Wenn Musik und Literatur verschmelzen

Wenn am 22. August im Literaturhaus Thurgau eine neue Saison mit dem traditionellen Sommerfest startet, werden Besucherinnen und Besucher miterleben, wie sich Musik mit Literatur verweben kann. Ariela Sarbacher liest und performt zusammen mit den Musikern Christian Berger und Dominic Doppler ihr Debüt «Der Sommer im Garten meiner Mutter». Eine Kopfreise für GeniesserInnen!

Christian Berger (Gitarren, Loop, Electronics, Büchel, Sansula, Framedrum) und Dominic Doppler (Schlagzeug, Schlitztrommel, Perkussion, Sansula), zu zweit «Stories», Musiker aus der Ostschweiz, besitzen die besonderen Fähigkeiten, sich improvisatorisch auf einen literarischen Text einzulassen.
Schon in mehreren Projekten, zum Beispiel mit jungen CH-Schriftstellerinnen und ihren Romanen oder internationalen LyrikerInnen mit lyrischen Texten bewiesen die beiden auf eindrückliche Weise, wie gut sie mit ihrer Musik Texte zu Klanglandschaften weiterspinnen können.
Vor zwei Jahren waren es Autorinnen wie Dana Grigorcea, Julia Weber, Yaël Inokai, Arja Lobsiger und Noëmi Lerch, die sich zusammen mit dem Musikerduo «Stories» auf ein literarisch-musikalisches Experiment einliessen:

Dana Grigorcea: Mit Musik zu lesen war für mich eine neue Erfahrung! Es hat einfach alles gestimmt; die Einführung, die Musik des Duos „Stories“, die Art und Weise mit der die Musik auf meinen Text abgestimmt war, die Technik, die Beleuchtung im schönen Theater, das Publikum und die guten Gespräche danach. Vielen lieben Dank!“

Yaël Inokai: Wie fühlt es sich an, nicht in die Stille hinein zu lesen? Erst ist es erstaunlich. Und dann, ganz schnell, hat man sich an den Klang der anderen gewöhnt. Man geht in seinem Text spazieren. Manchmal spüre ich intuitiv, dass ich loslassen könnte, schweigen, nur für einen Moment – aber ich traue mich nicht. Warum? Ist man es sich gewohnt, an seinem Buch zu kleben, auch wenn man die Erzählstimmen eigentlich schon auswendig kann? Hat man Angst davor, ohne nichts auf dieser Bühne zu stehen? Einmal wage ich es, und schliesse die Augen. Und als wäre ich ein Kind, verschwindet tatsächlich für einen Moment die ganze Welt.»

Arja Lobsiger: «Es war ein einzigartiges, unvergessliches Erlebnis, mit Dominic Doppler und Christian Berger auf der Bühne zu stehen und meine Worte in ihren Klangteppich zu weben. Dieser Teppich gab meinem Text einen neuen Rhythmus, andere Pausen, betonte Passagen und schuf eine Atmosphäre, in welcher die Worte zum Klingen gebracht wurden.»

Lassen Sie sich im Literaturhaus von der Kombination, dem Zusammenwirken von Musik und Literatur be- und verzaubern. 
Der Abend, das Sommerfest zusammen mit der Schriftstellerin Ariela Sarbacher ist der Beginn einer Reihe, die in den kommenden Jahren seine Fortsetzung finden wird.

Hören Sie hier in die Klanglandschaften.

Beitragsbild © Elke Hegemann

Ariela Sarbacher «Der Sommer im Garten meiner Mutter», Bilger

Geheimnisse gibt es in jedem Leben, in jeder Familie. Geheimnisse, die unausgesprochen, verschwiegen oder scheinbar vergessen wie schwarze Locher ein Familiengefüge bedrohen können. Ariela Sarbacher erzählt von einer Frau, die durch ihre sterbenskranke Mutter und ihren Willen auch den letzten Schritt selbstbestimmt zu gehen, jenes Licht zurückbekommt, das jene Löcher ein Leben lang zu schlucken drohte.

