«Literaturbüro Gallus Frei» Texte von Christine Fischer, «Tag der offenen Tür» im Mai 2023

Uuszog useme Interview met em Gallus Frei

– Tue doch kes Büro uf!
– Mou! Gnau das wotti: Es Büro uftue! 
– För was? Ged’s ned scho gnueg Büro?
– Settegi ned, nei!
– Settegi … Meinsch du bsonderegi?
– Jo, mou – das wett ech met eme gwösse Stouz behoupte!
– Was esch öberhoupt es Büro?
– Hmmmh … es Büro esch e Ruum ond e dem Ruum passiert öppis Bestemmts!
– Hesch scho bestemmt, was das Bestemmte söu sy?
– Klar! Meinsch, ech eröffni e Ruum em loftlääre Ruum?!
– Aaaha! Du eröffnisch auso e Ruum em Ruum … esch das rechtig?
– Me chönnt’s eso uusdröcke. Es ged eigentlech gar nüd anders of dere Wäut aus Ruum em Ruum. Wechtig esch, was deby entstoht!
– Äbe! Ond was wär das, wemmer daf frooge?
– Das chan-ech zom jetzige Zytponkt ned gnau ustüütsche. Was feschtstoht: Eso-n-es Büro esch es «work in progress», kes Fertigprodukt!
– Danke! Jetz han-ech aber no e ganz grondsätzlechi Froog: Hesch du dä Ruum besch du dä Ruum?
– DU stöusch Froge … aber mosch entschoudige: Of die verautet Buechhautig wett ech mech hött lieber ned iiloh.
– Wieso ned?
– Wöus för d’Föchs esch! Aber wenn partout en Antwort muess sy: Ech be de Ruum, won’i ha … Haut – no besser : Ech be de Ruum, wo n’ech mer neme. Gnau. Das esch es!
– AHA! Das verstohni. Hättsch’es ou grad vo Aafang a chönne sääge.

Karsten Redmann liest aus seinem Erzählband «An einem dieser Tage».


Ruum ond Zyt

Me seid, s’Alter isch Zyt, wo verstriecht. Isch s’Alter ned au e Ruum, wo mer föllt? Wo mer föllt mit sich sälber? Mit de Art, wie mer s’Läbe aapackt? Klar, me wird au vom Läbe säuber am Chraage packt, gschöttlet und drinumegwirblet. Dem cha niemer entgoh. Ich glaube, s’Läbe isch grösser als ich sälber, viel grösser. En unändlech grosse, vielfältige Ruum. En einzigi grosse Iiladig, mich drininne z’bewege.

«Schön war’s, Gallus, bei der Eröffnung deiners Literaturbüros! Was für ein schmucker Raum, die vielen Bücher, der gute Wein, die Gespräche … in so einem Ambiente dann auch noch vorlesen zu dürfen, das beglückt, weil: fast wie in der eigenen Stube fühlt man sich doch sehr aufgehoben. Alles Liebe dir für all deine Projekte!» Laura Vogt liest aus ihrem Roman «Die liegende Frau». 



Ein Raum muss sein must wachsen un wölben un schalten un walten und hegen un pflegen de Bausch vo die Wörter die Reihen und Ranken die Auswüchs un Schranken must sammeln un schützen must stützen die Pfützen der Tinten und Tanten un aller Verwandten die Lesestoff bunkern un Lesestoff fressen und völlig vergessen dass das was sie lesen mit einem Langbesen kann weggewischt werden im Nu un dann zeterest du nach mehr Poesie dem Niemalsversiegen und Niemalserliegen des sprudelnden Quell im Büchergestell im Kopf und im Herzen die Freud und die Schmerzen ich sag dazu nur: Lang lebe die Literatur.

Alle Texte sind von Christine Fischer. Gallus Frei dankt der Schriftstellerin für die Erlaubnis, die Texte an dieser Stelle zu veröffentlichen.

Sommerfest im Literaturhaus Thurgau

«Der Wod» mit Silvia Tschui & Philipp Schaufelberger und «Textkiosk» mit Laura Vogt & Karsten Redmann

Frédéric Zwicker, Karl Rühmann, Urs Faes, Peter Stamm, Usama Al Shahmani, Michael Hugentobler, Annette Hug, Stefan Keller, Jochen Kelter, Dragica Rajčić Holzner, Annina Haab, Zsuzsanna Gahse, Ivna Zic, Lubna Abou Kheir, Michael Fehr, Thomas Kunst, Christoph Luchsinger, Christine Zureich, Christian Uetz, Charles Linsmayer, Silvia Tschui, Klaus Merz, Isabella Krainer, Lea Frei, Marianne Künzle, Sasha Filipenko, Nora Bossong, Peter Weibel, Rudolf Bussmann, Simone Lappert, Andreas Bissig

Das waren die Gäste in der vergangenen Spielzeit: Prosa, Lyrik, Musik, Installation, Illustration

Die Quellen, aus denen ein Literaturhaus schöpfen kann, sind unermesslich. Das, was kommen wird, wird nicht nur die Besucherinnen und Besucher der einzelnen Veranstaltungen begeistern, sondern auch all jene, die etwas von ihrer Kunst in diesem Haus zum besten geben werden.

Silvia Tschui mit ihrem Roman «Der Wod»

Urs Faes schrieb zum 20. Jubiläumsjahr unseres Literaturhauses:
„Es gibt Schreib-Orte und es gibt Orte des Lesens und beide sind Wort-Orte. Und Orte von Ankunft und vorläufiger Heimat: das ist das Bodmanhaus in Gottlieben für Schreibende, für Lesende, auch für mich. Schreib-Orte sind jene, wo der Text Ort, Gestalt und Sprache findet, eine vorläufige Ankunft: das Schreiben, das gelingt.
Und der Lese-Ort ist jener, wo der Text zum Lesenden findet, zum Dialog, zum Gespräch und damit erst Buch wird: in der Begegnung. 
Gottlieben ist immer beides.

Ein Ort hat immer etwas Unverwechselbares, ein besonderes Licht in der Dämmerung, ein Duft von See und Grenze, eine Verfärbung der Erde, ein Ufer mit Schattenspiel, Wasser, wo Schiffe treiben, ein Haus mit knarrenden Treppen und Atmosphäre von alten Schriften und sirrenden Balken, die Atmosphäre des Besonderen – Magie, die zum Bleiben einlädt.
Erwartungsvoll gespannte Gesichter von Lesenden und Hörenden.
Das alles hat das Bodman-Haus in Gottlieben, diesen Hauch von Grenze und grossen Dingen, von Verheissung und Magie. Und es ist alles: Ist Schreib-Ort, wo einer Sprache finden kann, Lese-Ort, wo Lesende Lauschende werden, Sehnsuchtsziel und ein wenig Wallfahrt: zu Schreibenden und Büchern, zu Begegnungen und Gesprächen, ein Ort zum Finden des Eigenen im Fremden.»

