Max Annas «Der Hochsitz», Rowohlt

Manchmal werde ich für meine Weigerung, Krimis zu lesen, bestraft. Obwohl man mit der Gattungsbezeichnung „Krimi“ im Fall von Max Annas Büchern wohl nicht gerecht wird. „Der Hochsitz“ ist eine Gesellschaftsanalyse der späten Siebziger, stierem Spiessbürgertum und der allgegenwärtigen Angst vor dem Bösen, die nicht nur bei den Nachbarn oder weit weg stattfinden kann.

Frühlingsferien 1978 in einem kleinen Nest in der Eifel, nahe an der Grenze zu Luxemburg. Sanne und Ulrich sind elf und haben Zeit, unendlich viel Zeit. Wenn sie nicht auf „ihrem Hochsitz“ über ihrem Dorf sitzen, dann streifen sie durch den Ort, auch mal in den kleinen Laden von Trines, die sie Hanukas klauen lässt, in denen immer ein Bildchen von der kommenden Fussballweltmeisterschaft in Argentinien steckt. Die Jungs im Dorf bekommen sogar mehr Taschengeld, um ihre Alben mit den Fussballern zu füllen. Sanne und Ulrike klauen sie und kleben sie oben auf ihrem Hochsitz in ein getarntes Heft. Voll wird es nicht werden, schon gar nicht in diesen Frühlingsferien. Und weil es neben Ronnie Worm, Rudi Kargos, Harald Konopka, Hansi Müller, Rainer Bonhof und Karl-Heinz Rummenigge noch Platz hat, kleben sie auf die leeren Stellen die ausgeschnittenen Gesichter vom RAF-Fahndungsplakat, das sie ebenfalls geklaut haben. Aber es sind nicht nur die Gesichter der Fussballer und Terroristen, die in diesem Frühling die sonst tote Zeit füllen.

Max Annas «Der Hochsitz» Rowohlt, 2021, 272 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00208-4

Im Nachbarort passiert ein Banküberfall und eines Nachts, Ulrike übernachtet bei Sanne, beobachten die beiden Mädchen in einer durchquatschten Nacht auf der Strasse vor dem Haus, wie ein Mann von seinem Motorrad kippt und eine Gestalt in Mantel und Hut mit einem Gewehr den am Boden liegenden exekutiert. Aber Sanne und Ulrike bleiben auf dem hocken, was sie gesehen haben und erzählen wollen, denn niemand glaubt ihnen, nicht einmal die Mütter, die Väter schon gar nicht. Wer glaubt schon kleinen Mädchen. Zudem fährt seit ein Paar Tagen ein übergrosser Cadillac durch die Dörfer an der Grenze. Betont langsam und immer wieder an Orten Pause machend, an dem das unpassende Gefährt gesehen werden muss. Ein Mann, der im Fond sitzt, lässt sich von Hof zu Hof chauffieren und bietet den Besitzern für Haus und Grund Summen, die träumen lassen, die einen von einer rosigen Zukunft, die anderen über die Gründe, warum der Mann noch nicht auftauchte oder dem einen viel mehr bieten sollte als ihnen.

Es kocht im Dorf, in dem sonst nie etwas passiert. In dem jede und jeder jede und jeden kennt, ausser die Hinzugezogenen. In einem Dorf, in dem  alle fast allen alles zutrauen. Der verrückten Gaby Teichert, die schon seit Jahren allein im Haus am Bach lebt und immer wieder mal nur in Mantel und Schlapfen an den Füssen zum Bach geht, um sich platt Gesicht voran ins kniehohe Wasser zu schmeissen. Vor Jahren fuhr ihr einziger Sohn ohne zu bremsen gegen einen Baum und der Mann weg. Aber ganz bestimmt die Peters vom Petershof. Die drei Brüder, von denen der jüngste Peter heisst, die aber auf dem Hof schon lange nichts mehr auf die Reihe bringen, es zuerst mit Zigarettenschmuggel versuchten, um dann später härteres Zeug über die Grenze zu bringen. Und als man wegen des Banküberfalls den langhaarigen Lehrling, der noch nicht lange frisch im Dorf wohnt und den jungen Frauen den Kopf verdreht, festnimmt, wo doch Sanne und Ulrike in einer Scheune ganz deutlich sahen, dass dieser sich mit ganz anderen Dingen leidenschaftlich beschäftigte, ist für die beiden Mädchen klar, dass die den Geheimnissen im Dorf auf die Spur kommen wollen. Auf ihre Art und Weise. Denn elfjährige Mädchen sieht man nicht.

Max Annas ist einer, der in seiner Hexerküche sitzt und mit List und grenzenlosem Vergnügen an den vielen kleinen Feuern werkelt, über denen die giftig explosiven Tinkturen köcheln, von denen ich als stiller Betrachter nie weiss, wann ihre schlummernde Gewalt ausbricht. Max Annas experimentiert mit den Untiefen menschlichen Seins in einem Dorf „am Ende der Welt“. In diesem kleinen Dorf in der Eifel, in dem jedes fremde Auto wie ein Eindringling wahrgenommen wird, hat Max Annas Lunten ausgelegt, verschlungen und versteckt, die alle gleichzeitig brennen, von denen ich als Leser genau weiss, dass irgendwo Dynamitstangen liegen, die zu explodieren drohen. „Der Hochsitz“ ist ein literarischer Flickenteppich, der sich vor meinen Augen zusammenwebt, der mich atemlos und fasziniert lesen lässt, weil der Roman viel mehr ist, als ein „Krimi“ aus Sicht des Ermittlers.

Wenn ich nun eines sicher weiss: Es gibt noch mehr von Max Annas!

Interview:

Obwohl ich noch nie in der Eifel war, bin ich es literarisch immer wieder. Erst mit den Romanen von Norbert Scheuer, den ich sehr verehre und nun mit Ihnen. War es einfach die nahe Grenze zu Luxemburg? Der ideale Kontext? Maximale Provinz? Oder doch eigene Erfahrungen, waren sie doch 1978 wenig älter als die beiden Mädchen Sanne und Ulrike?
In dem (fast) nicht genannten Dorf, in dem die meisten Kapitel spielen, ist meine Partnerin aufgewachsen. Die Kapitel, die sich mit den Fussballsammelbildern zur WM in Argentinien beschäftigen, und die Episode mit dem geklauten RAF-Fahndungsplakat sind dokumentarisch. Das ist der Auslöser gewesen für den Roman. Und die Geographie, die Geschichte und die Leute der Gegend hab ich natürlich sehr ernst genommen. Aber Sie haben Recht, ich bin damals nicht viel älter gewesen als die beiden Protagonistinnen. Vieles im Binnenleben der Familie Klein stammt also aus meinem eigenen Aufwachsen, aus der Erinnerung an meine Jugend in Köln, an meine Familie. Politisch, denke ich, waren sich viele Dialoge jener Zeit sehr ähnlich. Das konnte schon mal so wirken wie eine Fortsetzung der Moderationen des ZDF-Magazins unter Gerhard Löwenthal.

Sie bauen ein ganzes Dorf. Ein paar alt eingesessene Bauernfamilien, gescheiterte und gestandene, Zugezogene, Verschrobene, Verschlossene, Verrückte, Versteckte, ein Polizist, ein paar Grenzer und mittendrin zwei Mädchen. Sie erzählen aus allen möglichen Perspektiven. Wie bauen sie eine solche Geschichte? Wächst das nach und nach oder folgt die Geschichte einem Plan?
Tastend. Oder: Sowohl als auch. Ich baue eine solche Geschichte langsam und schreibend. So wie jeder neue Roman ein neues Vorgehen und einen neuen Plan braucht, so gibt es sicher Gemeinsamkeiten hinter den individuellen Plänen. Ein ganz und gar durchgeplotteter Roman, der alle Kapitel schon kennt, erscheint mir für den Schreibprozess nicht interessant. Ich muss mich mit den Figuren suchend im Terrain bewegen, mit ihnen im Dialog stehen. Vor allem mit den wichtigsten Figuren. Aber es gibt stets auch andere Fixpunkte. Bei «Der Hochsitz» war vom Beginn des Schreibens an klar, dass ich mich auf diesen doppelten Showdown zu bewegen würde.

Es ist die grosse Geschichte die fasziniert, ebenso die Kulisse, in der sie spielt. Aber auch die vielen kleinen Geschichten, sei es die Geschichte einer Mutter, die Mann und Sohn verliert, jeden Halt und irgendwie auch den Verstand. Oder die Minigeschichten wie die der beiden Mädchen, wie sie im Hochsitz Fussballerbildchen neben Fahndungsfotos von RAF-Terroristen kleben. Mussten Sie sich zusammenreissen, um sich nicht zu verlieren?
Die ganze Geschichte ist nur so gut wie deren einzelne Teile. Das Wunderbare an ihnen ist nun, das sie gar nicht ohne einander existieren können. Alles geschieht neben- und über- und gegen- und miteinander. Die Erzählebenen kreuzen sich, widersprechen sich, belauern sich beinah. Was ich in der inneren Stimme nicht erfahre, lerne ich dann durch die äußere Betrachtung. Drei Kapitel später. Der Prozess selbst, das Schreiben: Aufregend.

Damals hatten Kinder, wenn sie ihre Aufgaben in Haus oder Hof hinter sich hatten, Freiheiten, die Kinder heute gar nicht mehr kennen. Ihre Geschichte hätte so in der Gegenwart gar nicht spielen können, wo Eltern ihre Kinder mit dem Auto von der Schule abholen, Kinder in ein eigentliches Freizeitprogramm gepresst werden, um sie ja nicht auf „dumme Gedanken“ kommen zu lassen, in den Ferien in Kurse, ein Camp oder in ein Ferienressort mit Unterhaltungsmaschinerie. Die gute, alte Zeit?
Sicher ist «Der Hochsitz» ein Buch über das Erinnern. Hier und da möglicherweise ein Reflex auf die rechte Forderung, es möge alles so bleiben, wie es ist. Dann schauen wir doch einmal darauf, wie es gewesen ist. Werfen wir einen Blick in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland in der zeitlichen Mitte ihrer Existenz, der relativ kurzen sozialdemokratischen Phase. Und atmen wir also die Luft der guten alten Zeit. – Auf der anderen Seite war es für mich interessant, nach zwei Büchern, die in der DDR spielen, den Blick auf Westdeutschland zu justieren. Herauszufinden, wie sich mit dem Schreiben über das andere Deutschland der Blick aufs Eigene entwickelt.

