sie auf das Leben, dass sich für sie dem Ende entgegen neigt. Obwohl selbst Flüchtlingskind, damals auf einem Treck aus Ostpreussen, die kämpfenden Truppen im Nacken und eingehüllt in eine Wolke aus Angst, Panik und Entsetzen, schlägt ihr Herz nicht für Geflüchtete. Im Gegenteil: die sollen verschwinden, dies Packzeug. Eines ihrer Lebensmottos lautet daher: „Gefühle sind was für Kinder.“ Und wenn sich ihr Sohn ihr mal anvertrauen will, heißt es schnauzend: „Red‘ mir doch nicht von Liebe!“

Katrin Seddig holt tief Luft: „Ich kenne diese Einstellung dieser Generation, eine recht harte Generation.“ Liebe werde nicht so romantisiert, wie wir das heute tun würden: „Da hat man zu seinem Partner gestanden, weil das eine Art von Pflicht war; man hat auch nicht die Familie verlassen, weil es für viele von Vorteil war, für die Kinder zum Beispiel“, sagt sie.
„Ich hätte Helga auch als alte Nazi-Frau skizzieren können, sie ist wirklich politisch ungebildet, da geht vieles durcheinander“, erzählt sie weiter. Aber – Helga liebt ihren Enkel Alexander; ist dann voller Mitgefühl und Verständnis für ihn, der seine ganz eigenen Probleme hat: Alexander ist Polizist, er wird beim G20-Gipfel eingesetzt werden, aber weit mehr beschäftigt ihn, ob sich sein Kollege Simon auch in ihn verliebt hat, wenn er denn in Simon verliebt ist. Da ist sie: die Kompliziertheit der Welt, die Katrin Seddig schreibend antreibt.
Jedenfalls Helga: „Menschen sind sehr schwierig. Sie sind vielschichtig, ambivalent in ihren Einstellungen, deswegen sind sie so schwer zu fassen, wenn man ihnen gerecht werden will“, greift Katrin Seddig den Faden wieder auf. Oder wie sie es noch eine andere Heldin, Thomas Tochter, die 17jährige Imke, engagiert bei „Jugend gegen G20“, sagen lässt: „Menschen enttäuschen andere Menschen.“ Katrin Seddig nickt. Nickt nochmals.

Und das eben wird erzählt im Schatten wie im Scheinwerferlicht des G20-Gipfels, was am Anfang, als Katrin Seddig erste Szenen entwarf, so gar nicht vorgesehen war. Aber dann ist viel unterwegs, in den frühen Juli-Tagen 2017, als tage- und vor allem nächtelang die Hubschrauber über der Stadt kreisten, das Schanzenviertel in eben Sicherheitszonen eingeteilt war und als selbst Hamburger Medien, die sonst so heimattreu berichten, kritische Fragen stellten von wegen: muss das alles wirklich sein? Und was holt man sich mit Trump, Putin und Bolsonaro eigentlich für Leute ins Haus?

Katrin Seddig war nicht als Aktivistin auf den Beinen, sondern als Beobachterin. Sie hat entsprechend vieles gesehen und vieles auch nicht gesehen, an Friedlichem, an Heftigem, von dem dann überall erzählt wurde. „Ich war sehr verwirrt in dieser Zeit“, gesteht sie, „weil ich so viele verschiedene Geschichten gehört habe und sich auch mein Standpunkt ständig verschoben hat.“
Was sie daher bis heute auch beschäftigt: „Bei G20 war es oft so, dass Leute, die nicht in Hamburg leben, die auch nicht vor Ort waren, genau wussten, was hier losgewesen ist.“ Sie schüttelt den Kopf: „Sie wissen, was hier passiert ist, obwohl sie nicht da waren und auch nichts gesehen haben.“ Noch immer staunt sie darüber.

Es ist dieses Staunen und es ist der Versuch zu fassen, was passiert sein mag, im grossen Politischen wie im scheinbar kleinen, Familiären, das diesen Roman immer wieder anfeuert. Und der eben auch davon erzählt, wie schnell Gewissheiten ins Wanken geraten, wie uneindeutig Eindeutigkeiten werden, wenn man nur mal auf die Rückseite schaut und was es daher an Aufmerksamkeit braucht, um halbwegs für sich eine vage Gewissheit von etwas formulieren zu können, die vielleicht auch morgen noch Bestand hat.
Das letzte Wort gehört daher Natascha Koschmieder, Thomas Ex-Frau, jedenfalls ist sie das noch zu dem Zeitpunkt, wo wir das Romangeschehen leider wieder verlassen müssen. Sie sagt zwischendurch, schreibt Katrin Seddig: „Man müsste jede einzelne Geschichte jedes einzelnen Menschen erzählen.“ 

© Bruno Seddig

Katrin Seddig, geboren in Strausberg, studierte Philosophie in Hamburg, wo sie auch heute mit ihrer Familie lebt. Über ihren Roman «Runterkommen» (2010) schrieb die «taz»: Ein brillantes Debüt … Anrührend, witzig und nüchtern. Über «Eheroman» (2012) meinte «Der Tagesspiegel»: Grandios, wie Katrin Seddig jeder ihrer Figuren einen eigenen Ton verleiht; zuletzt erschien 2017 «Das Dorf». Katrin Seddig wurde mit dem Calwer Hermann-Hesse-Stipendium 2020 und für den noch nicht veröffentlichten Roman «Sicherheitszone» mit dem Hamburger Literaturpreis 2019 ausgezeichnet.

Rezension von «Das Dorf» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Bruno Seddig