Zusammen mit Urs Faes machte ich manchen Spaziergang. Schreiben und Lesen in diesem Haus ist ein Geschenk. Nicht nur für Urs Faes. Mit allen Gästen, die hier wirken mit denen ich ins Gespräch kam, schwärmen diese von den Besonderheiten, der Magie dieses Ortes. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit der Schriftstellerin Mercedes Lauenstein, die sich zum Schreiben für ein paar Wochen in diesem Haus einquartierte. Sie erzählte davon, wie sehr dieses Haus zu einem Resonanzraum werden kann, Empfindungen verstärkt, dem Stillen eine Stimme geben kann.
Vielleicht wirkt ja noch etwas von dem Geist, den Emanuel von Bodman vor mehr als 100 Jahren erwirken wollte, gingen doch damals schon Dichter wie Rainer Maria Rilke oder Hermann Hesse in diesem Haus ein und aus. Es sollte ein Ort der Begegnung sein, ein Ort der Muse, ein Ort des gegenseitigen Beschenkens.

Silvia Tschui & Philipp Schaufelberger

Das Literaturhaus Thurgau ist ein Leuchtturm in der Literaturlandschaft Schweiz. Ein unverzichtbarer, ein weit in die Ferne leuchtender.

Auch wenn mich im Gespräch mit durchaus Leseinteressierten immer wieder die Überraschung trifft, dass viele von der Existenz dieses Hauses gar nicht wissen, bin ich überzeugt, dass wir in diesem Kanton mit diesem Haus allen Grund hätten, uns mit geschwellter Brust in der Kulturlandschaft Schweiz zu positionieren. Nicht nur weil die Bodman-Stiftung und der kleine Kanton Thurgau seit 22 Jahren ein eigenes Literaturhaus tragen, sondern weil die Liste derer, die in diesem Haus lasen, für mich als Literaturliebhaber und -geniesser mehr als beeindruckend ist. Weil ich jedes Mal, wenn ich im Haus oder ums Haus bin, wenn ich Menschen durch die Räume führe, wenn sich alles aufs Wort fokussiert, spüre, dass dieser Ort, dieses Haus ein Kraftort ist.

Klar wünschte ich diesem Haus mit jeder Veranstaltung ein volles Haus, ein Publikum, das sich auf Abenteuer einlässt. Klar weiss ich, dass mit den Geschehnissen in den vergangen zwei Jahren viele, vor allem ältere Stammgäste dieses Hauses, aus lauter Vorsicht den Weg nach Gottlieben nicht mehr so oft oder gar nicht mehr auf sich nehmen. Umso mehr danke ich ihnen, die sie hier sind und mit uns dieses kleine Sommerfest feiern. Dass sie hier sind und dem Haus mit jedem Besuch die Ehre erweisen, auf dass es seinen Platz in der Kulturlandschaft rechtfertigen kann, auch wenn Medien kaum Notiz von dieser Quelle nehmen.

«Textkiosk» mit Laura Vogt & Karsten Redmann

An diesem Sommerfest bieten wir ihnen ein ganz besonderes Geschenk, nicht nur Speis und Trank, sondern Literatur in vielfacher Form und Musik. Um 20 Uhr mit Lesung und Konzert mit Silvia Tschui und Philipp Schaufelberger, die ihnen bereits eine Kostprobe gaben und bis 20 Uhr mit dem Textkiosk, mit und von Laura Vogt und Karsten Redmann. Laura Vogt, die mit ihrem letzten Roman „Was uns betrifft“ schon einmal Gast hier war und Karsten Redmann, der mit dem Erzählband „An einem dieser Tage“ Vorfreude auf seinen Roman schürt, schreiben für sie im «Textkiosk“ Texte. Besuchen sie den Tisch mit den beiden SchriftstellerInnen. Erstehen Sie sich kostenlos ein Unikat, ein literarisches Kleinod, ein ganz besondere Erinnerung an den denkwürdigen Sommer 2022. Seien Sie mutig! Zwei, drei Wörter an die beiden und ihr Schreibmaschinengeklapper geht los. Und natürlich dürfen Sie den beiden über die Schulter gucken. Wenn hat man schon die Gelegenheit, SchriftstellerInnen bei ihrer Arbeit zuzuschauen!

Zum Schluss, liebe Gäste, möchte auch ich danken. Zum einen der Bodman-Stiftung, seinen Stiftungsräten, bei der Kulturstiftung Thurgau, dem Kulturamt Thurgau, bei Sandra Merten, der Buchbinderin im Erdgeschoss für die Betreuung der Webseite und die Freundlichkeiten allen Gästen des Hauses gegenüber. Ganz besonders aber Brigitte Conrad, die für dieses Haus viel mehr als eine Sekretärin ist. Brigitte Conrad ist das Rückgrat dieses Hauses. Ich verneige mich.

Und dann ganz zum Schluss: Das neue Programm ist in Druck. Wenn Sie es erhalten, tragen Sie es hinaus zu all jenen, die nicht einmal wissen, dass in Gottlieben der Nabel der Muse zu finden ist. Und vergessen sie nicht: Das aktuelle Programm bietet im September drei ultimative Highlights!

Geniessen Sie die Perlen!

Gallus Frei-Tomic, Programmleiter Literaturhaus Thurgau

Samstag, 20. August, Sommerfest im Literaturhaus Thurgau: «Der Wod» mit Silvia Tschui und Philipp Schaufelberger & «Textkiosk» mit Laura Vogt und Karsten Redmann

Jeden Sommer feiert das Literaturhaus mit einem Sommerfest die Literatur, die Bodman-Stiftung, all die Zugewandten und FreudInnen – und sich selbst. Auch Sie sind eingeladen zu Speis, Trank und einem ordentlichen «Gutsch» Kultur mit:

Silvia Tschui – «Der Wod» mit Philipp Schaufelberger – Text, Sound und Gesang

In «Der Wod» (Rowohlt 2021) erzählt Silvia Tschui die Geschichte einer schweizerisch-deutschen Unternehmerfamilie, die von einem lange zurückliegenden Sündenfall bis in die Gegenwart verfolgt wird. Tschui, die 2019 für den Ingeborg Bachmann Preis nominiert war, berichtet von Geheimdienst-Agenten und Nazi-Widerständlern, von Berner Künstlerkreisen und Hell’s Angels – und nicht zuletzt vom Wod, dem Jäger einer norddeutschen Sage, der den Figuren dieser Familiensaga immer wieder als Personifikation der Angst erscheint. Das reichhaltige Personal ihres vielstimmigen neuen Romans präsentiert die Autorin in einer etwas anderen Form, nämlich mit Lesung, Gesang und Zufallsgenerator, begleitet von Philipp Schaufelberger an der Gitarre.