Und auf der anderen Seite begegnet man in ihrem Roman all jenen, die durch die Zeit, durch die Maschen fallen. Denen, die es nicht schaffen, ob privat oder geschäftlich, in der Beziehung oder vor dem Spiegel. Ist Schreiben auch ein Mittel des Trosts?
Trost, natürlich, immer. Für den Autor. Er speist sich aus der Gewissheit, dieser Zeit lebend entkommen zu sein, lebend und lebendig. Vielleicht fehlt mir im Blick auf diese Zeit die Fähigkeit, jene zu sehen, die nicht durch die Maschen fallen. Liegts am Autor? Aufgewachsen in der Arbeiterklasse, prekär. Gut möglich. Liegts an der Zeit? An den falschen Versprechen, die samt und sonders bald wieder gebrochen werden sollten. Die Sicherheit, die soziale. Das Teilen. Das gesellschaftliche Miteinander. Alles gelogen. Alles aufgehoben.

Eine Figur in ihrem Roman erinnert ein bisschen an Dürrenmatts alte Dame. Ein Mann mit Geschichte kurvt in einem gemieteten Cadillac mit Chauffeur durch die Gegend und täuscht Kaufabsichten bei einer ganzen Reihe von Höfen vor. Was wie eine Einkaufstour ohne sichtbare Strategie aussieht, hetzt das Dorf, Nachbarn gegeneinander auf. Neid, Missgunst artet in Gewalt aus. Zufall?
Den Dürrenmatt kenne ich am besten über den Umweg via Senegal. Djibril Diop-Mambetys Verfilmung HYÈNES von 1992 war mir ein Fixpunkt in der Beschäftigung mit dem Kino des afrikanischen Kontinents. Aber der Stoff hat als Vorlage eigentlich keine Rolle gespielt. Das liegt an dem Fokus auf dem Chauffeur, der diese Erzählebene zieht. Der Mann, über den er uns erzählt, bleibt für uns im Undeutlichen, weil es der Chauffeur selbst ist, der nicht versteht. Ich bauchte hier einen Vermittler, der nichts zu vermitteln hat. Einen, der Augen hat, aber nicht sieht. Und damit gewiss nicht allein steht.

Müssen Sie Briefe aus der Eifel fürchten?
Tweets vielleicht? Grimmiges Gezwitscher aus der Eifel? Ich habe meine Premierenlesung in der Eifel gehabt, in Hillesheim, das ist ein paar Mal zehn Kilometer vom Schauplatz des Romans entfernt, da war alles ganz friedlich und freundlich. «Der Hochsitz» ist ja auch kein Schlüsselroman über die Eifel. Er nutzt das dort eigene, um darüber hinaus zu schauen. Dorf, Grenze, sich verändernde Strukturen, Mädchenleben im Aufbruch. Aber ich nehm die Briefe gern in Empfang. Furchtlos.

Max Annas, geboren 1963, arbeitete lange als Journalist, lebte in Südafrika und wurde für seine Romane «Die Farm» (2014), «Die Mauer» (2016), «Finsterwalde» (2018) und «Morduntersuchungskommission» (2019) sowie zuletzt «Morduntersuchungskommission: Der Fall Melchior Nikolai» (2020) fünfmal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Bei Rowohlt erschien ausserdem «Illegal» (2017).

Beitragsbild © Max Annas

Wenn sie jodelt – Silvia Tschui mit „Der Wod“

Wie gegensätzlich Literatur, wie unterschiedlich die Motivation ein Buch zu schreiben sein kann, bewiesen die Literaturtage Zofingen, die den Umständen geschuldet, den Fokus ganz auf die CH-Literatur richteten. Zwei Bücher zeigen die Breite des Spektrums ganz deutlich: «Der Wod», ein Gehörnter, der durch ein Jahrhundert Familie wütet und «Lamento», ein Abschiedsbrief an einen guten Vater.

Klar, man kann zuhause auf dem Sofa lesen. Dieser Tage erst recht, weil Spaziergänge kürzer werden, der Winterschal aus der Versenkung geholt wird und geprüft werden muss, ob das Schuhwerk, das vor der Eingangstür steht, dem Wetter entsprechend ist. Die beiden Schriftstellerinnen Susanna Schwager und Silvia Tschui bewiesen ziemlich deutlich, warum man einen Spaziergang manchmal länger werden lassen muss, um sich an einem Literaturfest wie in Zofingen von gemachten Vorstellungen zu trennen. Zum einen davon, dass die Auseinandersetzung mit Vätern und Müttern nicht immer aus Übergriffen, Schmerz und Verletzungen resultieren müssen. Und zum andern, dass Lesungen aus Büchern gut gepolstert, mit bedeutungsreichen Gesten und stets besonnen und brav vorgetragen werden müssen, sogenannte „Wasserglaslesungen“ längst nicht mehr Darbietungen von verdichteter Sprache allein repräsentieren.

© Ayse Yavas

Susanna Schwager hat mit ihren literarischen Reportagen, Büchern wie «Fleisch und Blut» oder «Das volle Leben» eine breite und treue Leserschaft gefunden. Bücher, die sich mit Menschen befassen, Bücher, bei denen die Autorin nach Antworten sucht. «Lamento – Brief an einen Vater» schert für einmal gleich mehrfach aus Mustern aus. «Lamento» ist keine Abrechnung an einen Vater, den man gerne anders gehabt hätte, an dem man ein Leben lang leiden musste. «Lamento» ist ein langer Brief an einen guten Vater, eine Ode an die Liebe einer Tochter zu ihrem Vater. Eine Liebe allerdings, die es in den letzten Monaten vor dem Tod des Vaters immer schwerer hatte, die akzeptieren musste, dass nicht nur eine Krankheit Stück für Stück des Vaters entfernt, sondern auch die Maschinerie einer auf Effizienz getrimmten Medizin und ihrer Institutionen. Zum andern musste sich Susanna Schwager für dieses eine Buch, das mit Sicherheit ihr persönlichstes ist, die Antworten auf ihre Fragen selber geben. «Lamento» ist ein zärtliches, behutsames Buch, das trotz alles Intimität Lesende zwingt, sich mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen.

Susanna Schwager im Gespräch mit der Moderatorin Nicola Steiner und der Schriftstellerin Ariela Sarbacher («Der Sommer im Garten meiner Mutter«)

Wie anders «Der Wod» von Silvia Tschui! Wann gibt es das schon: eine Schriftstellerin singt, jodelt, rockt, interagiert mit dem Publikum. Keine Spur von «Liebreiz» und sprachlichen Streicheleinheiten. Silvia Tschui schöpft aus dem Ganzen, macht Literatur zu einem Feuerwerk. Sie lässt ein ganzes Jahrhundert auftanzen, lässt es krachen, treibt einen wilden Wod, einen Gehörnten, den man nicht ungestraft aus dem Verborgenen holt, der eine Familie durch ein ganzes Jahrhundert jagt, durch Krieg und Vertreibung, Lügen und Tod. Silvia Tschui bricht aus, nicht nur in ihrer Performance auf der Bühne zusammen mit dem Gitarristen und Komponisten Philipp Schaufelberger, auch sprachlich, denn es ist, als ob das von ihr ausgebreitete Jahrhundert nur die Bühne sei, um ihrer virtuosen Sprache den nötigen Platz zu verschaffen. Silvia Tschui ist ein Tausendsassa, erfrischen vielseitig, ein Paradiesvogel in der sonst manchmal etwas biederen Literaturlandschaft Schweiz.

«Ich habe kein Buch in der Schweizer Literatur angetroffen, das solch einen Sog entwickelt.» Julian Schütt, Buchzeichen SRF

Webseite von Susanna Schwager

Webseite von Silvia Tschui

Lukas Maisel «Ewiger Wanderer», Plattform Gegenzauber

Ich sah den leuchtenden Schweif eines Kometen, der nur im Abstand eines Menschenlebens erscheint, sah ihn viele Male, bis er mir zum Gefährten wurde, mir keinen Schrecken einflösste wie jenen, die an Omen glaubten. Ich sah den Himmel, als er noch so hoch war, dass Götter darin leben konnten, und ich sah diese Götter ausziehen aus dem Himmel nach und nach, einem Allmächtigen platzmachend erst, bis auch dieser ausziehen musste, sodass der Himmel nun leer ist. Ich sah die Berge, als sie noch keine Namen trugen, als niemand daran dachte, sie zu besteigen, und ich sah diese Berge nach und nach bezwungen werden, auch jene, die als heilig galten. Ich sah in der Wüste einen Mann auf einer Säule stehen, sah ihn auf dieser Säule verharren für Jahre, und der Mann antwortete auf meine Frage, warum er das tue, er wolle sich nicht in Versuchung führen, er entsage dem Weltlichen, um das Himmlische zu erlangen. Ich sah die Meere, als sie noch weit waren, als sie noch als unüberwindbar galten, als in ihnen noch Leviathan und Cetus lauerten darauf, die Seefahrer hinabzureissen, sah diese Kreaturen schrumpfen und schliesslich verschwinden von den Meereskarten, ich sah Schiffe auslaufen in diese Meere, und ich sah sie zurückkommen tief im Wasser liegend und betörend duftend. Ich sah Menschen sich so sehr fürchten vor dem Tod, dass sie behaupteten, es gäbe den Tod nicht, hörte sie sagen, das Leben ginge nach dem Sterben weiter bis in die Ewigkeit. Ich sah Menschen sich so sehr fürchten vor dem Leben, dass sie ihre Körper aufschnitten, ihre Körper aufhängten, ihre Körper wegwarfen in Schluchten und in Flüsse. Ich sah Menschen sich so sehr fürchten vor dem Verlust eines andern Menschen, dass sie behaupteten, dass das Leiden, das einem der Verlust eines andern Menschen verursache, schlecht sei, dass man niemanden so sehr lieben dürfe, dass sein Verlust einem Leiden verursachen könnte. Ich sah einen Mann brennen, angezündet von denen, die nicht glauben wollten, dass jeder Stern am Himmel eine Sonne sei, und dass um jeden dieser Sterne Planeten kreisten. Ich sah Frauen brennen, viele Frauen, denen man vorwarf, Nadeln in Milch gezaubert zu haben, ich kenne den Geruch von brennendem Haar, von schmelzender Haut, ich kenne den Anblick von Gesichtern, die in Flammen verkohlen. Ich sah Frauen sich die Zähne schwärzen, sah sie sich die Zähne weissen, die Haare lang tragen oder kurz, sah sie all diese Dinge tun im Namen der Schönheit. Ich sah Tiere, die als heilig galten, und deren Tötung bestraft wurde, und ich sah dieselben Tiere bezeichnet als schmutzig und nichtswürdig, und sah ihre Tötung gefeiert von vielen Menschen. Ich sah die Menschen Gesetze aufstellen, wen man lieben durfte und wen nicht, sah sie die eine Liebe erheben zum Höchsten, was es gebe, die andere Liebe als teuflisch verbannen. Ich sah die Menschen Dinge schaffen, die ihnen die Arbeit erleichterten auf dem Felde, sah sie Maschinen schaffen, die sich bewegten wie sie selbst,  aber nicht aussahen wie sie selbst, ich sah die Menschen Fabriken errichten, welche die Bedürfnisse der Menschen befriedigen sollten, und ich sah sie Fabriken errichten, die Menschen vernichteten.

