Colum McCann «Apeirogon», Rowohlt

Colum McCann ist in Dublin aufgewachsen, nicht weit von Nordirland, wo sich „Katholiken“ und „Protestanten“ Jahrzehnte und über Generationen bekämpften, bis auf die Zähne bewaffnet, zu jeder Schandtat entschlossen. Colum McCann wählte für seinen Roman „Apeirogon“ einen Schauplatz, der sich in vielem mit seiner Heimat vergleichen lässt; Palästina und den unversöhnlichen Konflikt zwischen Palästinensern und dem hochgerüsteten Israel.

Colum McCanns Roman ist ein Monument, ein Berg! 500 aufwärts nummerierte Texte bis in die Mitte des Buches, zwei kurze Kapitel über die beiden Protagonisten, einen palästinensischen und einen israelischen Vater, die beide um ihre im Konflikt getöteten Töchter trauern, 500 abwärts nummerierte Texte und ganz in der Mitte der eine 1001., ein einziger Satz, der offenbart, was passiert, wenn Unvereinbares zusammenkommt. Zwei Seiten eines Berges, eines Trümmerberges genauso wie dem einzigen Berg, der aus dem Schlamassel herausragt. Jenen Berg, den es zu erklimmen heisst, wenn man über all den Sumpf, all die Trümmer, als das Leid, den vielfachen Tod hinwegschauen will, um Worte zu finden. Denn es sind Worte, mit denen man Konflikte löst, nicht Waffen. Mit jedem Schuss aus einer Waffe werden neue Wunden aufgerissen.

Rami Elhanan war Soldat in der israelischen Armee. Aus dem Krieg zurück begann er ein Studium an einer Kunstakademie, heiratete Nurit und wurde Vater von vier Töchtern. Eine davon war Smadar, geboren 1983, am Tag vor dem Jom Kippur, dem „Versöhnungstag“. 14 Jahre später, wieder kurz vor Jom Kippur, wird Smadar Opfer eines Selbstmordattentäters, sie zusammen mit zwei Freundinnen unterwegs in der Stadt, sie zusammen mit sieben andern, die von drei als Frauen verkleideten Selbstmordattentätern in die Luft gesprengt wurden, sie zusammen mit ihrem Vater und seiner Familie, der dem Schmerz danach nie mehr entfliehen konnte.

Colum McCann «Apeirogon», Rowohlt, 2020, 608 Seiten, CHF 35.00, ISBN 978-3-498-04533-3

Bassam Aramin ist Palästinenser, Vater von Abir, die mit zehn Jahren mit einer eben erst gekauften Zuckerkette nicht weit von ihrer Schule aus einem fahrenden Jeep amerikanischer Bauart, von einem Gummigeschoss amerikanischer Bauart, abgefeuert von einem Gewehr amerikanischer Bauart am Hinterkopf getroffen wird und nach einer ewig dauernden Fahrt mit dem Krankenwagen, vorbei an Checkpoints, aufgehalten von der Polizei an den Folgen dieser Schädelverletzung stirbt. Bassam Aramin war selbst siebzehn Jahre im Gefängnis, weil der Hass auf die Besatzer ihn dazu trieb, Handgranaten zu werfen.

Zwei Mädchen sterben, das eine zehn Jahre später als das andere. Aber beide in einem Land, dass gespaltener nicht sein kann. In einem Land, in dem Völker viel mehr als nur durch Mauern voneinander getrennt sind, unvereinbar, unendlich weit voneinander weg. Beide Väter tragen einen Schmerz mit sich, der sich leicht in Rache entladen könnte. Aber sie tun es nicht. Ganz im Gegenteil. Irgendwann stehen sie sich gegenüber in einem Jerusalemer Vorort, in einem Backsteinkloster, einer Veranstaltung einer Organisation, die die Väter von Opfern gegründet haben, die „Combatants for Peace“ und der „Parents Circle“. Was eine zaghafte Annäherung war, wird zu einer Freundschaft, was Selbsthilfe war, wird zu einer Mission. In den folgenden Jahren fahren Rami und Bassam von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent, in der Überzeugung, dass nur das Wort, das Verstehen, die Verständigung Brücken über die feindlichen Linien hinaus bauen kann.