„Textkiosk“ mit den SchriftstellerInnen Laura Vogt und Karsten Redmann

Laura Vogt und Karsten Redmann schreiben Texte auf Bestellung. Ob kurze Briefe, Gedichte, kleine Geschichten – stets hantieren sie mit kunstvoll gedrechselten Satzgirlanden; allzeit das verbale Risiko suchend. Andere jonglieren mit bunten Bällen, wir werfen Worte in die Luft und wirbeln sie wild herum. Bei „Textkiosk“ heisst es: Jeder Text ein Unikat. Und alle Texte zusammen ergeben eine wunderbare Erinnerung an Ihr Fest. Mal surreal, mal witzig, mal tiefgehend, mal Dada; alles ist möglich. Neue literarische Welten zu erschaffen ist ihrer täglich Brot.

Der Anlass ist kostenfrei!

Karsten Redmann «Flawil bei Paris»

Wo es einen hinführt, wenn es einen fortführt; aus dem allseits Gewohnten, hin zu etwas Neuem. Flawil leuchtet. Und Paris? Mutet an, nur ein paar Strassen weit entfernt zu sein.

Es sind andere Zeiten, denke ich. Und dass diese etwas mit mir anstellen. Mich in Bewegung versetzen.

Und so ist es ja auch: Ich habe vorübergehend einen Ort durch einen anderen ersetzt; Sankt Gallen gegen Flawil. Und dieses Flawil, so scheint es, so sagt man, ist zwar nicht schön, aber doch wohl wert gesehen zu werden.

Also erkunde ich.

Die Sonne steht hoch. Ich gehe los, quere die Strasse, nehme die Brücke. Unter der Brücke liegen Schienen. Sie verbinden Ost mit West. Ein Zug passiert die Brücke, es vibriert. Geräuschvoll gleiten die Wagen unter mir hindurch. Meine Kapillare nehmen die Vibration umgehend auf.

Es ist einer der Züge, die weite Strecken zurücklegen. Links und rechts des metallenen Schienenstrangs leuchten Schilder in Blau. Ich lese «Flawil». Erst rechts, dann links. Gehe weiter. Über die Brücke hinaus. Folge dem Weg, in den Ort hinein.    

Das Gehen tut gut. Ich bin unterwegs. Nicht so wie gestern und vorgestern. Denn gestern und vorgestern sass ich oder lag ich, hinter einer dünnen Bretterwand. «So ein Bauwagen ist schlecht isoliert», hatte jemand zu mir gesagt – und das stimmt ja auch: die Nächte sind kalt.

Im Nachhinein ist mir, als hätte es gestern und vorgestern nicht aufgehört zu regnen. Unzählige silberne Bindfäden in der Luft. Kühle auf der Haut. Das Geräusch des Regens auf dem Dach des Wagens, ein ständiges Trommeln – tausende Finger auf dem Blech. Das ist heute anders. Heute ist das Draussen schön.     

Ich spaziere am Spital vorbei. Es ist ruhig. Kein Mensch auf der Strasse. An den Fenstern stehen Ärzte und Patienten. Folgen mit den Augen meinen Schritten. Kurz bin ich versucht zu winken, lasse es aber sein. Mit der Hand wische ich mir Schweiss aus dem Gesicht. Aus dem Nichts tauchen Filmsequenzen auf, bebildern meinen Kopf. Ich höre Schreie. Stumme Schreie.

Aber das macht doch keinen Sinn, denke ich.

Ich sehe Menschen hinter Glas. Offene Münder. Ich denke an Anstalten, weisse Kittel, und daran, wie schnell man diese an- und ausziehen kann. Auch denke ich an Blut, das an den Kitteln kleben bleibt. Früher oder später. Vor allem aber denke ich daran, wie sich Dinge verfestigen. Auch Muster und Rollen.  

Grundsätzlich versuche ich zu sehen was ist. Hin und wieder auch das Dahinter. Aber weit komme ich nicht. Einer geschlossenen Tür folgt die Nächste. Und es braucht unendlich viel Zeit sie zu öffnen.

Es braucht immer viel zu viel Zeit.

Jetzt: eine Fassade. Und ein Haus weiter: eine Fassade. Fenster. Türen. Dann andere Strassen. Sich kreuzende Wege. Grünflächen. Hunde. Lautes Bellen. Wieder Wege, die zu Häusern führen, Menschen dahinter. Unsagbar viele Vorhänge. In einem der Fenster: Kakteen. Auf der Fassade des Hauses prangt eine Sonne. Selbst in der Nacht ist ihre Wärme zu spüren. Man kann es sich denken.

Ich bin in der Ansichtnahme von Dingen und Menschen. Hole sie mit meinen Blicken näher heran. Mehr jetzt die Dinge als die Menschen. Warum das so ist? Vielleicht liegt es ja an der Widerspruchslosigkeit der Dinge. Sie wehren sich nicht. Das macht es einfacher.  

All diese Strassen sind mir neu. Ich kannte sie nicht. Und lerne sie jetzt kennen: den Teer, die gepflasterten Steine, links und rechts Gebäude – die einen bewohnt, die anderen wohl unbewohnt.

Es ist sehr still. Und in dieser Stille empfinde ich Stille. Und aus dieser heraus, betrachte ich. Betrachte ein Fenster mit zur Schau gestellten Dingen. Ich sehe eine Puppe in einem Wagen. Einen Plüschhund an einer Leine, die von keiner Hand gehalten wird. Ein Haus aus Pressspan mit vielen Zimmern und Figuren darin. Eine nachgestellte Welt. Ich koppele das, was ich sehe, an Gedanken, die ich habe. Es sind nicht viele; aber doch welche. Es könnte schlimmer sein, denke ich. Mit einem Mal die Frage: Was stellt man eigentlich aus, für wen, und warum? Warum diese eine Figur und keine andere? Fragen und Schaufenster haben etwas gemein, sie geben keine Antworten.       