All das sah ich mit meinen eigenen Augen, aber niemand glaubt mir, dass ich all das gesehen habe.

Lukas Maisel «Buch der geträumten Inseln», Rowohlt, 2020, 272 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00202-2

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, machte eine Lehre zum Drucker. Bald merkte er, dass er Bücher lieber schreiben als drucken würde und studierte am Literaturinstitut in Biel. Für das Manuskript «Buch der geträumten Inseln» erhielt er 2017 einen Werkbeitrag des Kantons Aargau und 2019 einen Förderpreis des Kantons Solothurn.

Rezension mit Interview von «Buch der geträumten Inseln» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Rowohlt Verlag

Colum McCann «Apeirogon», Rowohlt

Colum McCann ist in Dublin aufgewachsen, nicht weit von Nordirland, wo sich „Katholiken“ und „Protestanten“ Jahrzehnte und über Generationen bekämpften, bis auf die Zähne bewaffnet, zu jeder Schandtat entschlossen. Colum McCann wählte für seinen Roman „Apeirogon“ einen Schauplatz, der sich in vielem mit seiner Heimat vergleichen lässt; Palästina und den unversöhnlichen Konflikt zwischen Palästinensern und dem hochgerüsteten Israel.

Colum McCanns Roman ist ein Monument, ein Berg! 500 aufwärts nummerierte Texte bis in die Mitte des Buches, zwei kurze Kapitel über die beiden Protagonisten, einen palästinensischen und einen israelischen Vater, die beide um ihre im Konflikt getöteten Töchter trauern, 500 abwärts nummerierte Texte und ganz in der Mitte der eine 1001., ein einziger Satz, der offenbart, was passiert, wenn Unvereinbares zusammenkommt. Zwei Seiten eines Berges, eines Trümmerberges genauso wie dem einzigen Berg, der aus dem Schlamassel herausragt. Jenen Berg, den es zu erklimmen heisst, wenn man über all den Sumpf, all die Trümmer, als das Leid, den vielfachen Tod hinwegschauen will, um Worte zu finden. Denn es sind Worte, mit denen man Konflikte löst, nicht Waffen. Mit jedem Schuss aus einer Waffe werden neue Wunden aufgerissen.

Rami Elhanan war Soldat in der israelischen Armee. Aus dem Krieg zurück begann er ein Studium an einer Kunstakademie, heiratete Nurit und wurde Vater von vier Töchtern. Eine davon war Smadar, geboren 1983, am Tag vor dem Jom Kippur, dem „Versöhnungstag“. 14 Jahre später, wieder kurz vor Jom Kippur, wird Smadar Opfer eines Selbstmordattentäters, sie zusammen mit zwei Freundinnen unterwegs in der Stadt, sie zusammen mit sieben andern, die von drei als Frauen verkleideten Selbstmordattentätern in die Luft gesprengt wurden, sie zusammen mit ihrem Vater und seiner Familie, der dem Schmerz danach nie mehr entfliehen konnte.

Colum McCann «Apeirogon», Rowohlt, 2020, 608 Seiten, CHF 35.00, ISBN 978-3-498-04533-3

Bassam Aramin ist Palästinenser, Vater von Abir, die mit zehn Jahren mit einer eben erst gekauften Zuckerkette nicht weit von ihrer Schule aus einem fahrenden Jeep amerikanischer Bauart, von einem Gummigeschoss amerikanischer Bauart, abgefeuert von einem Gewehr amerikanischer Bauart am Hinterkopf getroffen wird und nach einer ewig dauernden Fahrt mit dem Krankenwagen, vorbei an Checkpoints, aufgehalten von der Polizei an den Folgen dieser Schädelverletzung stirbt. Bassam Aramin war selbst siebzehn Jahre im Gefängnis, weil der Hass auf die Besatzer ihn dazu trieb, Handgranaten zu werfen.

Zwei Mädchen sterben, das eine zehn Jahre später als das andere. Aber beide in einem Land, dass gespaltener nicht sein kann. In einem Land, in dem Völker viel mehr als nur durch Mauern voneinander getrennt sind, unvereinbar, unendlich weit voneinander weg. Beide Väter tragen einen Schmerz mit sich, der sich leicht in Rache entladen könnte. Aber sie tun es nicht. Ganz im Gegenteil. Irgendwann stehen sie sich gegenüber in einem Jerusalemer Vorort, in einem Backsteinkloster, einer Veranstaltung einer Organisation, die die Väter von Opfern gegründet haben, die „Combatants for Peace“ und der „Parents Circle“. Was eine zaghafte Annäherung war, wird zu einer Freundschaft, was Selbsthilfe war, wird zu einer Mission. In den folgenden Jahren fahren Rami und Bassam von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent, in der Überzeugung, dass nur das Wort, das Verstehen, die Verständigung Brücken über die feindlichen Linien hinaus bauen kann.

„Apeirogon“ ist ein vielseitiges Panoptikum, 1001 Geschichten um die Tragik eines Landstrichs, der schon über Jahrhunderte im Brennpunkt der Geschichte liegt. Aber auch ein Ort über den abertausende von Vögeln ihren Weg finden, über ein Land, das wie ein Flickenteppich aus lauter Unvereinbarkeiten zusammengefügt ist, verklebt durch Hass, Unverständnis und himmelschreiender Ungerechtigkeit, voller Grenzen für Menschen, grenzenlos für die Vögel. Eine Begrenztheit, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint, die eingeschweisst und eingeritzt ist in das Bewusstsein der Menschen, Menschen, die oft nur einen Steinwurf voneinander leben.

Colum McCann ist ein ganz besonderer Roman gelungen. Ein Buch, das sich einbrennt!

Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt McCann zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award und den Rooney Prize for Irish Literature. Zum internationalen Bestsellerautor wurde er mit den Romanen «Der Tänzer» und «Zoli». Für den Roman «Die große Welt» erhielt er 2009 den National Book Award. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York.

Volker Oldenburg lebt in Hamburg. Er übersetzte unter anderem David Mitchell, Oscar Wilde, T Cooper und Dinaw Mengestu. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis.

Webseite des Autors

Beitragsbild © P. Matsas/Opale/Leemage/laif 

Szczepan Twardoch «Das schwarze Königreich», Rowohlt

«Das schwarze Königreich» trifft mitten in die Weichteile. Szczepan Twardochs neuer Roman prügelt mich aus dem schummrigen Gefühl der Zufriedenheit und zeigt schonungslos, was in den Tiefen der menschlichen Abgründe lauert und jederzeit wie Magma zum Vorschein kommen kann.

Es muss während meiner Ausbildung gewesen sein, als mich «Mila 18», ein Wälzer von Leon Uris, in seinen Bann zog und mich die Geschichte des Warschauer Ghettos während des aussichtslosen Widerstands der jüdischen WiderstandskämpferInnen gegen die Übermacht des nationalsozialistischen Gewaltapparats nicht mehr losliess. Szczepan Twardochs Roman «Das schwarze Königreich» erzählt aus der gleichen Zeit. Aber mit dem grossen Unterschied, dass es bei ihm keine HeldInnen gibt. Und wenn es sie gibt, dann sind es verzweifelte, gebrochene und gequälte HeldInnen.

Was hält Menschen trotz all der Schrecken, all des Leidens, all der Ängste am Leben? Was ist wirklich stärker; die Liebe oder der Hass? Was taugt mehr zum blanken Überleben? Was passiert mit dem, was wir als Menschlichkeit erhöhen, wenn in den Schlachten eines Krieges alle Masken, alle Hemmungen fallen?

Szczepan Twardoch «Das schwarze Königreich», aus dem Polnischen von Olaf Kühl, Rowohlt, 2020, 416 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-7371-0073-1

Szczepan Twardochs „Das schwarze Königreich“ ist angesichts all der Vergleiche, der sich selbst ernannte Querdenker auf Demonstrationen und in ihren digitalen Kanälen bedienen, ein Mahnmal dafür, wie wenig Menschen aus der Geschichte lernen, wie sehr man sich Zusammenhänge bedient, die gar nicht existieren und wie leicht sich Geschichte instrumentalisieren lässt. In einer Gegenwart, in der Kühlschränke noch immer voll sind, jeder seinen eigenen Mist als Wahrheit verkaufen kann, ein Gesundheitssystem alles tut, um jedem, der es braucht, zu helfen, Bankomaten jeden bedienen und die Arbeitslosigkeit erstaunlich tief bleibt, ist jeder Vergleich der Gegenwart mit der Vergangenheit während der Hochblüte von Nationalsozialismus und Faschismus ein Hohn. 