„Apeirogon“ ist ein vielseitiges Panoptikum, 1001 Geschichten um die Tragik eines Landstrichs, der schon über Jahrhunderte im Brennpunkt der Geschichte liegt. Aber auch ein Ort über den abertausende von Vögeln ihren Weg finden, über ein Land, das wie ein Flickenteppich aus lauter Unvereinbarkeiten zusammengefügt ist, verklebt durch Hass, Unverständnis und himmelschreiender Ungerechtigkeit, voller Grenzen für Menschen, grenzenlos für die Vögel. Eine Begrenztheit, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint, die eingeschweisst und eingeritzt ist in das Bewusstsein der Menschen, Menschen, die oft nur einen Steinwurf voneinander leben.

Colum McCann ist ein ganz besonderer Roman gelungen. Ein Buch, das sich einbrennt!

Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt McCann zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award und den Rooney Prize for Irish Literature. Zum internationalen Bestsellerautor wurde er mit den Romanen «Der Tänzer» und «Zoli». Für den Roman «Die große Welt» erhielt er 2009 den National Book Award. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York.

Volker Oldenburg lebt in Hamburg. Er übersetzte unter anderem David Mitchell, Oscar Wilde, T Cooper und Dinaw Mengestu. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis.

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Beitragsbild © P. Matsas/Opale/Leemage/laif 

Werner Rohner «Was möglich ist», Lenos

Mag sein, dass Reisen abenteuerlich werden können. Dann, wenn man bekanntes Terrain verlässt, wenn man diesen einen Schritt über den Rand hinaus wagt. Wenn man nicht mit Sicherheit weiss, was sich jenseits des Bekannten befindet. Was für Reisen gilt, gilt noch viel mehr für Beziehungen. Werner Rohner schreibt in seinem neuen Roman „Was möglich ist“ über Menschen, die den Schritt über solche Grenzen wagen, meist in mehrfacher Hinsicht.

Werner Rohner hätte am Wortlaut St. Gallen vor Publikum gelesen, wenn es geklappt hätte. Wenn Sie trotzdem online verfolgen wollen, was Wortlaut digital anzubieten hat, dann besuchen Sie die Webseite hier.

„Was möglich ist“ lotet aus. Werner Rohner beweist sich als Seismograph. In seinem Roman erzählt er drei Geschichten von Frauen und Männern, die in ihren Beziehungen diesen einen Schritt wagen. Den Schritt über die Grenze, über die Konvention, über die Vernunft hinaus, in unbekanntes Terrain. Dabei geht es Werner Rohner nicht um die Frage, ob der Schritt glückt, nicht einmal darum, ob er nachvollziehbar ist. Werner Rohner begibt sich ganz nah an sein Personal, spürt ihnen nach, dem Mut, der Hoffnung, der Verzweiflung, dem Zweifel. „Was möglich ist“ zeigt, was möglich ist, dass in Beziehungen Abenteuer stecken, reisen in unbekanntes Terrain, weit über Grenzen hinaus.

Edith ist über sechzig und arbeitet eine Ewigkeit im selben Café. Dort sitzen Menschen und erzählen ihre Geschichten. Einer davon ist Christoph, jünger als sie, Bademeister. Christoph versuchte einer leblos im Wasser treibenden Frau das Leben in den Brustkorb zurückzupumpen. Es sollte nicht sein. Die Frau blieb liegen. Aber nicht nur auf dem Betonboden der Badeanstalt, sondern auch in den Bildern in Christophs Kopf. Edith, eine Frau mit feinem Gespür, kommt Christoph näher. So nah, dass das Zusammensein mit dem Mann Türen wieder aufreisst, von denen Edith glaubte, sie hätten sich für den Rest ihres Lebens geschlossen. Christoph gibt ihr zurück, was sie aufgeben hatte, obwohl da vor Jahrzehnten einmal eine Familie war. Chris und Edith fahren weg, in ihrem alten Saab über Spanien bis nach Marokko, wo Chris mit Ediths Erspartem ein Haus in einem kleinen Dorf gekauft hat. Eine neue Existenz, ein neues Leben. Was sich für beide paradiesisch anfühlt, entpuppt sich aber doch als Fata Morgana, zumindest für Edith, die das neue Leben zwar geniesst, ihre Rolle als Geliebte, als Hausbesitzerin und Gastgeberin. Aber Edith fährt zurück, zurück in ihr altes Leben.