Vor einem weiteren Schaufenster mit weiteren Dingen stehend, vergesse ich, wo ich eigentlich bin. Da ist ein Gefühl, das sich in mir entfaltet, sich breit macht, wie ein Teppich auslegt; auf dem ich stehe, dann gehe. Über Dinge hinaus. Ein paar Strassen weiter ist Paris, sagt mir mein Gefühl – und meint: Geh weiter. Bleib in Bewegung. Sieh genau hin. Und ich sehe genau hin, gehe den Dingen allmählich auf den Grund, wende Steine, grabe mit den Händen ein Loch, wühle auf.

Die Hitze macht meinem Körper zu schaffen. Ich suche Schatten. Finde Schatten. Grabe mich ein. Unter der Stadt ist eine andere Stadt. Eine Unter-Stadt. Sie hat Häuser und Wege, die anders aussehen. Wege, die ins Nichts führen. Häuser ohne Fenster. Zwischen den Gebäuden und auf den Strassen brennen Feuer. Das einzige was ich höre ist ihr Lodern. Stundenlang gehe ich die Wege der Unter-Stadt entlang. Ich nehme einfach hin, dass es sie gibt, diese Stadt unter der Stadt. Die Erde ist braun, Varianten von Braun. Am Ende eines schmalen Weges, der steil nach oben führt, wende ich den Kopf. Eine Bewegung in Richtung Himmel. Zwischen den Häusern, und deren mit roten Ziegeln bedeckten Dächern, leuchtet es Blau. Die Ober-Stadt, denke ich. Am Himmel kein Schwarz. Keine Flügel. Kein Schatten. Nur Licht. Es blendet.  

In der Nähe grösserer Einkaufsläden komme ich an einer Plakatwand vorbei. Treffe auf Menschen. Es sind nie mehr als fünf. Sie grüssen ohne Worte.

Überall, selbst in den kleinsten Strassen, zeigt sich etwas. Gibt sich als neu aus. Doch mit dem Gehen verliert sich das Neue. Ich eigne mir Orte an, schmiege mich an Angesehenes, mit den Augen Abgetastetes. Aber – ich verliere mich gleichzeitig. Meine Gedanken füllen ganze Strassen. Liegengebliebene, auf der Strecke gebliebene, Gedanken.

Ich summe ein Lied aus Kindertagen, es tut gut, es in meinem Inneren zu hören, ihm zu lauschen, den Tönen nachzugehen. So hole ich mich ein. Sammele mich auf. Ein Mann ruft ein Kind. Davon gehe ich zumindest aus, denn die Art wie er ruft, macht die gerufene Person klein. Es ist ein strenger Ton.

An einem Spielplatz bleibe ich stehen. Keine Kinder. Lange blicke ich auf den verlassenen Sandkasten, die Schaukeln, die leeren Sitzbänke. Eine Welle kommt auf mich zu, erst leise, dann lauter: ein französischer Chanson. An einem offenstehenden Fenster sehe ich eine junge Frau. Aus ihrer Wohnung dringt das Französisch. Ein Singsang.

Paris, denke ich, und meine Schritte werden schneller. Ein Junge mit riesigen Kopfhörern geht an mir vorbei. Auf seinem schwarzen Pullover prangt ein weisses Haus das auf dem Kopf steht. Aus den Fenstern des Hauses purzeln Menschen. Ihre Körper ebenfalls weiss. Sie hängen in der Luft. Jetzt verschwindet der Junge hinter der nächsten Strassenecke.

Der Eiffelturm, auf den Kopf gedreht, bohrt sich direkt neben meinen Füssen in den Boden. Ich stehe an einem der vier Enden. In der Erde, tief unter mir, die Spitze des Turms. Wie tief er wohl steckt? Irgendwie ist alles verdreht.

Ich gehe weiter. Gehe um Ecken herum. Hier eine Mauer, da ein Garten, alles sauber getrennt. Hier das eine, da das andere. Hier jetzt ein speiender Zwerg an einem Teich. Das Gurgeln des Wassers. Ein Garten aus Stein. Balkone. Wörter und Sätze, die von Balkonen fallen. Ich nehme sie auf. Betrachte jedes einzelne Wort. Was es nicht alles zu sagen gibt? Zu sagen gäbe? An einer der grauen Häuserwände klebt eine Figur. Ein Mädchen. Ihr Körper ist rot. Sie trägt ein Kleid.

In einem Hinterhof sitzen Menschen auf Stühlen. Sie nicken sich zu. Ihre Gespräche ein Rauschen. Um die kräftigen Beine der einen Frau windet sich eine Katze. Die Katze sieht mich und läuft weg.     

Wie sehr sich in meinem Kopf, während ich gehe, alles verbindet, verschaltet: Diese Strassen und Häuser von Flawil mit den Strassen und Häusern von Paris´ Zentrum – einer Stadt in der Stadt, die zwar auch Paris ist, aber nicht nur. Man denke an ihre schiere Grösse. An weitere Kreise. Umkreisungen von Kreisen.

Überall entdecken meine Augen, ihre Farbe habe ich vergessen, wie so Vieles in der letzten Zeit.

Finde ich den Weg zurück? Von jetzt zu früher? Von diesem Ort hier, zu einem, an dem ich gelebt habe? Von diesem Platz, wo ich mich gerade aufhalte, zu dem Wagen mit dem Blechdach? Gerade weiss ich es nicht. Kann es nicht sagen. Aber es ist auch egal. Vielleicht muss man sich erst verlieren um sich später zu finden.

Umgehend frage ich mich, was ich über mich selbst sagen kann? Und ob das stimmen würde, was ich dann sage? Fände ich die richtigen Worte? Treffende? Und führen diese Worte zu mir? Was ist dieses Ich? Ist es oder wird es? Wird es sein? Gewesen sein? Ich? Bin ich das?         

Überall erkennen meine Augen: ein Wort. Hören meine Ohren: ein Wort. Spuckt mein Mund: ein Wort – auf den aschgrauen Boden. Und dieses Ich, es dunkelt, ein Punkt. Ein Ausgehen von. Ich gehe von diesem Punkt aus. Das Davonausgehen tut gut, denn ich bleibe in Bewegung.

Alles ist näher als man denkt, denke ich. Und bald schon kommt Paris, denke ich. So viel ist sicher. Man muss nur weitergehen. Über alles Bekannte hinaus.