Samstag, 22. August!

Ich kenne Ariela Sarbacher als Schauspielerin, als Stimme. In einem Sommer sass ich ihr und ihrem Mann im Zug schräg gegenüber auf der Fahrt nach Leukerbad im Wallis. Dort gaben die beiden ihre Stimmen jenen Autorinnen und Autoren, die ihre Texte in deutsch nicht lesen wollten oder konnten.
Und in diesem Frühling hat Ariela Sarbacher sich selbst eine Stimme gegeben. Eine Stimme, die wegen der Pandemie aber des öftern zurückgepfiffen werden musste. So auch im Literaturhaus Thurgau, wo die programmierte Lesung am 2. April dieses Jahres den strikten Massnahmen zum Opfer fiel. Eine Stimme, der sich nun glücklicherweise doch noch ein Fenster öffnet, denn die Autorin wird ihren Debütroman am 22. August doch noch im Literaturhaus Thurgau präsentieren können. Eine Veranstaltung, die mit Musik, Speis und Trank zu einem kleinen Sommerfest werden soll, zum Start in eine neue Saison.

Ariela Sarbacher erzählt von Francesca und ihrer Mutter. Vielleicht erzählt Ariela von sich und ihrer Mutter. Aber eigentlich spielt das nur eine untergeordnete Rolle, denn Ariela Sarbacher schildert eine Mutter-Tochter-Geschichte, eine mitunter schwierige Geschichte. Die Geschichte einer grossen Familie, halb an der ligurischen Küste in Chiavari zuhause, halb am Zürichsee in der Schweiz. Ariela Sarbacher erzählt aus der Ich-Perspektive nach dem Tod, nach einer unheilbaren Krankheit, nach dem selbstbestimmten Sterben der Mutter. 

Ariela Sarbacher «Der Sommer im Garten meiner Mutter», Bilger, 2020, 155 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-03762-083-0

Francesca hat ihre Mutter bis zum letzten Moment begleitet, einer Nähe, die in starkem Kontrast zu den wenigen Gemeinsamkeiten der beiden sonst steht. Sie ist da, als die Tropfen durch die Kanüle den Geist der Mutter nach wenigen Atemzügen wegdämmern lassen. Sie bleibt. Sie bleibt in der Wohnung. Die Mutter bleibt im Kopf, im Herzen, in den Dingen, die zurückbleiben und nicht einfach zu Staub zerbröseln. „Der Sommer im Garten meiner Mutter“ ist der letzte Sommer. Jene Wochen, in denen sie zusammen sind, aufräumen, ordnen, das Sterben organisieren, Filme schauen, erzählen, streiten, lachen und weinen. So liest sich auch der Roman. Es sind Bilder, die auftauchen, ein langer Gang durch die Geschichte einer ganzen Familie. Nicht chronologisch erzählt, denn niemand erzählt chronologisch. Es sind Geschichten aus den Tiefen der Vergangenheit, Geschichten, die erst auftauchen, wenn sich das Ende abzeichnet. Geschichten, die eine Erklärung sein sollen und wollen dafür, was in diesem Sommer, dem letzten gemeinsamen Sommer, geschieht.

Francescas Mutter, die als Zwölfjährige durch eine schlimme Blutvergiftung für drei Jahre ans Bett gefesselt war, sich ganz der Hilfe anderer ergeben musste, die die Welt in Büchern an ihr Bett holte und Zeit ihres Lebens alles daran setzte, selbstbestimmt durch ihr Leben zu schreiten, will auch in den letzten Wochen keiner Krankheit, keinem Zustand die Kontrolle über ihr eigenes Selbst, nicht einmal über ihr Sterben übergeben. Ein Entschluss, der für ihre Familie, für Francesca ein Kampf wird, der nicht mit dem Sterben der Mutter zu Ende ist, sondern erst durch das Erzählen ein langsames Ende, eine Versöhnung findet.