Werner Rohner «Was möglich ist», Lenos, 2020, 379 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-03925-007-3

Vera ist schwanger. Eingeladen an eine Kongress in New York nimmt sie ihre Freundin Nathalie mit. Nathalie hat zwei Kinder, die sie für die paar Tage bei ihrem Mann zurücklässt und Vera ebenfalls einen Ehemann, der nicht verstehen kann, dass sich Vera schwanger in ein Flugzeug setzt. Was aus der Ferne wie eine Geschäftsreise aussehen soll, ist aber schon bei den Vorbereitungen zur Reise und im Flugzeug erst recht ein Versprechen für viel mehr. Vera und Nathalies Freundschaft ist mehr. Vera fühlt, dass zusammen mit ihrer Freundin etwas aufbricht, das bisher nur schlummerte. In der monumentalen Stadt auf der anderen Seite des Ozeans beginnt eine leidenschaftliche Affäre, die im Rausch alles auszublenden vermag, lässt ein Leben aufkeimen, das sich aber mit dem Flugzeug zurück nicht ins alte Leben zurücktransportierten lässt. Die Versprechen bröckeln.

Michael ist Schriftsteller. Sein Freund Lorenz bittet ihn, seine Frau Lena, die ohne ihre Kinder mit einem Mal, wie aus dem Nichts, nach Neapel abgehauen ist, zur Rückkehr zu bewegen. Mit einem Typen. Lena und Michael kennen sich schon lange. Und weil Michaels Schreibe ins Stocken geraten ist, fährt er in die Stadt am Vulkan. Lena zu finden ist nicht schwierig. Sie versteckt sich nicht, auch nicht den Mann mit Bauch an ihrer Seite. Auch der eine alte Geschichte. Michael wird zu einem Verbindungsmann. Lena ist ausgebrochen, in der Schwebe. Sie weiss genau, dass das Angefangene in Neapel keine Dauer hat und das Alte zuhause so keine Zukunft. Michael bietet ihr und ihren beiden Kindern eine vorübergehende Bliebe in seiner Wohnung an. Bloss ein Zimmer, aber immerhin. Und mit einem Mal steht Michael mitten drin.

Drei Frauen, die es wagen, alles aufzugeben, allen Sicherheiten zu entsagen, die einen Neuanfang provozieren, ausreissen und abreissen lassen. Die Geschichten sind nicht nur thematisch miteinander verbunden. Sie spiegeln sich ineinander. Und sie treffen sich sogar ganz kurz im Café, in dem Edith während Jahrzehnten servierte. Aber die Geschichten spiegeln sich auch in mir, mit Sicherheit in allen, die sich auf diesen äusserst gelungenen Roman einlassen. Denn diesen einen Schritt, zumindest die Möglichkeit, den Gedanken darum, den Traum, die Idee tragen die meisten mit sich herum. Dass Werner Rohner daraus kein abgehobenes Abenteuer macht, ist die grosse Qualität dieses Romans.

Interview:

War da von Anfang an ein Plan? Ein Buch mit drei Geschichten, die sich auf verschiedene Arten berühren und spiegeln? 

Da war kein Plan zu Beginn, da war Edith, die zu erzählen begonnen hat. Dabei hat sie im Café Uetli gesessen. Um sie herum andere Menschen, denen sie ab und zu einen Café brachte. Und auch die hatten ihre Geschichten. Und manche davon haben sie mir dann auch noch erzählt.