Szczepan Twardoch beschreibt jenes tiefe Loch, dass sich in jenen Jahren auftat, jenen dunklen, schwarzen Kontinent, der während Jahren alles Licht in Schwärze umzuwandeln schien. Szczepan Twardochs Roman gibt den Blick frei in die Tiefen der menschlichen Abgründe, ungeschönt, nie unterscheidend zwischen den Guten und den Bösen. Das Töten und Sterben, das Grauen und Vernichten ist überall. Und ganz bestimmt in seiner dunkelsten Konzentration an Orten wie dem Warschauer Ghetto 1943, als sich eine verhältnismässig kleine Gruppe aufständischer Juden gegen ihre Deportation in die staatlichen Konzentrationslager zur Wehr setzte und den Vernichtungslagern wie Treblinka, in denen die Tötungsindustrie Wehrlose zu Abertausenden nach ihrem Hertransport in Viehwagons vergaste und verbrannte.

Die polnische Leuchtfigur der Gegenwartsliteratur will weder erklären noch beweisen, nicht einmal verstehen. Szczepan Twardochs Roman ist ein Versuch, jene Zeit und deren Geschehnisse nicht zu entfremden, sie nicht zu beschönigen. In jenem Königreich regiert der Wille zu überleben, die Macht des Stärkeren. Szczepan Twardoch erzählt von Jakub Shapiro, einem Warschauer Juden, König seiner Unterwelt. Von einem Mann, der sein Recht mit Fäusten und mit Geld zu zementieren wusste, einer Geschichte, die Szczepan Twardoch schon in seinem 2018 auf Deutsch erschienenen Roman „Der Boxer“ zu erzählen begann. „Der Boxer“ war der Aufstieg Jakub Shapiros, „Das schwarze Königreich“ sein ungebremster Niedergang. Aber Szczepan Twardochs neuer Roman ist viel mehr als eine Fortsetzung. Szczepan Twardoch erzählt von ganz vielen Leben. Von Ryfka, der Geliebten Jakubs, die ihn in den Trümmern des Ghettos in die Postapokalypse zu retten versucht. Von Jakubs Zwillingsöhnen Daniel und David, dem einen als engelhafter Begleiter in den sicheren Vernichtungstod, dem anderen als Retter und Kämpfer. Von Emilia, Jakubs betrogener und gedemütigter Ehefrau, die alles was ihr bleibt mit dem letzten Rest ihrer Liebe nackt und geschoren ins Gas trägt.

„Das schwarze Königreich“ ist wahrhaft schwarz, über weite Strecken nicht leicht zu lesen. Szczepan Twardoch verklärt nichts und beschreibt alles in seiner tiefsten Grausamkeit. Und doch ist die beschriebene Brutalität nicht Selbstzweck und genüssliche Inszenierung. Szczepan Twardoch peitscht mich durch Wahrheiten, die ich allzu leicht auszublenden versuche. Die Menschen in seinem Roman sind aller Sicherheiten beraubt, aus der Zeit gehoben, in höchstem Masse sich selbst überlassen. Zitate wie „Gerechtigkeit ist die lachhafteste aller Fiktionen, an die die Menschen glauben“ sind Speerspitzen, die sich in mein Herz bohren.

Dass sich ein Mann mit Jahrgang 1979 in jene Geschehnisse, die vor über 40 Jahren seiner Zeitrechnung den Beginn jenes „schwarzen Königreichs“ öffneten, derart tief hineinschreiben kann, ist mehr als Empathie, mehr als Recherche, mehr als Imagination. Szczepan Twardoch ist ein Grosser!

© Zuza Krajewska

Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Zuletzt erschienen der hochgelobte Roman «Der Boxer» sowie das Tagebuch «Wale und Nachtfalter». Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.

Der Übersetzer Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte und arbeitet seit 1996 als Osteuropareferent für den Regierenden Bürgermeister von Berlin. Er ist Autor und einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen, u.a. wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis und dem Brücke Berlin-Preis ausgezeichnet. Sein zweiter Roman, «Der wahre Sohn», war 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Beitragsbild © Zuza Krajewska

Katrin Seddig «Sicherheitszone», Rowohlt

Als die Hubschrauber über der Stadt kreisten und Staatschefs durch die Strassen eskortiert wurden – Katrin Seddig nutzt die bis heute diskutierten Auseinandersetzungen um das G20-Treffen 2017 in Hamburg für einen fulminanten Familienroman: „Sicherheitszone“.

Frank Keil

„Menschen enttäuschen andere Menschen“
von Frank Keil, freier Journalist

Als es zum eigentlichen Geschehen geht, haben wir schon 216 Seiten gelesen. Sind wir eingetaucht in das Leben der Familie Koschmieder, sind vertraut worden mit den verschiedenen Mitgliedern, jung und alt, Männer und Frauen. Haben unsere Sympathien mal diesem, mal jenem zuweilen recht grossherzig gegeben – und sie bald wieder abgezogen. Denn Familie – oha! Da weiss man nie, da fühlt man sich schnell selbst angesprochen – und ertappt.

„Eine deutsche Familie“, so nüchtern sollte er ursprünglich heissen, ihr Familienroman. Der von einer Familie zu erzählen sucht, in dem Moment, wo sie noch besteht und sich zugleich auflöst, aber auch eine Familie bleibt, irgendwie. Katrin Seddig skizziert die Ausgangssituation: „Die Kinder gehen aus dem Haus und die Eltern fangen an sich aus der Familie zu befreien, die ja keine Familie mehr ist.“

Bei den Koschmieders in Hamburg-Marienthal, einem gediegenen und zugleich abgeschiedenen Hamburger Stadtteil, zu dem eine gewisse Unauffälligkeit gehört, wohnen drei Generationen unter einem Dach, noch. Und auch das mit „unter einem Dach“ ist eine nicht ganz eindeutige und damit zu deutende Sache: Denn Thomas Koschmieder, Vater, Ehemann und Sohn in einer Person, wie das oft vorkommt, wohnt neuerdings in der Gästewohnung über der Garage. 52 Jahre ist er alt, was einerseits kein Alter ist, wie man so sagt, aber jung ist er nun mal auch nicht mehr. Weshalb er wohl selbst am meisten überrascht ist, dass er sich so schnell wieder verliebte – und dass dieses Verlieben mit Verlieben beantwortet wurde: von der Lehrerin seiner Tochter, ausgerechnet.

Was ihn auch irritiert: wie er ebenso von Eifersucht geplagt die gleichfalls neue Liebschaft seiner Exfrau Natascha verfolgt, sie beobachtet, die plötzlich so aufblüht, so locker und so entspannt wirkt – und die trotzdem weiter seine Wäsche bügelt! Was er auch nicht versteht: Warum ausgerechnet er bald eine Ladung Pfefferspray ins Gesicht bekommt, als er an einer Polizeikette vorbeikommt, einfach so, eben im Vorübergehen. Und dann sind da noch seine Kinder, die ihm entgleiten und seine Mutter, die ihn bittet, sich bitte-bitte zusammenzureissen. Auch als Chef eines kleinen Antiquitätenladens (er hat ursprünglich Linguistik studiert) ist er nicht unbedingt immer Herr des Geschehens.

„Auf dem Fensterbrett stehen Zimmerpflanzen, die nicht lebten und die nicht tot waren“, so skizziert Katrin Seddig ein Detail in seinem neuen Übergangsheim. Sie lacht: „Solche Zimmerpflanzen kennt man doch! Man muss sich nur entscheiden, ob man sie nun wegwirft oder ob man sie noch mal beschneidet, düngt, sie vielleicht umtopft.“ Aber diese Entscheidung sei, wenn man um die 50 ist, einfach sehr schwer: „Man hat sie schon zu oft umgetopft.“
Überhaupt, der Thomas: „Er ist einsam, er ist mittelalt, aber er fährt Fahrrad“, ist über ihn zu lesen. Sie nickt wieder: „In dem Alter, indem er ist, werden viele Männer noch mal sportlich; sie haben dann ein Rennrad für 1000 Euro.“ Denn es müsse ja nicht immer das neue Auto sein oder die neue junge Frau. „Fahrradfahren ist schon okay, auch wenn es nicht die Revolte ist“, sagt sie.
„Thomas ist die Figur, die am nächsten an mir dran ist“, sagt sie langsam. Sagt: „Wenn ich schreibe, sind die Figuren, die ich am meisten verachte, die, in denen ich mich am meisten wiederfinde.“ Es sei dann eine Art von Liebe, von Fürsorge mit im Spiel. „Mich interessiert nicht der Böse, der komplett anders ist als ich, sondern der Mensch, der sich falsch oder lächerlich verhält und in dem ich mich wiedererkenne“, sagt sie.

Und das ist entsprechend das Schöne an Katrin Seddigs Romanen: Sie sind weder Aufrechnungen noch Abrechnungen, wo Eins und Eins unbedingt Zwei und keine andere Summe ergibt. Das gilt auch für ihre Heldin Helga, die Mutter von Thomas, die zu Zusammen-Reisserin. 87 Jahre ist sie alt, die verlässlich ihre Pillen nehmen muss, aber die das immer wieder vergisst und dann durch die Siedlung irrt, bis eine gnädige Nachbarin sie dann auf eine Tasse Kaffee rettet. Entsprechend verstört, aber auch verbittert schaut sie auf das Leben, dass sich für sie dem Ende entgegen neigt. Obwohl selbst Flüchtlingskind, damals auf einem Treck aus Ostpreussen, die kämpfenden Truppen im Nacken und eingehüllt in eine Wolke aus Angst, Panik und Entsetzen, schlägt ihr Herz nicht für Geflüchtete. Im Gegenteil: die sollen verschwinden, dies Packzeug. Eines ihrer Lebensmottos lautet daher: „Gefühle sind was für Kinder.“ Und wenn sich ihr Sohn ihr mal anvertrauen will, heißt es schnauzend: „Red‘ mir doch nicht von Liebe!“

Katrin Seddig holt tief Luft: „Ich kenne diese Einstellung dieser Generation, eine recht harte Generation.“ Liebe werde nicht so romantisiert, wie wir das heute tun würden: „Da hat man zu seinem Partner gestanden, weil das eine Art von Pflicht war; man hat auch nicht die Familie verlassen, weil es für viele von Vorteil war, für die Kinder zum Beispiel“, sagt sie.
„Ich hätte Helga auch als alte Nazi-Frau skizzieren können, sie ist wirklich politisch ungebildet, da geht vieles durcheinander“, erzählt sie weiter. Aber – Helga liebt ihren Enkel Alexander; ist dann voller Mitgefühl und Verständnis für ihn, der seine ganz eigenen Probleme hat: Alexander ist Polizist, er wird beim G20-Gipfel eingesetzt werden, aber weit mehr beschäftigt ihn, ob sich sein Kollege Simon auch in ihn verliebt hat, wenn er denn in Simon verliebt ist. Da ist sie: die Kompliziertheit der Welt, die Katrin Seddig schreibend antreibt.
Jedenfalls Helga: „Menschen sind sehr schwierig. Sie sind vielschichtig, ambivalent in ihren Einstellungen, deswegen sind sie so schwer zu fassen, wenn man ihnen gerecht werden will“, greift Katrin Seddig den Faden wieder auf. Oder wie sie es noch eine andere Heldin, Thomas Tochter, die 17jährige Imke, engagiert bei „Jugend gegen G20“, sagen lässt: „Menschen enttäuschen andere Menschen.“ Katrin Seddig nickt. Nickt nochmals.