So ist die Stärke des Buches auch ihre Achillesferse. Die erzählerische Nähe der Autorin zu ihren Protagonisten suggeriert unweigerlich, dass vieles im Roman autobiographisch sein muss. Dabei spielt das für Literatur eine völlig unwichtige Rolle. Diese Nähe macht den Text zerbrechlich, führt mich ganz nahe an starke Emotionen. Dabei passiert diese Auseinandersetzung im und um den Tod mit allen, die zurückgelassen werden. Mit dem kleinen, grossen Unterschied, dass es im Sterben dieser Mutter im Roman eine Alternative zu geben scheint.

Aber wenn man „Der Sommer im Garten meiner Mutter“ auf ein „Sterbe-Buch“ reduziert, wird man dem Roman nicht gerecht. Ariela Sarbacher erzählt die Geschichte von Francesca, ihrer Kindheit zwischen den Kulturen, zwischen Italien und der Schweiz. Francesca erfährt, was es bedeutet, hin- und hergerissen zu werden, nicht nur zwischen den Kulturen, auch zwischen Eltern, die sich irgendwann trennen, in den Gegensätzen dieser Welten. Francesca muss erfahren, dass es mit dem Sterbewunsch ihrer Mutter auch ein anderes Sterben gibt, als all jene Tode, die sich im Laufe ihres Lebens in die Erinnerung gruben. Ariela Sarbacher erzählt die Geschichte einer hellen Kindheit, wie sich der Wunsch, Schauspielerin zu werden, eingräbt, vom Kampf bis der Wunsch Realität wird. Von unsäglicher Fremdheit und schmerzhafter Nähe. Davon, dass aus jahrzehntelanger Distanz zwischen Mutter und Tochter nicht mit einem Mal Nähe entstehen kann, schon gar nicht unter dem Zwang einer lebensbedrohenden Krankheit. Sie erzählt von einem Leben, in dem Sprache schon immer nicht nur Mittel zum Zweck des Erzählens war, sondern Elixier, der Stoff, aus dem Leben entsteht, Freiheit und Halt. 

Ein ungeheuer bewegendes Buch.

Ariela Sarbacher wurde 1965 in Zürich geboren. An der Schauspiel-Akademie Zürich wurde sie als Schauspielerin ausgebildet. Ihre ersten Engagements führten sie ans Stadttheater Heidelberg und an die Bremer Shakespeare Company. Nach der Geburt ihrer beiden Töchter liess sie sich zur Taiji-, Qi Gong- und Pilateslehrerin ausbilden. 2002 gründete sie ihre Schule »Einfluss«. Sie hat ein eigenes Präsenztraining entwickelt, mit dem sie Menschen für ihre Auftritte vor Publikum vorbereitet. Von 2017 – 2018 Ausbildung Literarisches Schreiben am EB Zürich. Heute arbeitet sie als Schauspielerin, Sprecherin, Schriftstellerin und Präsenztrainerin.

Webseite der Autorin

© Elke Hegemann

Das Sommerfest im Literaturhaus Thurgau wird musikalisch begleitet von «Stories»: Christian Berger (Gitarren, Loop, Electronics, Büchel, Sansula, Framedrum) und Dominic Doppler (Schlagzeug, Schlitztrommel, Perkussion, Sansula).

Webseite von Stories

Kaspar Schnetzler «Adieu Monsieur Monet», bilgerverlag

Ein Katzenbuch? Ich lese keine Katzenbücher. Und doch ist die Erzählung «Adieu Monsieur Monet» ein Buch über eine Katze, einen Kater. Und doch kein Katzenbuch! Eine Erzählung über einen Grossvater. Darüber wie eine Enkelin mit der ihr ganz eigenen Mischung aus Bestimmtheit und Charme eine feste Ordnung aus den Fugen bringt.