Es sind andere Zeiten.

Karsten Redmann, geboren 1973 in Neunkirchen (Saar), lebt und arbeitet als freier Schriftsteller in St. Gallen (CH). Studium der Politologie mit Nebenfach Psychologie an den Universitäten Duisburg, Bremen und Tampere (FIN). Nach Abschluss des Politikstudiums besuchte er die Deutsche Fachjournalistenschule (DFJS) in Berlin und arbeitete als freier Journalist für überregionale Print- und Onlinemedien. Zuletzt erschien der Erzählungsband mit dem Titel «An einem dieser Tage»in der edition offenes feld.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Alexandra Riedel «Sonne, Mond, Zinn», Verbrecher Verlag

Grotesk sezierend könnte man die poetische Herangehensweise der Berliner Schriftstellerin Alexandra Riedel nennen. In ihrem Roman über Eltern-Kind-Beziehungen arbeitet sie sich an großen Themen wie Liebe und Grausamkeit ab. Zuletzt gewann die Autorin mit einem Auszug ihres Romans den Bayern 2-Wortspiele-Preis.

von Karsten Redmann

Vom Ende her gedacht, vom Ende her geschrieben

Mit etwas mehr als hundert Seiten ist «Sonne, Mond, Zinn» ein recht schmaler Roman, der in seiner Kunstfertigkeit Grosses versucht, an vielen Stellen auch Grosses schafft, sich hin und wieder aber auch leicht verhebt.

Die in Berlin lebende Autorin Alexandra Riedel scheint sich bei ihrem Debüt im Verbrecher Verlag einiges vorgenommen zu haben, schreibt rhythmisch, fliessend, aber auch karg und hart. Ihre Sprache ist, von kleinen Ausnahmen abgesehen, sehr reduziert, direkt, ja lakonisch – und das im besten Sinne des Wortes:

«Herr Anton Hamann, dein Vater, mein Großvater: gestorben. Und woran? Ich hatte nicht gefragt.»

Die 40-jährige Riedel, Absolventin des Masterstudiums am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig (DLL), engt ihren Ich-Erzähler, dessen Worte der eigenen Mutter gelten – insofern ist der Roman ein Briefroman – in keiner Weise ein, so dass sich sein Berichten zwischen Wirklichkeiten und Möglichkeiten bewegt. Das an die Mutter gerichtete Schreiben ist insofern ein Erzählen in Möglichkeiten, weil der Berichtende über das, was er weiss oder zu kennen glaubt, immer wieder hinausgeht, und damit fiktive Begebenheiten, im eigenen Kopf Phantasiertes, oft auch Surreales, an tatsächlich Geschehenes koppelt. Der Ich-Erzähler schafft sich somit innere und äussere Freiräume, die er gerne und oft nutzt. Diese Art des Erzählens hat etwas Weitendes, Ausgreifendes, die Sehnsüchte des Erzählers Ausweisendes. Und in diesem narrativen Spannungsverhältnis steckt eine der Stärken des Romans.

Hier ein Beispiel:

«Vierzig Minuten schwebt eine Mondsonde über euch. Um vier Uhr morgens verschickt sie schliesslich ihre Aufnahmen per Funk. Auf siebzehn von neunundzwanzig Bildern seid ihr zu sehen. Vater und Tochter auf der Rückseite des Mondes. Kurze Zeit später taucht ihr auf allen Titelseiten der Welt auf.»

In insgesamt dreizehn Kapiteln wird die Geschichte von Esther Zinn durch ihren Sohn erzählt, nicht aus einem Guss, sondern bruchstückhaft. Dabei wirkt dieses Erzählen hin und wieder wie ein Bedienen aus dem Baukasten. Mit sehr unterschiedlichen Versatzstücken.

Zusammengehalten wird der immer wieder ins Groteske gehende Roman durch eine Rahmenhandlung: Gustav Zinn, Fluglotse auf einer Insel, reist zum Begräbnis seines ihm bis dato unbekannten Grossvaters, und berichtet im weiteren Verlauf über die unangenehme Situation, sich fremd unter den eigenen Verwandten zu fühlen, schliesslich lebte der Grossvater bis zu seinem Tod getrennt von Gustavs Mutter, Esther Zinn, und damit auch getrennt von ihm.

Was den literarischen Gestaltungswillen dieses Romandebüts angeht, machen vor allem die ersten Seiten, sowie die Kapitel ab etwa der Mitte des Buches, Eindruck. Inhaltlich und von der Form her wirken sie sehr durchdacht, konzentriert und genau gearbeitet. Man könnte sie auch als schlackenlos bezeichnen. In diesen recht gelungenen Kapiteln findet sich beispielgebend folgender Textausschnitt:

«Dinge passieren. Menschen auch, sagtest du immer, wenn du von deinem Vater sprachst.»

Auf längere Sicht etwas gekünstelt und gestelzt wirken die Passagen die im Konjunktiv verfasst sind. Auch wenn es naheliegt, diese Erzählform zu wählen, nutzt sich ihre Frische und Kunstfertigkeit mit der Zeit leider ab:

«Ich erinnere mich, wie du mir davon erzähltest. Ganz jung hattest du mit einem Mal wieder ausgesehen. Du lächeltest, strahltest wie ein Kind, schliefst irgendwann ganz ruhig ein.»

Alexandra Riedel «Sonne, Mond, Zinn» Verbrecher Verlag, 2020, 112 Seiten. Verbrecher Verlag, CHF 28.90, ISNB 978-3-95732-423-8

Eine grosse Stärke der Autorin, die in Süddeutschland geboren und in Norddeutschland aufgewachsen ist, sind die Dialoge zwischen den Figuren. Diese sind perfekt gearbeitet, glaubwürdig und in ihrer Machart geradezu aussergewöhnlich. Insbesondere, wenn – wie beiläufig – Stimmen von Vorbeigehenden festgehalten werden. Ein derart eindrucksvolles Einfangen von Sprache klingt so:

«Wirklich schönes Wetter. Wirklich gute Idee. Nochmal die Beine vertreten. Nochmal tief durchatmen. Man fange an zu schwitzen, so ganz in Schwarz. Der heisseste Tag des Jahres. In der Kirche bestimmt angenehm kühl. Bachs Toccata werde gespielt. Da vorne sei es schon. Was? Bach ein Klangredner, seine Stücke Gespräche. Wessen Stücke? Bachs. Wie spät? Gleich elf. Unter all den vielen Menschen finde man sie doch niemals. Doch, doch. Da, da.»