Und das eben wird erzählt im Schatten wie im Scheinwerferlicht des G20-Gipfels, was am Anfang, als Katrin Seddig erste Szenen entwarf, so gar nicht vorgesehen war. Aber dann ist viel unterwegs, in den frühen Juli-Tagen 2017, als tage- und vor allem nächtelang die Hubschrauber über der Stadt kreisten, das Schanzenviertel in eben Sicherheitszonen eingeteilt war und als selbst Hamburger Medien, die sonst so heimattreu berichten, kritische Fragen stellten von wegen: muss das alles wirklich sein? Und was holt man sich mit Trump, Putin und Bolsonaro eigentlich für Leute ins Haus?

Katrin Seddig war nicht als Aktivistin auf den Beinen, sondern als Beobachterin. Sie hat entsprechend vieles gesehen und vieles auch nicht gesehen, an Friedlichem, an Heftigem, von dem dann überall erzählt wurde. „Ich war sehr verwirrt in dieser Zeit“, gesteht sie, „weil ich so viele verschiedene Geschichten gehört habe und sich auch mein Standpunkt ständig verschoben hat.“
Was sie daher bis heute auch beschäftigt: „Bei G20 war es oft so, dass Leute, die nicht in Hamburg leben, die auch nicht vor Ort waren, genau wussten, was hier losgewesen ist.“ Sie schüttelt den Kopf: „Sie wissen, was hier passiert ist, obwohl sie nicht da waren und auch nichts gesehen haben.“ Noch immer staunt sie darüber.

Es ist dieses Staunen und es ist der Versuch zu fassen, was passiert sein mag, im grossen Politischen wie im scheinbar kleinen, Familiären, das diesen Roman immer wieder anfeuert. Und der eben auch davon erzählt, wie schnell Gewissheiten ins Wanken geraten, wie uneindeutig Eindeutigkeiten werden, wenn man nur mal auf die Rückseite schaut und was es daher an Aufmerksamkeit braucht, um halbwegs für sich eine vage Gewissheit von etwas formulieren zu können, die vielleicht auch morgen noch Bestand hat.
Das letzte Wort gehört daher Natascha Koschmieder, Thomas Ex-Frau, jedenfalls ist sie das noch zu dem Zeitpunkt, wo wir das Romangeschehen leider wieder verlassen müssen. Sie sagt zwischendurch, schreibt Katrin Seddig: „Man müsste jede einzelne Geschichte jedes einzelnen Menschen erzählen.“ 

© Bruno Seddig

Katrin Seddig, geboren in Strausberg, studierte Philosophie in Hamburg, wo sie auch heute mit ihrer Familie lebt. Über ihren Roman «Runterkommen» (2010) schrieb die «taz»: Ein brillantes Debüt … Anrührend, witzig und nüchtern. Über «Eheroman» (2012) meinte «Der Tagesspiegel»: Grandios, wie Katrin Seddig jeder ihrer Figuren einen eigenen Ton verleiht; zuletzt erschien 2017 «Das Dorf». Katrin Seddig wurde mit dem Calwer Hermann-Hesse-Stipendium 2020 und für den noch nicht veröffentlichten Roman «Sicherheitszone» mit dem Hamburger Literaturpreis 2019 ausgezeichnet.

Rezension von «Das Dorf» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Bruno Seddig

Lukas Maisel «Buch der geträumten Inseln», Rowohlt

Robert Akeret macht sich auf, auf eine lange Reise. Nicht zur Erholung, nicht einmal auf die Suche nach dem Glück. Robert Akeret will seinem kleinen Leben Bedeutung verschaffen. Er will ein Grundstein der Wissenschaft werden, sein Name ein Denkmal, das bleiben soll.

Robert Akeret bezeichnet sich selbst als Kryptozoologe („Lehre von den versteckten Tieren») und schimpft seine Gegenwart, dass nicht längst an jeder Universität ein Lehrstuhl dieser Wissenschaft vertreten ist. Er hält nichts von der eidgenössischen Bescheidenheit, der Abneigung gegen das Weitschweifende, Weltumspannende. „Ein Leben ohne Zuschauer» sei sinnlos. Er macht sich auf, jenes Lebewesen zu finden, dass das Bindeglied zwischen Mensch und Tier sein soll. Jenes Lebewesen, das man in Vietnam Nguoi Rung nennt, in China Deren, Alma im Altaigebirge, Batutut auf Borneo oder Orang Pendek auf Sumatra.

Insel der unbegründeten Hoffnung

Lukas Maisel siedelt seinen farbigen, üppigen und verspielten Roman in naher Zukunft an, einer Zeit, die aus dem Flughafen und der Stadt Dubai eine heruntergekommene, kaputte Destination macht, ohne zu erzählen, was die Welt derart veränderte. Akeret schliesst sich zusammen mit Blum, einem Studenten der Ethnologie, einem jungen, empfindsamen Mann, der auf dieser Reise, deren Zweck Akeret im Dunkeln lässt, unbekannte Sprachen, Geheimsprachen zu erforschen hofft, wie Akeret eigentlich nur weg will und auf die grosse Offenbarung hofft. Als dritten auf dieser Expedition heuert Akeret Mansur an, einem Mann aus Sulawesi, Angehöriger der Bugs, einem alten Seefahrervolk. Und als letzter noch Jonah, einen stillen Maschinisten, Sohn eines Fischers, geflohen, der mit dem umgebauten Schiff mit dem übergrossen Käfig und seinem tuckernden Motor zurecht kommen soll.

So sehr sich Akeret und Blum auf ihre Aufgabe zu konzentrieren versuchen, so ergeben scheinen Mansur und Jonah, scheinbar zufrieden mit der Aufgabe allein, ohne Zukunft, ohne Perspektiven.

Insel des berauschten Paradiesvogels

Lukas Maisel «Buch der geträumten Inseln», Rowohlt, 2020, 272 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00202-2

Akeret war schon als Kind ein Sonderling, einer, der mit seiner Fragerei den letzten Nerv rauben konnte. Einer der sich mit keiner Antwort abspeisen liess, einer, der sich auch in der Schule nicht abspeisen liess. Sein Lieblingsbuch damals war „Das Buch der geträumten Städte“.
Und als Erwachsener schimpft Akeret sie alle, die Lehnstuhlzoologen, die sich fürchten, ihre schlaffen Körper ins Unbekannte zu stürzen. Ob von Erfolg gekrönt oder nicht, Akeret weiss, sie würden schimpfen, ausrufen, denn er hatte nicht studiert und bekannte sich mit Vehemenz zu einer Wissenschaft, die bei Zoologen nur Kopfschütteln verursacht. Aber er würde es ihnen zeigen. Und wenn der Moment des Triumphs kommt, wird das Wesen Homo Akereti heissen! Akeret und Blum belauern sich, jeder wissend, dass das Unternehmen nie ohne den andern gelingen kann. Man misstraut sich, versteckt sich hinter seiner Aufgabe, der ganz persönlichen Aussicht auf den grossen Triumph, jedes Scheitern ausblendend.

Während die Natur immer wilder wird, der Fluss immer schmaler, das Weiterfahren mit der Marie immer schwieriger, während die Eingeborenen immer feindlicher werden, sich das, was ihnen begegnet immer mehr verschliesst, steigert sich Akerets Entschlossenheit. Irgendwann bringen Eingeborene den Forschungsreisenden tatsächlich ein Wesen, weder Mensch noch Tier. Ein eindeutig menschlicher Kopf mit haarigem Rumpf und Fischlaib, zusammengenäht mit grobem Garn. Ein Versuch, die Fremden zu beschwichtigen? Ein Glücksbringer, ein Ningyo? Eine Warnung?

Lukas Maisels Sprache ist wie seine Geschichte von einer anderen Welt, erfrischend altbacken, genauso wie der Protagonist, der in naher Zukunft unterwegs ist, wie die einstigen Entdecker, wohl wissend, wie viel Leid, Zerstörung und Krankheiten sie auslösten – im Dienst von Wissenschaft und Forschung, Eroberung und Status. So sehr es Akeret um die Erfüllung seines Traumes geht, dem Zusammenschluss zwischen seiner ganz eigenen Logik und allgemeingültiger Wahrheit, so geht es Lukas Maisel nicht um das Ziel, nicht um die Erfüllung. Das „Buch der geträumten Inseln“ liest sich tatsächlich wie ein Traum zwischen den Wirklichkeiten. Ein Mann fährt durch seine Welt, ohne je in ihr anzukommen. Die Welt bleibt fremd. 

„Ich weiss, wonach ich gesucht habe, wenn ich es finde.“ Unglaublich erfrischend!

Interview mit Lukas Maisel:

80 Prozent der gegenwärtigen AutorInnen beschäftigen sich in ihrem Schreiben in irgend einer Weise mit sich selbst, transformiert oder nicht. Wer weiss, vielleicht ist diese Selbstschau in ihrem Roman so weit verfremdet und verborgen, dass ich an ihr vorbeilese. Umso mehr interessiert mich der Ursprung ihres Romans. Was stand ganz zu Beginn?
Ich habe kein Bedürfnis, etwa meine Familiengeschichte niederzuschreiben. Ich fände es öde, das zu schreiben, und öde, zu lesen. Das ist so eine unnötige Verdopplung der Wirklichkeit, obwohl man doch alle Mittel hätte, eine ganz andere Wirklichkeit zu erschaffen. — Am Anfang dieses Romans standen ein paar Zeilen, die ich am Literaturinstitut in einem Kurs geschrieben hatte. Es gibt darin noch keine Figuren, allein die Bedrohung durch geheimnisvolle Wesen in einem Regenwald. Diese Miniatur hat viele Fragen aufgeworfen, denen ich nachgehen wollte. Es verbanden sich andere Ideen mit dieser, etwa jene von einer Expedition, bei der möglichst viele Insektenarten beschrieben und benannt werden sollten. Ich finde den menschlichen Drang, alles zu benennen, und die Hybris, es auch zu tun, unglaublich faszinierend. Erst später kam dann Robert Akeret hinzu, die Hauptfigur.