Ob Kaspar Schnetzler Katzen mag, weiss ich auch nach der Lektüre nicht. Mit Sicherheit nicht die Tatsache, dass sie Haare lassen, die Katzenstreu nur schwer verbergen kann, was die Tiere hinterlassen und sich Katzen nie an demokratisch gewachsene Regeln halten. Kaspar Schnetzlers Kater, der nicht zuletzt Monsieur Monet heisst, weil der Grossvater im Umgang mit dem zugetragenen Tier genau weiss, dass der Kater nie den Stellenwert einnehmen wird, den Katzen sehr oft geniessen, ist nur geduldet. Als seine Enkelin mit ihm das Programm gegen Einsamkeit startet, war das logische Folge eines traditionellen Museumsbesuch von Grossvater und Enkelin, als sich neben einem Bild von Ferdinand Hodler ein liegender Akt von Felix Valloton in den Vordergrund drängte und die Enkelin nach einem zu lange scheinenden Blick des Grossvater diesen fragt: «Grossvater, bist du einsam?» Und weil Enkelinnen tun dürfen, was die eigenen Kinder niemals hätten tun dürfen, steht diese eines Tages mit einem Kater in einem Korb und allem Nötigen zur Erstversorgung des Jungtiers in einer Tasche am Bahnhof.

Seit ein paar Jahren, schon lange pensioniert, seine Frau war gestorben, hatte er sich in seinem klein gewordenen Leben eingerichtet. Die Beziehung zu seiner einzigen Tochter hatte lange schon Risse bekommen, mit denen er sich abgefunden hatte, nicht längst nicht mehr zu kitten waren. Einziger Grund, warum er den mehr oder minder höflichen Kontakt aufrecht hielt, war die Enkelin, mit der Grova ab und an einen Tag verbringen durfte. Und wie alle Kinder spürt das Mädchen, was Erwachsene aus lauter Zurückhaltung nie benennen würden. Es wird ein Kater einquartiert, fremdbestimmt und ohne Zurück, denn Grova würde vor dem einzigen Menschen das Gesicht verlieren, für den sich eine übermenschliche Anstrengung noch zu lohnen scheint.

Ein Kater. Nicht nur der Gang in den «Fressnapf», jenes Geschäft, das alles anzubieten hat, was der Tierliebhaber mit Freude auszugeben bereit ist, wird zum Martyrium, sondern sein ganzes Leben, das mit einem Mal vollkommen vom Eigensinn einer Katze dominiert wird. Wär «Adieu Monsieur Monet» ein Katzenbuch, hätte Kaspar Schnetzler Anekdote an Anekdote gereiht. Aber dem Autor ging es darum, was ein Mädchen mit Entschlossenheit zum Wanken bringt. Grova ist nicht erst seit Grossmutters Tod von grantiger Natur. Es scheint, als wäre die Existenz des Tieres ein letzter Feldzug aus dem Jenseits gegen die Schweigsamkeit und Engstirnigkeit eines Mannes.

Wer das Buch liest und Katzen nicht mag, wird sich auch nach der Lektüre dieser Erzählung nicht in ein Katzenabenteuer wagen. Aber er wird sich fragen, was es braucht, um aus der Bahn geworfen zu werden. Und wer Katzen liebt, den wird freuen, mit wieviel Raffinesse dieses Tier die Krone der Schöpfung gängeln kann. Kasper Schnetzler ist feinsinniger Beobachter und trifft den Ton eines nicht nur von der verstorbenen Frau Verlassenen präzis.

Und vielleicht ist «Adieu Monsieur Monet» eine Tür für die grossen Romane eines Meisters des feinen Humors.

© Ayse Yavas

Kaspar Schnetzler (1942) lebt in Zürich. Er schreibt Romane, Erzählungen, Lyrik, Essays, Theaterstücke und Journalistisches. Ausgezeichnet wurde er mit einem Preis der Schweizerischen Schillerstiftung, dem Zürcher Journalistenpreis, einer Ehrengabe des Kantons Zürich.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Patrick Deville „Viva“, Bilgerverlag

Auf Patrick Devilles grosser Reise „durch Raum und Zeit“ begegnet sich der 1940 ermordete Lew Dawidowitsch Bronstein, der sich in gefälschten Papieren nur noch Lew Trotzki nannte und der britischen Schriftsteller Malcom Lowry nicht wirklich. Aber Patrick Deville verwebt die zwei Geschichten; von einem, der Geschichte schreibt und einem, der eine Geschichte schreibt. 