Edith, Vera und Lena brechen aus. Sie tun das, was viele als Plan, Absicht, Vorsatz, Wunsch und Traum ein Leben lang unerfüllt mit sich herumtragen. Als ich einmal während einiger Monate im Spital arbeitete und eine Frau fragte, warum sie das Foto ihres eingesargten Mannes auf dem Nachttischen stehen habe, sagte sie: „Heiraten sie spät oder nie. Tun sie erst alles andere!“ Warum tun wir uns so schwer auszubrechen und nehmen lieber Magengeschwüre und Burnouts in Kauf?

Es fehlt an Vorbildern (im Gegensatz zu Magengeschwüren und Burnouts), an Geschichten, die anders erzählt, anders gewertet und verstanden werden.

Außerdem brauchen Ausbrüche Anlauf – das dauert –, Gelegenheit und Mut. Glück halt. Und nicht zuletzt ein Umfeld, welche die Ausbrüche mitträgt, oder zumindest nicht dagegen angeht.

Und dann ist ein Ausbruch ja je nachdem auch nicht eine einmalige Sache. Muss man wieder und wieder tun, durchhalten, aushalten, Unsicherheit zu- und den Ausgang offenlassen können.

Alle deine Protagonistinnen leben in der Angst, dass sie für ihr Glück büssen müssen. So sehr, dass sie den Ausbruch auf die eine oder andere Weise „ausklingen» lassen. Muss man sich mit dem Konfuziuszitat „Der Weg ist das Ziel“ trösten?

Also nach Konfuzius versteh ich das das ja nicht als Trost, sondern als Glück. Und ich glaub, das haben auch Edith und Vera und Lena unterwegs gefunden. Sind dann aber oft wo gelandet, wo sie nicht damit umgehen konnten.

Aber ihre Geschichten sind ja nicht zu Ende. Ich hab nur aufgehört, sie weiter zu erzählen.

Es sind Ausbrüche und es sind Varianten eines Kontrollverlusts, die du beschreibst. Dabei lernen wir schon kleinen Kindern im Kindergarten, Ausbrüche und Kontrollverlust zu vermeiden. Büssen wir damit auch einen Teil unserer Kreativität ein, weil Kreativität immer Ausbruch und Kontrollverlust ist?

Fällt mir Patrick Findeis ein, der gesagt hat, Schreiben sei eine Mischung zwischen totalem Kontrollverlust und alle Fäden in den Händen halten. Kreativität trägt immer beides mit, sonst ist es Chaos.

Ist „Schreiben“ ein kontrollierter Ausbruch?

Ich glaub, es ist eher eine Möglichkeit mehr. Es ersetzt ja nichts, aber es fügt was hinzu. Sowohl für mich als Schreibenden, als auch für die Lesenden. Und hat eine Wechselwirkung mit dem anderen Leben – und diese Wirkung ist, glaub ich, kaum voraus- oder abzusehen, und damit auch kaum kontrollierbar.

Welches Buch hat sich in jüngster Vergangenheit tief in dein Herz eingebrannt und warum?

„Ich hab› gelebt Mylord“ von Simone Berteaut. Es ist eine Art Biografie von Edith Piaf, geschrieben von ihrer Halbschwester, die vielleicht auch einfach eine Bekannte war. Das aber ist egal; das Buch hat so einen tollen Sound, und im Hintergrund Edith Piafs Musik, dass man das Leben so stark spürt, dass ich oft weinen musst. Manchmal so sehr, dass ich die Buchstaben nicht mehr sehen konnte.

© Christoph Oeschger

Werner Rohner, geboren 1975, lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Studium am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Längere Schreibaufenthalte in Rom, Langenthal und Los Angeles. Er veröffentlichte Texte in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien, für die er mehrfach mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet wurde, und schrieb drei Theaterstücke. Sein erster Roman «Das Ende der Schonzeit» erschien 2014 und war für den Rauriser Literaturpreis nominiert. Zusammen mit Katja Brunner veröffentlichte er 2018 das Buch «Wie weit du genetisch vom Raubtier entfernt bist». «Was möglich» ist ist sein zweiter Roman.

Werner Rohner mit «Was bleibt» auf der «Plattform Gegenzauber»

Beitragsbilder © Werner Rohner