Sind Sie zu Recherchezwecken tatsächlich gereist? Und wie weit hat sich ihr Romanvorhaben während dieser Recherchen von seiner ursprünglichen Form entfernt? Oder folgten Sie einem (ge)strickten Plan?
Ja, ich bin gereist, auf die indonesischen Inseln Sumatra, Sulawesi und Ternate, auch auf Waigeo, das zum indonesischen Teil Neuguineas gehört. Auf Ternate gibt es den Vulkan Gamalama, auf den mich ein barfüssiger Führer gebracht hat, der ständig Nelkenzigaretten rauchte: das Urbild Jonahs, einer der Figuren im Roman. Auch auf Sulawesi verbrachte ich einige Zeit, um Mansur nachzuspüren, dem indonesischen Helfer der Expedition. Es geht um Details, aber Details sind alles in einem Roman. Der Kern des Romans hat sich dabei kaum verändert.

Die verbissene Suche nach etwas, was vielleicht nicht einmal sein kann, dass sich allen Wahrscheinlichkeiten entzieht, ist ein weit verbreitetes Phänomen. All die aktuellen Verschwörungstheorien sind Beispiele genug. So wie der Abenteurer Robert Akeret über die Lehnstuhlzoologen schimpft, schimpft der Verschwörungstheoretiker auf den Mainstream, die Wissenschaft, die Politik. Ist dieses „Aufsitzen“ nicht ein urmenschliches Bedürfnis? Ein Stück Zuhause?
Das wiederkehrende Narrativ ist: Nichts sei, wie es scheint, die vorherrschende Meinung sei falsch. Das würde auch Akeret unterschreiben, doch anerkennt er die wissenschaftliche Methode und die durch sie gewonnenen Erkenntnisse. Er glaubt aber, dass die Wissenschaft etwas übersehen hat, das ein unbefangener Laie eher finden kann. Man sieht nur, was man weiss, meinte Goethe.

Frauen scheinen in Ihrem Roman nur eine sehr untergeordnete Rolle zu haben. Ist es, weil die vier Archetypen, die sich auf diese Forschungsreis begeben auch wirklich den verschiedenen, männlichen Archetypen entsprechen?
So ganz stimmt das nicht: Professorin Dr. Unland beansprucht mehrere Kapitel, und auch Margarete ist keine unwichtige Figur. Den Bechdel-Test jedenfalls würde der Roman bestehen.

„Er wusste wohl, dass Scheitern möglich war, ans Aufgeben aber glaubte er nicht. Mit leeren Händen heimzukehren, war keine Möglichkeit.“ Dieses Missionarische. Wie weit gilt dieser Satz auch für die Schriftstellerei, das Leben als „Jungautor“?
Es ist schon so, wie Meister Yoda sagt: »Tu es oder tu es nicht. Es gibt kein Versuchen.« Natürlich ist Talent ungleich verteilt und wichtig für das Schreiben, aber genauso wichtig ist die Bereitschaft, aus jeder Zurückweisung, jedem Scheitern zu lernen. Ich hatte schon einige Jobs, ich habe in einer Weinabfüllerei, einem Warenlager, einer Druckerei etc. gearbeitet — ich weiss, dass jeder andere Beruf mich langweilen würde, nur das Schreiben nicht. Darum ist jedes Scheitern für mich, wie für Akeret, kein Anlass zu Zweifeln, sondern treibt mich weiter an.

© Rowohlt Verlag

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, machte eine Lehre zum Drucker, bevor er am Literaturinstitut in Biel studierte. Für das Manuskript seines ersten Romans, Buch der geträumten Inseln, erhielt er 2017 einen Werkbeitrag des Kantons Aargau und 2019 den Förderpreis des Kantons Solothurn. Er lebt in Olten.

Webseite des Autors

Hans Joachim Schädlich «Die Villa», Rowohlt

Hans Joachim Schädlich beweist mit seiner Art des Schreibens, dass sich Literatur durchaus der Schlichtheit, dem (scheinbar) Einfachen verschreiben kann, um Grossartiges zu erzählen. Der Autor erzählt die Geschichte eines Hauses und ihrer Bewohner. Wer im Laufe seines Lebens einmal ein Haus gebaut hat, weiss, wie sehr man dem Irrtum verfallen kann, man baue ein Stück Beständigkeit, vielleicht sogar Ewigkeit.

Ein zweiflügliges, schmiedeeisernes Tor, eine leicht geschwungene Auffahrt an einem Springbrunnen vorbei, im Erdgeschoss grosse Räume, Parkett und Stuck, ein Wintergarten, über dem Treppenpodest ins Obergeschoss ein grosses, hohes Bleiglasfenster, ein Turmzimmer. Die Gründerzeitvilla, von einer zu Reichtum gekommenen Familie 1890 gebaut, wird 1940, mitten im grossen Krieg das Zuhause der Familie Kramer. Hans und Elisabeth Kramer und ihre vier Kinder.

Als sie in die Villa einziehen, Vater Kramer längst eingeschriebenes Mitglied der NSDAP, prosperiert das Tausendjährige Reich. Man richtet sich ein für eine glorreiche Zeit. Elisabeth Kramer, die jung gar nicht heiraten wollte und von einer sozialen Aufgabe irgendwo auf der Welt träumte, schob man in eine kaufmännische Lehre und in den sicheren Hafen der Ehe. Auch Hans hätte gerne studiert. Aber da der Vater Drogerien besass und Nachfolgesorgen, war schnell klar, in welche Richtung das Leben verlaufen würde, erst recht mit der Marschrichtung der Partei.

Hans Joachim Schädlich «Die Villa», Rowohlt, 2020, 192 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-498-06555-3

Hans ist kein strammer Nazi, seine Frau Elisabeth noch viel weniger. Aber man richtet sich mit und in den Umständen ein. Der Nationalsozialismus ist Naturgesetz, so wie das generelle Misstrauen, die Judenfeindlichkeit und der logisch scheinende Weg in einen Krieg. Den Kramers geht es schliesslich gut und man ist überzeugt, einer Herrenrasse anzugehören. Man ist erfolgreich, hält sich Gärtner, Kindermädchen, feiert Feste und pflegt Beziehungen zu Parteispitzen. Bis nach der Katastrophe von Stalingrad der Wind zu drehen beginnt, man vorsichtiger wird und vor allem Elisabeth den herannahenden Zusammenbruch erahnt.

Irgendwann reicht das Geld nicht mehr. Man verkauft die Villa, zieht sich ins Obergeschoss zurück. Die Amerikaner fahren mit ihren Jeeps im Ort ein. Es gibt Kaugummis und Zigaretten. Später fällt der Ort in die sowjetische Zone. Der Russe kommt, man muss in eine kleine Mietwohnung umziehen, kann nur das Nötigste mitnehmen.

Hans Joachim Schädlich erzählt wahrscheinlich die Geschichte seiner Familie. Was am Roman des Schriftstellers begeistert, ist aber nicht einmal so sehr die Geschichte der Familie, die durch die Wirren der Zeit gespült wird. Es ist die Geschichte dieses Hauses, mit Selbstbewusstsein gebaut, für Grosses bestimmt. 2008 wird die Villa abgerissen, muss dem Fortschritt weichen. Kurz vor ihrem Abbruch, aus der Villa ist ein Pflegeheim geworden, besucht Elisabet zusammen mit ihrem Sohn noch einmal jenes Haus, das für wenige Jahre, in den Glanzzeiten des Tausendjährigen Reiches, zum Stammhaus einer aufstrebenden Familie hätte werden sollen.

Aber was am Roman Hans Joachim Schädlichs wirklich fasziniert, ist die Lakonie seiner Sprache, seines Erzählens. Er zeichnet mit einem spitzen Stift, malt nicht aus, verliert sich mit keinem Satz. Wo andere mit der grossen Kelle ans Werk gehen, bleibt Hans Joachim Schädlich beim Wesentlichen, hangelt sich am Gerüst durch die Zeit. Umso mehr steigen bei mir selbst die Bilder auf, füllen sich mit Farben, Stimmungen, sogar mit Gerüchen. Hans Joachim Schädlich ist eine Ikone!

Interview mit Hans Joachim Schädlich:

In „Die Villa“ ist die Protagonisten nicht aus Fleisch und Blut, sondern eine Villa in Reichenbach, erbaut in der Gründerzeit, Ende des 19. Jahrhunderts. Im letzten Kapitel besucht die greise gewordene Frau Kramer noch einmal die Villa, kurz bevor das Gemäuer weichen muss und abgerissen wird. Es ist die Geschichte eines Hauses über mehr als ein Jahrhundert bis in die Neuzeit. Häuser erzählen Geschichten, alte Häuser viele Geschichten. Sie sind die Bühne, die Kulisse, flüstern von Zeiten, die längst vorbei sind. Mauern suggerieren Beständigkeit, beinahe Ewigkeit, zumindest aus menschlicher Sicht. Rückt Geschichte mit fortschreitendem Alter in ein anderes Licht?
Geschichte offenbart sich mit fortschreitendem Alter immer klarer, zumindest aus meiner Sicht.

Kramers, die mitten im letzten Weltkrieg die letzten „grossbürgerlichen“ Bewohner dieser Villa waren, waren das, was die meisten im Tausendjährigen Reich waren; wenn nicht stramme Nazis, dann doch mindestens überzeugt davon, dass Parteizugehörigkeit unverzichtbar ist, erst recht als Unternehmer und Arbeitgeber. Damals die Partei, heute der Glaube an stetes Wirtschaftswachstum und Konformismus?
Es bedarf wohl der Kompetenz vom Soziologen, Wirtschaftsfachleuten und Historikern, um Ihre Frage zu erörtern.
Ich bemerke zumindest, dass man es damals und heute mit grundsätzlich verschiedenen Bedingungen zu tun hat. Damals herrschte die Nazidiktatur in Deutschland und seit den vierziger Jahren in fast ganz Europa. Heute gibt es in einem freien Europa gemeinsame, regulierende Behörden (EU).