Malcom Lowry ist der Autor des Romans „Unter dem Vulkan“. Während Trotzki in Mexiko im Exil seine letzten Jahre verbringt, schreibt Lowry unweit von Trotzki an der ersten Fassung seines 1984 verfilmten Romans, der zu den grossen Romanen des 20. Jahrhunderts gehört. Patrick Deville verwebt in seinem kunstvollen Roman die zwei Biographien, zwei Leben zweier Getriebenen, minuziös recherchiert. Auch wenn die Geschichten in den Fakten manchmal fast zu ertrinken drohen, entwirft Patrick Deville ein faszinierendes Panorama über zwei Menschen und ihre Zeit. Ein Panorama, das die Fantasie abenteuerlicher nicht hätte erfinden können. Lew Trotzki, der Macher – und Malcom Lowry, der Zauderer. Und trotzdem spült es beide über die nördliche Hemisphäre, auf einer Riesenwelle, die die Welt in den Zweiten Weltkrieg spült. Ein aufschlussreiches Buch über Trotzki, der Legionen besiegt, von einem Eispickel besiegt. Von Lowry, von Zweifeln zerfressen, der sich selbst mit Tabletten vernichtet.

“Er dachte immer, es genüge, recht zu haben, und genau damit lag er falsch. Er glaubte, es genüge, mit gutem Beispiel voranzugehen, mit Taten, körperlichem Mut, Rechtschaffenheit, Vernunft. Er ist ein antiker Held, ein Mann Plutarchs“

Jahrelang fährt Trotzki mit seinem Gefolge in einem gepanzerten Zug durch ein Riesenreich im Umbruch. 1937, mit 57 Jahren steigt Trotzki wieder in einen Zug. Diesmal in Mexiko, zusammen mit seiner Frau, einem mexikanischen General und der noch jungen Künstlerin Frieda Kahlo. Ein mit Holz getäfeltes Abteil. Drei Jahre später stirbt Trotzki in seinem zu einer Festung umgebauten Haus im Süden von Mexiko-Stadt. Ein Sowjetagent, der sich als Sekretär tarnt, erschlägt den Revolutionär mit einem Eispickel, nachdem Trotzki schon einmal knapp einem Mordanschlag entgangen war.

Gab es eine Liebesgeschichte zwischen der Malerin Frieda Kahlo und dem ewigen Revolutionären Trotzki? Ausgerechnet Frieda Kahlo, von der man sagt, sie hätte Josef Stalin, Trotzkis Erzfeind verehrt. Patrick Devilles Roman „Villa“, Teil eines grossen von 1860 bis in die Gegenwart angelegten Grossprojekts, versprüht den Geist des Aufbruchs zwischen den Weltkriegen, von unerbittlich Suchenden, von Schicksalen, die aus heutiger Sicht fremd und viel weiter weg erscheinen als 70 Jahre. Ein dichter Teppich von Bildern, Stimmungen, Fakten, Querverweisen, schwindelerregend, gegensätzlich, bunt, ineinander verzahnt und beeindruckend konstruiert.

Zugegeben, es braucht auch eine Portion Biss, ein echtes Interesse an Geschichte und, zumindest in meinem Fall, die Muse, langsam zu lesen, um zwischendurch Atem zu holen. Zeit, um nachzuschlagen, virtuell oder haptisch. Erstaunlich genug, dass Patrick Deville einen lesbaren Weg findet durch die schiere Menge an Recherchematerial. Ein Buch über jene Jahrzehnte, die die Welt in weiten Teilen komplett veränderte.

Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.