Auf den letzten Seiten kippt Riedels Text leicht ins Surreale, Traumhafte, nimmt erneut an Fahrt auf, verändert die Grundspannung. Das ist durchaus herausfordernd. Alles in allem kann man der Autorin damit gegen Ende des Buches nun wirklich nicht vorwerfen, ängstlich vorzugehen, denn sie treibt den Text – auch was das Symbolische angeht – auf den letzten Metern voran, geht ein Risiko ein, irritiert an manchen Stellen, behält die Fäden aber allzeit in der Hand. Das Poetische ihrer Sprache leuchtet auch hier immer mal wieder auf – wobei die hier genannte Textstelle das Kristalline in Riedels Sprache besonders deutlich macht:

«Das Meer an windstillen Tagen so glatt wie ein Betttuch. Der Horizont ein gerader Strich. Ob du schon mal hinter dem Strich da gewesen seist?, fragte ich dich damals.»

Dem Berliner Verbrecher Verlag ist es zu verdanken, dass mit «Sonne, Mond, Zinn» ein höchst eigensinniger Roman das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat. In seiner Machart sticht der Titel unter den vielen Büchern des Frühjahrs besonders ins Auge. Und das nicht nur aufgrund seiner Kürze. Gerade wegen des künstlerischen Anspruchs, den die Schriftstellerin Alexandra Riedel formuliert, ist dem Text eine grosse Leserschaft zu wünschen.

© Nane Dieh

Alexandra Riedel, geboren 1980 in Süddeutschland und aufgewachsen in Norddeutschland, studierte Kunstgeschichte und Neuere deutsche Literatur an der HU Berlin. Danach folgte ein Masterstudium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2014 war sie unter den FinalistInnen beim 22. Open Mike. Veröffentlichungen in: «Object is Meditation and Poetry», Grassi Museum für Angewandte Kunst (2017) und «Tippgemeinschaft» (2016, 2015). Alexandra Riedel lebt in Berlin. Für ihren Debütroman «Sonne Mond Zinn» wurde Riedel mit dem Bayern2-Wortspiele-Preis 2020 ausgezeichnet.

Beitragsbild © Nane Dieh

Ocean Vuong «Auf Erden sind wir kurz grandios» Hanser, Gastbeitrag von Karsten Redmann

Eine grössere Vision aus kleinen Dingen

Dieses Buch ist ein sprachliches Kunstwerk. In einer unverbrauchten, genauen Sprache arbeitet sich hier ein Autor an den Gewalten und Zumutungen der Welt ab. Als Briefroman konzipiert, richtet sich der Text an eine Mutter die Analphabetin ist und den langen Brief des Sohnes wohl nie lesen wird. Bereits im zweiten Satz des Romans heisst es: «Ma, ich schreibe, um dich zu erreichen – auch wenn jedes Wort auf dem Papier ein Wort weiter weg ist von dort, wo du bist.»
Der angeschlagene Tonfall ist direkt und trifft den Leser/die Leserin ungeschützt. Emotional aufgeladene Szenen voller Rauheit und Brutalität lösen Szenen voller Schönheit und Zartheit ab. Eine Dringlichkeit, ja Notwendigkeit, ist diesem Buch eigen – sie verstört und reisst mit. Erzählt wird sequentiell, bruchstückhaft – ganz im Sinne des Autors: «Ich erzähle dir weniger eine Geschichte als ein Schiffswrack – die Teile dahintreibend, endlich lesbar.»

Nach der Lektüre von Roland Barthes› «Tagebuch der Trauer» und dem darin stehenden Satz «Ich habe den Körper meiner kranken, dann sterbenden Mutter gekannt», beschliesst der Autor den Brief an die Mutter zu schreiben.
1988 in Saigon geboren, zog Ocean Vuong, vor seinem Romandebüt eher bekannt für seine lyrischen Arbeiten, mit zwei Jahren in die Vereinigten Staaten, in ein Land, das ihn, neben den heiklen Familienverhältnissen in denen er aufwuchs, in vielerlei Hinsicht prägte. Stoff genug für einen gesellschaftskritischen, die Verhältnisse anprangernden Roman mit einer unglaublichen Sogwirkung.
Warum nun aber dieser Text? Diese spezifische Form? Was treibt den Autor an? Ist es Selbstbehauptung? Selbstermächtigung?

Bei der Lektüre spürt man die immense Kraft die von Vuongs Worten ausgeht. Da ist eine Präzision und Tiefe, die beeindruckt. Hier legt einer Schichten frei, Schichten von Gewalt und Krieg und Zurichtung, aber auch von Freiheit und Sehnsucht und Liebe. Insofern ist es wohl eher einen Art Selbsterkundung: Ein Bohren in den Schichten aus denen Welt besteht, Welten bestehen. Es gilt hier vieles freizulegen, Ocean Vuong ist ein wahrer Meister darin. Dabei geht er ganz nah ran, man ist mittendrin, als wäre man Zeuge. In einer beeindruckenden Szene beschreibt er, bzw. sein Alter Ego Little Dog, eine erste Erinnerung an seine Eltern und dass er, Little Dog, erst dachte, dass Mutter und Vater in der Küche nur tanzen würden, sich aber bald herausstellte, dass der Vater die Mutter halb tot prügelte. Man liest Vuongs konzentrierte Prosaszenen mit hoher Anteilnahme, betrachtet die Welt mit den Augen des Kindes, sieht den handgreiflichen Vater direkt vor sich, die Wut in diesem Männerkörper eingeschrieben, verfolgt genau, Schritt für Schritt, wie er von der Polizei abgeführt wird, weil sie seinen blutverschmierten zwanzig Dollarschein nicht annehmen wollen. Diese Polizisten sind zumindest unbestechlich. Immerhin. Auf Abstand kann man hier kaum gehen. Dafür ist zu wenig Raum. Es trifft einen, direkt und hart.