Ihre Sprache ist glasklar, ihre Sprache Programm. Sie hat nichts Verschwenderisches, ihre Sätze mäandern nicht um ihrer selbst willen. Sie bauen mit ihren Sätzen keine dicken Mauern, keine tiefen Keller. Aber ein filigranes, fast durchscheinendes Gefüge, das in die Höhe strebt. Kurze Kapitel, jedes wie ein Bild. Sie erklären nicht, deuten und ergründen nie. Alles liegt bei mir, dem Leser. Was ist bei ihrem Schreiben oberste Maxime?
Ein poetisches Prinzip meiner Schreibarbeit besteht darin, Denkräume für die Phantasie des Lesers zu schaffen. Manche nennen das lakonischen Stil. Das Mittel des lakonischen Stils ist – informationstheoretisch gesprochen – die Reduktion redundanter Ausdruckselemente.
Ein anderes Prinzip ist bei historischen Stoffen die geschichtliche Präzision. Die umfangreichsten Recherchen habe ich wohl für meinen Roman „Tallhover“ betrieben. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte z.B. für das Kapitel über Lenins Reise im April 1917 aus der Schweiz über Deutschland, Schweden, Finnland nach Petrograd keine präzisen Daten ermittelt, dann hätten Leser, die das nachprüfen können, vielleicht gemeint, das Ganze stimme gar nicht. Diese Reise gewann aber welthistorische Bedeutung. Aus der historischen Präzision folgt die Glaubwürdigkeit des Textes.

So wie die Denkmalschutzbehörde am Schluss, kurz vor Abbruch der Villa „für die Nachwelt“ eine photogrammetrische Erfassung der Liegenschaft vornimmt, hält man bei der Beerdigung einen Nachruf am Sarg des Verstorbenen. Ein paar Eckdaten, ein paar Geschichten. Sie setzen dem Haus, den Menschen, die darin wohnten ein Denkmal, aber ohne mahnenden Finger: „Denk mal!“ Wo lag der Anfang ihres Buches auf dem man die Bezeichnung „Roman“ vergeblich sucht?
Der Anfang des Buches lag in dem Wunsch begründet, die Villa und ihre Bewohner – eine deutsche bürgerliche Familie in den dreissiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts – in einer Kombination aus Fakten und Fiktion gleichnishaft zu verknüpfen, exemplarisch für Aufstieg und Niedergang.

Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den Sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?
Ich habe in letzter Zeit Daniil Charms, der mit bürgerlichem Namen Daniil Juvacev hiess, für mich entdeckt. Er ist 1942, im Alter von 37 Jahren, in einem sowjetischen Gefängnis in Leningrad  verhungert. Seine Arbeiten wurden in der Sowjetunion erst in den Zeiten der Perestroika gedruckt. Peter Urban, der große Cechov-Übersetzer, hat als erster „Charms“ ins Deutsche übersetzt. Im Galiani Verlag ist von 2010 – 2011 eine vierbändige „Charms“-Ausgabe erschienen. 

© Jürgen Bauer

Hans Joachim Schädlich, 1935 in Reichenbach im Vogtland geboren, arbeitete an der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin, bevor er 1977 in die Bundesrepublik übersiedelte. Für sein Werk bekam er viele Auszeichnungen, u. a. den Heinrich-Böll-Preis, Hans-Sahl-Preis, Kleist-Preis, Schiller-Gedächtnispreis, Lessing-Preis, Bremer Literaturpreis, Berliner Literaturpreis und Joseph-Breitbach-Preis. 2014 erhielt er für seine schriftstellerische Leistung und sein politisches Engagement das Bundesverdienstkreuz. Hans Joachim Schädlich lebt in Berlin.

Rezension von «Felix und Felka» von Hans Joachim Schädlich auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Jürgen Bauer

Steffen Schroeder «Mein Sommer mit Anja», Rowohlt

Während eines Sommers kann sich alles ändern. Alles. Zumindest für einen Jungen zwischen Kindheit und Erwachsensein. Die festgelegte Ordnung, das ewige Ticken des Einerlei, die Selbstverständlichkeit, die man nie in Frage stellt, obwohl einem die Welt der Erwachsenen suspekt erscheint. Steffen Schroeder hat in seinem Roman die Hitze eines Sommers nacherzählt, die Hitze über einem kleinen Stück Glück, das verglüht.

Konrad teilt den Sommer mit Holger, einem geistig behinderten Jungen aus der Nachbarschaft, der in jenem Sommer zwar achtzehn wird, seinen um einige Jahre jüngeren Freund aber wie einen grossen Bruder sieht. Für ein paar Sommerwochen befreit von der Schule verbringen sie ihre Tage im Freibad Floriansmühle, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich ihr karges Taschengeld durch Pfandflaschengeld aufbessern können, weil Konrad nicht viel anzufangen weiss mit dem wichtigtuerischen Gehabe seiner Klassenkameraden und weil die Mädchen in seinem Alter auf einem andern Stern leben. Weil er mit den Jungs, die Fussball spielen nicht mithalten kann und weil ihm die ewigen Streitereien seiner Eltern auf den Wecker gehen.

Erstes Zeichen dafür, dass der Sommer nicht sein wird, wie all die andern bisher, ist das Versteck, das er und Holger im Unterholz verborgen finden, der tote Specht unter ihrem Kletterbaum und die Plastiktüten in ihrem Versteck, die verraten, dass sie nicht die einzigen sind, die das Versteck nicht weit vom Bach nutzen.

Anja taucht auf. Ein Mädchen, das so ganz anders ist wie alle, die er sonst kennt. Anders als Jasmine, die Schwester seines reichen Klassenkameraden, die in ihren rosa Klamotten aussieht wie aus einer Mädchenzeitschrift entstiegen. Anja hat kurze Haare, als wären sie selbst geschnitten, trägt Kordhosen, keine Jeans wie alle andern, kennt jedes Kraut, das wächst und gibt sich selbst im Freibad, als sie sich umzieht, unbekümmert, als ginge sie die Welt rundum nicht wirklich etwas an.

Steffen Schroeder «Mein Sommer mit Anja», Rowohlt, 2020, 208 Seiten, 28.90 CHF, ISBN: 978-3-7371-0071-7

Konrad ist gleichermassen fasziniert wie Holger. Erst recht als klar wird, dass Anja vom nahen Heim ausgebrochen ist und klar macht, dass sie lieber sterben würde, als in den Bau zurückkehren zu müssen. Aus einer zaghaften Annäherung wird ein Dreigespann. Und als Anja immer mehr Nähe zulässt, Konrad bittet, ihr Geschichten zu erzählen, als sich die Tage nur noch um ihr Zusammensein zu drehen beginnen und Konrad in Kauf nimmt, von seinen Eltern Schelte zu kassieren, schleicht sich jenes Verliebtsein ein, jene zarte, erste Liebe, die alles andere zur Nebensache werden lässt. Sie sitzen am Fluss, nehmen Anja mit ins Freibad, sie hocken in ihrem Versteck oder stromern durch die Gegend.

Aber Konrad spürt, dass er durch Anja einer Welt begegnet, die mit der seinen nichts gemein hat. Was Anja erzählt, ist wenig. Der Sommer wird zu einer Blase ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Erst als Konrad und Anja im Wald bei wild gebauten Hütten von Stadtstreichern aufgestöbert werden, als in den Zeitungen von einem aus einem Heim ausgebüxten Mädchen geschrieben wird, als Konrad und Holger sehen, mit welcher Gier das Mädchen die von zuhause mitgebrachten Lebensmittel vertilgt, spürt Konrad, dass seine Welt mit der des Mädchens nicht viel gemein hat. Trotz all der Nähe, den zaghaften Berührungen, den flüchtigen Küssen. 

Steffen Schroeder erzählt von einem heissen Sommer, in dem Konrad seine Unschuld verliert. Von einem Sommer, der ihn aus der Kindheit katapultiert. Von einem Sommer, der ihn mit einer offenen Wunde zurücklässt, in dem der Verrat über die Liebe siegt und das eigene Tun und Lassen zu einer Katastrophe werden kann. Konrads Ahnung, dass das Leben nicht bloss aus Wassereis, den Top Ten aus dem Radio und der Sehnsucht nach Nähe besteht, dass es ein Leben ausserhalb aller Konventionen gibt, an der Grenze zwischen Kindheit und Erwachsensein, bricht über den Jungen, wie Hagel, Blitz und Donnerschlag zugleich.

„Mein Sommer mit Anja“ ist die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies.

Interview mit Steffen Schroeder:

Konrad und Holger haben ein Geheimnis. Anja. Aber vielleicht macht das das Wesen von Geheimnissen aus. Der Unterschied zwischen jenen in der Kindheit und jenen als Erwachsener. Ein Geheimnis ist nicht einfach nur mehr etwas Verborgenes, sondern das, was den Träger eines Geheimnisses zum Schuldigen macht, wenn auch nur sich selbst gegenüber. Konrad erfährt existenziell, dass Geheimnisse tiefe Wunden reissen können. Ist Schreiben eine Form der Wundheilung?
Für mich auf jeden Fall. Ich habe schon als Kind Erlebtes in kleinen Geschichten verarbeitet oder in Tagebucheinträgen. Es gibt Texte, die schreibe ich nur für mich. Und andere, bei denen ich mich sehr freue, wenn ich sie mit möglichst vielen Menschen teilen darf.