Bilgerverlag? Der Verlag mit dem Finger mehr? 2001 wurde der Verlag von Ricco Bilger und Kurt Heimann gegründet. Urs Augsburger und Urs Mannhart wurden in dem kleinen Verlag gross. Ein erstaunliches Unternehmen, das Bücher in einem unverwechselbaren Kleid entstehen lässt. Buchkunst, die viel Leidenschaft, eben einen Finger mehr als alle andern zeigt! Ein Verlag mit ungebrochenem Mut und eigenständigem Gesicht!

Patrick Deville, geboren 1957, ist ein französischer Schriftsteller. Nach Studien und der vergleichenden Literatur und der Philosphie in Nantes hat Deville im Nahmen Osten, Algerien und in Nigeria gelebt. In den neunziger Jahren hielt er sich in Kuba und anderen lateinamerikanischen Ländern auf. Er publiziert seit den achtziger Jahren. Seine Romane «Pura Vida» und «Äquatoria» wurde ins Deutsche übersetzt. Sein Roman «Kampuchéa» wird im Jahr 2011 von der Zeitschrift Lire zum besten französischen Roman des Jahres ernennt. Sein vorletzter Roman «Peste et Choléra» aus dem Jahr 2012 handelt von dem Bakteriologen Alexandre Yersin.

Das 39. Literaturblatt entsteht.

„Literarische Blogger und -innen gibt es zuhauf, auch wenn kaum mal einer oder eine ein Buch aus dem Verlag hier hinten am Horizont in die Hände bekommt. Macht nix, Hauptsache Long John Silver liest unsere Preziosen. Nun ist es so, dass auch die Welt der Blogs eine der Superlative ist und wen wundert es, dass die Suche nach dem Besten, Schönsten und Weitvernetztesten im Gange ist. Mir persönlich ist nur einer bekannt; ein wenig verrückt ist er, – wie könnte ich ihn sonst kennen –, publiziert er doch seine immer eigenwillig geschriebenen Buchrezensionen – davon kann man sich jederzeit selbst überzeugen – nicht nur auf seinem Blog, sondern schreibt diese zusätzlich und von Hand mit Kugelschreiber wie in ein (B)Logbuch, druckt das Ganze auch noch auf Papier und verschickt diese Flaschenpost, die LITERATURBLATT heisst, per Post, mit Briefmarke und allem, was dazu gehört.“ Ricco Bilger, Verleger

Danke. Gründe für Komplimente zurück gibt es viele. Ich nenne sechs:

1. Seit 17 Jahren begeistert der bilgerverlag mit einem beeindruckenden Verlagsprogramm. Anne Cuneo, Urs Augsburger, Urs Mannhart oder Christoph Simon wurden in diesem Verlag gross oder fanden ein verlegerisches Zuhause.

2. Der bilgerverlag ist mutig, macht Bücher, die sonst keinen Hafen fänden. Bücher, die Verpflichtung und Aufgabe sind und kaum je die Investitionen zurück in die Verlagskasse schwemmen.

3. Bücher aus dem bilgerverlag sind unverkennbar, unverwechselbar. Nicht nur wegen ihres hohen literarischen Werts, sondern wegen ihres Designs: kein Schutzumschlag, bedrucktes und gestaltetes Vorsatzpapier, gebunden und nicht geklebt, mit Lesezeichen…

4. Zum Verlag gehört auch Ricco Bilgers Buchhandlung sec52 an der Josefstrasse 52 in Zürich. Ein Ort des guten Buches, eine Oase der Literatur, ein Garant für Qualität und Exklusivität.

5. Ohne Ricco Bilger gäbe es das Internationale Literaturfestvial Leukerbad nicht. Ricco Bilger gründete es 1996. Seit 2005 ist Hans Ruprecht der Organisator.

6. Ricco Bilger ist unermüdlich. Selbst an Kleinstbuchmessen sitzt der Streiter für das gute Buch hinter dem Tisch mit seinen Büchern und preist an.