Neben der Gewalt die von Männern ausgeht, sei es im Krieg oder als überforderte Väter, die trunksüchtig und ohne Arbeit ihr Leben im amerikanischen Nirgendwo fristen, spielt die Gewaltbereitschaft und Unzulänglichkeit der eigenen Mutter eine zentrale Rolle im Roman. Nach schmerzlichen Szenen häuslicher Gewaltausbrüche – die Mutter prügelt immer wieder auf den Jungen ein, in der Wohnung, auf der Strasse, die Angst des Jungen übergross, der nicht mehr weiter weiss, und irgendwann auch wegrennt – endet die Gewalt mit seinem Aufbegehren gegen die Mutter und einem Ende der Schläge nach dreizehn langen Jahren. Was bleibt ist eine Mutter, die nicht mehr schlägt, aber Geschlagene bleibt. Als Zugewanderte und Analphabetin steht sie am Rande der Gesellschaft, arbeitet weiterhin bis zur Erschöpfung in Fabriken und Nagelstudios, und kennt nur dieses eine Leben – ein Leben bestehend aus Arbeit und Schlaf. Diese (zugerichtete) Mutter, so schreibt der Autor, ist damit «Zuflucht und Warnung» zugleich. Wie liebevoll, aber auch hilflos diese Mutter sein kann, zeigt Vuong in einer längeren Sequenz; hierbei schildert er den Unfalltod eines geliebten Cousins und das vermeintliche Wiedererkennen dieses Cousins in der New Yorker Subway. Eine Panikattacke befällt Little Dog und er beschliesst umgehend seine Mutter anzurufen. Zuerst sagt sie kein Wort, dann beginnt sie die Melodie von «Happy Birthday» zu summen, des einzigen englischen Liedes, das sie kennt. «Und ich lauschte, das Telefon so fest an mein Ohr gepresst, dass noch Stunden später ein rosa Rechteck in meine Wange geprägt war.»

Neben dem ambivalenten Verhältnis zu seiner Mutter, schildert Vuong, ausführlich und mit grosser Empathie, die Beziehung zu drei weiteren, ihm wichtigen Menschen: Zum einen ist da die Grossmutter Lan, die mit ihm und seiner Mutter in einer viel zu kleinen Wohnung in einem ärmeren Viertel der Stadt (Hartford) wohnt und deren Tod er ebenfalls schreibend im letzten Drittel des Buches zu bewältigen versucht. Sie war es, die ihm Geschichten erzählte. Er war es, der ihr die grauen Haare mit einer Pinzette auszupfte. «Der Schnee in meinem Haar (…) mein Kopf juckt davon. Bist du so gut und zupfst mir die juckenden Haare aus, Little Dog? Der Schnee schlägt Wurzeln in mir.» Die zweite Bezugsperson: Paul, sein Grossvater, ein amerikanischer Soldat, der in Vietnam im Einsatz war, bei dem sich letztlich herausstellt, dass er nicht der leibliche Vater seiner Mutter Rose ist. Dennoch bleibt er für Little Dog der Grossvater, schliesslich hat er nur den einen. Dritte wichtige Person ist Trevor, ein Durchschnittsamerikaner, Sohn eines abgehalfterten Trinkers, zwei Jahre älter als Little Dog und bald nicht nur wichtigster Freund und Begleiter sondern auch über alle Massen Geliebter. Als Vierzehnjähriger lernt Little Dog ihn bei der Arbeit auf einer Tabakplantage kennen. Als Trevor, nach jahrelangem Drogenkonsum, mit zweiundzwanzig Jahren einsam und verlassen in seinem Zimmer stirbt, fühlt sich Little Dog schuldig, hat er ihn doch allein gelassen in all seiner Kaputtheit, Versehrtheit, Verzweiflung. Trevor, unschuldig süchtig geworden – als Jugendlicher verschrieb man ihm wegen eines Knochenbruchs Schmerzmittel (Oxycontin) mit hohem Suchtpotenzial – hat es, wie viele Andere in den USA (Vuong: «Die Wahrheit ist eine Nation unter Drogen…») nicht geschafft zu überleben, und ist damit ein weiteres Opfer der Verhältnisse in einem Land, wo die Chancen auf Glück so ungleich verteilt sind und die Armut so gross.

Ocean Vuong übt harsche Kritik an den sozialen Verhältnissen in den USA. In seinem Roman leuchtet diese Kritik immer wieder hell auf. Er weiss, aus nächster Nähe, wovon er spricht. Viele seiner Freunde sind jung gestorben. Vier an einer Überdosis. Trevor war also keine Ausnahme. Nicht zuletzt geht es Vuong in seinem brillanten Text um den Krieg und das was der Krieg mit Menschen anstellt, welche Traumata zurückbleiben und Menschenleben prägen. Gewalt gebiert Gewalt. Vuong blickt zurück, zurück in eine weit entfernte Vergangenheit, seine eigene Familiengeschichte, den Krieg in Vietnam.

Was die Besonderheit der Sprache angeht: Auf nahezu jeder Buchseite finden sich Formulierungen, die einem deutlich machen, wie beweglich die Sprache Vuongs sein kann, wie nah er den Dingen kommt durch seine gedrechselten Sätze. An dieser Stelle zwei Beispiele für die Kunstfertigkeit dieser Prosa. Bei der Tabakernte heisst es da: «…das Geräusch ihrer Klingen wurde lauter und lauter, bis man sie beim Schneiden keuchen hörte, während die Stiele hellgrün um ihre gebeugten Rücken herabspritzten. Man meinte das Wasser im Innern der Stängel zu hören, wenn der Stahl die Membranen aufbrach, und die Erde färbte sich dunkel, wo die Pflanzen ausbluteten.» Oder wie hier, auf einem Feld, nachdem der Protagonist ein Geräusch (wahrscheinlich ein Tier) gehört hat und diesem nachgeht: «Das Heulen kommt wieder, der Klang tief und hohl, als hätte er Wände, etwas, in dem man sich verstecken kann. Es muss verwundet sein. Nur etwas, das Schmerzen leidet, kann einen Ton hervorbringen, in den man eintreten kann.»

So sehr diese Sprache trägt und so überzeugend die Figurenführung, eine kleine Kritik an diesem Roman soll nicht unerwähnt bleiben. So ist es aus ästhetischen Gründen durchaus nachvollziehbar, dass der Autor seiner Mutter seine elegante Sprache angedeihen lässt, glaubwürdig ist die Figur dadurch bei weitem nicht: «Das Vietnamesisch, das ich spreche, habe ich von dir, eines, dessen Diktion und Syntax nur das Niveau der zweiten Klasse erreichen.» Es ist ein wenig ärgerlich, dass sich hier ein Widerspruch offen zeigt. Doch es bleibt dem Leser/der Leserin überlassen, das zu bewerten.

Alles in allem sticht das Buch aufgrund seiner Klasse und Eigenständigkeit aus der Vielzahl von Neuerscheinungen heraus. Da ist jemand ein Wagnis eingegangen. Für die Kunst. So viel steht fest. Und dafür gebührt Ocean Vuong mehr als Respekt. Dass hier ein Debüt vorliegt, würde man nicht meinen. Ein feines, ein kluges Buch.