In der Kindheit wächst man auf in der von den Eltern mehr oder weniger behüteten Familie. Die Pubertät ist nicht nur die Zeit der Verselbstständigung, der Loslösung, sondern auch die Zeit der Ernüchterung darüber, dass die Welt nicht den eigenen Vorstellungen entspricht. Wird die Ernüchterung nicht mit jedem Jahrzehnt schmerzhafter, so sehr, dass die Jugendlichen der Gegenwart allen Grund hätten, einer kollektiven Depression zu verfallen?
Das glaube ich nicht. Der Spruch „Früher war alles besser“ galt ja schon immer. Und ich stelle fest: So sehr mich dieser Ausspruch als Kind genervt hat – mit zunehmendem Alter muss man aufpassen, ihn nicht selbst zu verwenden. Letztens las ich einen Artikel, der mit einer Abhandlung über den kuriosen Umstand begann, dass heutzutage jeder überallhin reist. Der Witz war: Die so heutig wirkende Einleitung stammte von Theodor Fontane.
Und was die Depression angeht: Die Jugendlichen von heute haben unglaubliche Möglichkeiten und Freiheiten, wie es sie in diesem Ausmass noch nie zuvor gegeben hat: Man kann sich frei entscheiden, welchen Beruf man ausüben will, wo man leben will, ob und wen man heiraten will, welche Form der Sexualität man leben will und welches Geschlecht man gerne haben möchte. Die Kehrseite der Medaille: Wenn alles offen ist, muss man überall Entscheidungen treffen. Und das ist nicht immer einfach. Hinzu kommt die Angst: Jede Entscheidung, die ich treffe, kann die falsche sein. Und schliesst automatisch eine andere Option aus. So grossartig und verlockend diese Freiheit ist, ich stelle im Umfeld meiner grossen Söhne fest: Viele Jugendliche tun sich nach dem Abitur schwer, überhaupt irgendeine Entscheidung zu treffen, egal in welchem Bereich. Und verfallen in eine Depression. Das kann ich durchaus verstehen.
Übrigens fällt mir dazu ein: Ich habe mich ja bei meinem ersten Buch ausgiebig mit dem Gefängnis und seinen Insassen beschäftigt. Und genau dieses Verhalten kenne ich auch von Langzeithäftlingen, die nach vielen Jahren vor der Entlassung stehen. Die plötzlich in Aussicht stehende Freiheit, Freiheit auf allen Ebenen, überfordert sie. Und sie werden häufig depressiv. Ich glaube, Freiheit muss man lernen.

Holger, Konrads Freund, ist zurückgeblieben, Konrad der einzige, der ihm nicht die kalte Schulter zeigt, Holgers Mutter eine Frau mit langen schwarzen Haaren und dem Kämpferherz eines Indianers. Holger, seine Mutter, Anja – alles Figuren, die nichts mit der Biederkeit der späten Achtziger gemein haben. Kann man sich allein durch Erinnerung in jene Zeit zurückschreiben oder brauchten sie Hilfe; Bilder, Geschmäcker, Düfte, Musik, Filme?
Vielleicht kann man es, aber mir wäre es definitiv zu trocken. Und so habe ich mich all dieser Hilfsmittel bedient: Musik, Geschmackssinn und Gerüche funktionieren bei mir da besonders gut – mit diesen „Transportmitteln“ konnte ich mich schlagartig in die 80er Jahre versetzen und hatte viel Spass daran!

Sie sind Schauspieler und Schriftsteller. Geben Sie sich mit ihrem Roman die Hauptrolle in ihrem eigenen, inneren Film? Oder entspricht das Schreiben viel mehr der Sehnsucht nach einer gewissen Ordnung im Leben?
Das Schreiben ermöglicht mir Geschichten so zu erzählen, wie ich sie fühle. Das ist das Grossartige daran. Ich kann alles laufen lassen, so wie es in mir entsteht. Das ist eine grosse Freiheit, die ich gar nicht genug schätzen kann.
Als Schauspieler unterstehe ich ja immer einem Regisseur, der wiederum einem Intendanten untersteht, der wiederum auch von politischen Gegebenheiten abhängig ist. Oder ich folge den Anweisungen eines Fernsehregisseurs, der einen Produzenten zufriedenstellen muss, der es wiederum seinem Redakteur Recht machen will und dieser seinem Chefredakteur; die Quote muss am Ende stimmen und so weiter… und dann spielt das Geld natürlich noch eine Riesenrolle.
Da stellt sich oft nicht mehr die Frage, wie erzählen wir unsere Geschichte am schönsten? Sondern wie erzählen wir die effektvollste Geschichte, zum günstigsten Preis, mit breitestmöglicher Zielgruppe?
Wenn ich jedoch schreibe, kann ich alles einfach so entscheiden, wie es der Geschichte dienlich ist – und Punkt. Zumindest wenn man das Glück hat, bei so einem wunderbaren Verlag wie Rowohlt Berlin zu sein. Für mich ein riesiges Geschenk.

Das Schreiben eines Buches begleitet einem über Jahre. Es teilt Leben bis in die kleinsten, feinsten Sequenzen. Und selbst, wenn die Musik jener Zeit in ihrem Roman eine wichtige Rolle spielt, bleiben die Bilder über lange Strecken stumm. Was ist der Schriftstellerei und der Schauspielerei gemeinsam?
Letztendlich geht es doch immer ums Geschichten erzählen, ob als Schauspieler oder als Schriftsteller. Ich denke, da kommen diese beiden Berufe her. Vor langer, langer Zeit sind Minnesänger durch die Lande gereist und haben den Menschen ihre Geschichten erzählt und vorgetragen. Aus diesem Beruf sind Schriftsteller und Schauspieler hervorgegangen. Insofern liegt für mich beides ganz nah beieinander. Und auf einen Nenner gebracht: Egal ob ich spiele oder schreibe: Ich möchte gerne Menschen berühren. Darum geht es mir.

© Anne Heinlein

Steffen Schroeder wurde 1974 in München geboren. Nach seiner Schauspielausbildung war er zunächst Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater, dann beim Berliner Ensemble. Er wirkte in Fernsehserien und Kinofilmen mit. 2017 erschien bei Rowohlt «Was alles in einem Menschen sein kann. Begegnung mit einem Mörder». Steffen Schroeder lebt mit seiner Familie in Potsdam.

Webseite des Autors und Schauspielers

David Wagner «Der vergessliche Riese», Rowohlt

Er besucht seinen Vater. Einen Vater, der sich ungewollt immer mehr von ihm entfernt. Einen Vater mit Demenz. Dieses grosse Vergessen, das einem einen Menschen wegnimmt, immer weiter weg, bis dieser trotz körperlicher Nähe ganz entschwindet, bis sich das Vergessen durch alles hindurchgefressen hat.

Als Arno Geiger 2011 seinen Roman „Der alte König in seinem Exil“ veröffentlichte, war es ganz offensichtlich für viele Leserinnen und Leser, als hätte da jemand ihre eigene Geschichte aufgeschrieben, die Geschichte einer unaufhaltsamen Abkehr, die Geschichte um einen an Alzheimer erkrankten Vater. Ich war an einer Lesung des Schriftstellers, an der er schon zu Beginn der Lesung klarmachte, dass er weder Fachmann in Fragen zu dieser Krankheit sei und auch keine Lust habe, eine Pandorabüchse zu öffnen.

David Wagner erzählt die Vater-Sohn Geschichte bis zu jenem letzten Satz: „Wer sind eigentlich deine Eltern?“ Eine Erzählung über einen langen, unvermeidbaren Abschied. David Wagner erzählt von den Besuchen des Sohnes bei seinem Vater. Zuerst im Glashaus in Andernach, später in der grossen Villa für Demenzkranke am Rhein. David Wagner schildert Begegnungen, in denen er Dialoge in Echtzeit erzählt, wie sich Wiederholungen immer mehr ausbreiten, die Entfernung aus der Gegenwart immer grösser wird. David Wagner tut dies so schlicht und geradlinig, dass ich mich tief in die Begegnungen hineingezogen fühle, ohne dass der Schriftsteller je in eine sentimentale Ebene abrutschen würde. Ich werde unmittelbarer Zeuge eines Verschwindens. Ich werde durch die immer gleichen Fragen des Vaters, der äusserlich noch immer rüstig und agil erscheint, durch die herzlich hartnäckigen Antworten des Sohnes tief in dieses Gefühl hineingesogen, als würde die Insel im Meer des Vergessens Stück für Stück wegbrechen und immer kleiner werden. Nur die fernen Streifen in der Vergangenheit, die Bilder aus der Kindheit aus der Familiengeschichte während und nach dem grossen Krieg, sind unmittelbar, als würden sie wie Wetterwolken in die absolute Windstille des Vergessens einbrechen.

Es sind nicht die Geschichten der Familie, nicht die Episoden von Vater und Sohn, auch nicht die zuweilen auftretende Komik, sondern die Art und Weise, wie David Wagner über diese Besuche schreibt, seine Zurückhaltung, seine Liebe, seine Behutsamkeit, sein Respekt. Wenn ein Vater nur mehr in der Erinnerung der Riese ist, der einem auf seinen Schultern durch das Leben trägt.

Es wird bei Lesungen aus diesem Buch ganz ähnlich sein wie bei Arno Geiger. David Wagner macht eine Tür auf, von der wir lieber wollen, dass sie geschlossen bleibt. Und für all jene, die gezwungen wurden hindurchzugehen, jenen Menschen an der Hand zu nehmen, weil ein Gang alleine immer unmöglicher wird, jenen gibt er zwar keine Hoffnung, aber den Mut, den Zauber einer Kleinigkeit. Der Vater ist schlussendlich im Pflegeheim, im Waisenhaus für alte Kinder. Ausgeschlossen von den Erinnerungen, die nicht mehr einzuordnen, nicht mehr kontrollierbar sind. Eingeschlossen ins Vergessen. Und wenn dann diese Vater-Sohn-Gespräche mit einem Mal voller Tiefe, Weisheit und Wissen strahlen, dann wird klar, dass Demenz nicht nur ein dunkler, schwarzer Abgrund sein muss.

© Linda Rosa Saa

David Wagner, 1971 geboren, debütierte mit dem Roman «Meine nachtblaue Hose». Sein Roman «Vier Äpfel» stand er auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. 2013 wurde ihm für sein Buch «Leben» der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen, 2014 erhielt er den Kranichsteiner Literaturpreis und war erster «Friedrich-Dürrenmatt-Gastprofessor für Weltliteratur» an der Universität Bern. «Der vergessliche Riese» brachte ihm 2019 den Bayerischen Buchpreis und eine Platzierung auf der Shortlist für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis ein. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin.

Rezension von «Ein Zimmer im Hotel» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild: Sandra Kottonau