Text: Karsten Redmann

Ocean Vuong wurde 1988 in Saigon, Vietnam, geboren und zog im Alter von zwei Jahren nach Amerika, wo er heute lebt. Für seine Lyrik wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt u.a. mit dem Whiting Award for Poetry (2016) und dem T.S. Eliot Prize (2017). «Auf Erden sind wir kurz grandios» (Hanser 2019) ist sein erster Roman.

Übersetzt von Anne-Kristin Mittag

Karsten Redmann „Der Korpus“

Es war einer dieser Sonntage, ein verregneter zudem, an dem sie allein in ihrem geräumigen und mit schweren Teppichen ausgelegten Esszimmer sass, die Tageszeitung mit den Todesanzeigen vor sich auf dem Tisch ausgebreitet, als plötzlich das Telefon klingelte. Im ersten Moment zuckte sie zusammen, denn wenige Tage zuvor hatte ein Tross von Elektrikern eine neue Telefonanlage in ihrer Villa eingebaut; ein Gerät auf jeder Etage – so, wie sie es wollte. Und nein, ein Mobiltelefon kam nicht in Frage … Die Elektriker hatten sie belustigt angesehen, wissende Blicke ausgetauscht und sich an ihre Arbeit gemacht. Umständlich klappte sie die Zeitung zusammen, und stand, sich auf ihren schwarzen Gehstock stützend, langsam auf. Am Telefon verabredete sie eine Zeit: 15 Uhr. «Vorher», sagte sie der Frau am Telefon, müsse sie sich ein wenig hinlegen, sie brauche ihren Mittagsschlaf. «Und kommen Sie bitte pünktlich», ergänzte sie, «nicht, dass ich den ganzen Tag auf sie warten muss – ich bin zwar alt, aber nicht so alt, als dass ich Unmengen von Zeit zu vergeuden hätte.» Die Frau am Telefon zeigte Verständnis für das Gesagte, und versprach, auf alle Fälle pünktlich zu sein, schliesslich wolle sie ja unbedingt dieses Regal haben, es gefalle ihr ausserordentlich gut und sie wisse schon genau, wo es in ihrer Wohnung Platz fände. «Ach, wissen Sie», sagte die Alte, «das ist ja allein ihre Sache und geht mich überhaupt nichts an. Ausserdem ist es mir einerlei, ob Sie das Regal für sich nutzen oder weiterverkaufen. Ich selbst kann es nicht mehr brauchen … und noch eins: Hätten Sie vielleicht Interesse an alten Büchern? Mein verstorbener Mann hat früher sehr viel Zeit mit diesen alten Dingern verbracht, vielleicht sogar mehr als mit mir … In der Garage habe ich kistenweise Bücher stehen. Die können Sie gerne alle mitnehmen. Sofern Sie Interesse an Literatur haben?» «Aber ja doch», sagte die Frau, «grosses Interesse sogar. Ich studiere im fünften Semester Germanistik, Kunstgeschichte und …» «Ja, ja», kürzte die Alte ab, «Punkt drei also!», legte auf, schleppte sich die Treppe nach oben und schlief bis kurz vor zwei, denn vor dem verabredeten Termin wollte sie sich noch ein wenig frisch machen. Die verbleibende Zeit nutzte sie unter anderem, um den Namen eines alten Schulfreundes – Willi Sebald, ja, sie erinnerte sich noch gut an ihn, sass immer in der ersten Reihe rechts, ein Einser-Schüler, später dann Zahnarzt mit gut gehender Praxis – mit einem schwarzen Filzstift aus ihrem Adressbuch zu streichen. Bei ihrer morgendlichen Zeitungslektüre hatte sie die kostspielige Todesanzeige mit vorangestelltem Rilke-Gedicht entdeckt, oben rechts in der Ecke. Nicht zu übersehen. Fünf Minuten nach drei klingelte es an der Tür. Die alte Frau öffnete, grüsste, und wies die junge Frau umgehend an, ihr zu folgen. «Da vorne», sagte sie und zeigte im Hof auf zwei Tore einer Doppelgarage. Sie betätigte eine Fernbedienung und eines der Garagentore öffnete sich. Der jungen Frau war deutlich anzusehen, dass die Grösse der Garage sie schier sprachlos machte – aber auch die vielen teuren Gegenständen, die sich in ihr befanden: ein Aston Martin neben einem Bentley, eine kleine aufgebockte Yacht neben einer chromblitzenden Harley Davidson, viele alte Kunstgegenstände, unzählige Vitrinen voller Vasen und teurem Geschirr; vor allem aber erstaunte sie der Anblick eines ganz besonderen Gegenstandes, der, von einer durchsichtigen Plastikfolie bedeckt, längsseits an der weiss gestrichenen Wand stand. «Entschuldigung», sagte sie stockend, «aber ist das hier wirklich das, für das ich es halte?» Die Alte lächelte, hob ein Stück der Folie nach oben und sagte: «Ja, ja. Das ist meiner. Den habe ich mir vor zwei Jahren von einem Tischler anfertigen lassen. Ein schönes Stück! Finden sie nicht auch?» … Die junge Frau betrachtete peinlich berührt den hölzernen Korpus, der annähernd die gleiche Farbe hatte wie das noch zu erstehende Bücherregal, drückte der Alten das abgezählte Geldbündel in die Hand und schleppte das Regal in grosser Eile und ohne sich umzuschauen zu ihrem Wagen, einem alten Kastenwagen mit viel Stauraum. An die alten Bücher dachte sie da schon nicht mehr und auch später nicht. Das alte Regal fand in ihrem Keller Platz, denn in der Wohnung wollte sie es nicht mehr haben: zu sehr erinnerte es sie an die gebrechliche Frau in ihrem schwarzen Kostüm und an die strahlend weiss gestrichene Garage mit dem darin wartenden Sarg.

Karsten Redmann, geboren 1973 in Neunkirchen (Saar), lebt und arbeitet als freier Schriftsteller in St. Gallen (CH). Zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Anthologien und Zeitungen. Stipendium Bremer Romanwerkstatt 2010. Stipendium Bremer Prosawerkstatt 2012. Text des Monats beim Schreibwettbewerb des Literaturhauses Zürich, Juli 2015. Shortlist zum erostepost-Literaturpreis 2016. Nominierung für den storyapp-Preis 2017.

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