Webseite bilgerverlag

Webseite Buchhandlung sec52

Marie-Jeanne Urech «Schnitz», Bilger

Kunst ist frei. Und weil sie frei ist, darf sich Literatur alles erlauben. «Schnitz» Marie-Jeanne Urechs dritter auf Deutsch erschienener Roman ist frei, voller Poesie und starker Bilder. Die gelernte Filmemacherin beweist ein besonderes Gespür für Inszenierung, hinterlässt einen bleibenden Eindruck!

Ist Kunst frei? Zumindest dort, wo man nicht dafür verfolgt oder eingesperrt wird. Die Welt abzubilden, wie sie ist, ist Aufgabe des Journalismus, der Reportage. Kein Mensch ermahnt einen Maler, sich an Fakten zu halten. Aber weil man dem geschriebenen Wort mehr als allem anderen zu glauben scheint, weil es Authentizität ausstrahlt, wenn man mit seinem Namen besiegeln kann, brechen selbst jene Grenzen, die bisher logisch waren. So macht sich gesteuertes Kalkül in Fake-News breit und zugleich werden Stimmen laut, die Literatur möge endlich Stellung beziehen, sich an aktuellen Fragen in Politik und Gesellschaft beteiligen. Aber Literatur soll Kunst sein, muss Kunst sein, muss frei sein. Wenn sie zu einem blossen Instrument wird, selbst dann, wenn nur noch Provokation in den Zeilen schreit, macht sich Geschriebenes, das sich als Literatur preist stutzig. «Schmitz» macht mich glücklich!

Marie-Jeanne Urech schafft Literatur, Literatur in der Totalen, Literatur im Kleinen. Die Autorin nimmt Realität und macht sie zur Kulisse. Ihr Personal sind Archetypen, holzschnittartig gezeichnet. Die Geschichte der Familie Kummer eine wilde Fahrt in eine abgrundtiefe Welt poetischer, in dunklen Farben gemalter Bilder, auch wenn die ganze Szenerie im Grellen Weiss eines ewigen Winters spielt.

Nathanel Kummer versucht mit aller Kraft, die Familie zusammenzuhalten, obwohl ihn Rückstände und Zahlungsaufforderungen von einer Katastrophe in die nächste treiben. Nathanel arbeitet täglich 21 Stunden, an drei verschiedenen Arbeitsstellen. Seine Frau Rose verkauft Pillen gegen die Traurigkeit, Vitaminkuren, die sich niemand in der heruntergewirtschafteten Stahlstadt mehr leisten kann. Serafin, der Grossvater, ein verwirrter Kriegsveteran, wacht entweder am Lichtschalter im Wohnzimmer oder macht sich auf auf die Suche nach dem «Schwarzen Mann», den er zu kennen glaubt, von früher, damals, der ihm und seiner Familie aus der Not helfen soll. Die beiden Kinder Yapakleu und Zobeline, die längst nicht mehr zur Schule gehen, streifen auf der Suche nach Brauchbarem durch die zerfallende Stadt, bis sie einen Pommes-Automaten entdecken, aus dem ein Riese steigt, zu ihrem Freund wird und ihre Spielsachen verstecken hilft. Die letzte unter dem Dach der Familie ist Philantropie, die in ihrer unsäglichen Leibesfülle aus purer Menschenliebe besteht und wenn sie singt, Haus und Garten mit andächtig Lauschenden füllt, die für die Dauer des Gesangs all das Elend in der kaputten Stadt vergessen. Philanthropie ist so ausladend dick, dass sie sich nicht mehr vom Sofa stemmen kann. Einziges Nahrungsmittel, das sie noch verträgt, ist ein Blätterteiggebäck mit viel Puderzucker; Schnitz. Nathanel Kummer und seine Familie sind eine der letzten, die in der zweigeteilten Stadt noch nicht endgültig aus ihrem Haus vertrieben sind, auch wenn der Kommissar und Gerichtsvollzieher alles daran setzt, die Familie auf die kalte Strasse zu setzen. Der Kampf zwischen den Menschen in den eingeschlossenen Villen, den Glastürmen mitten in der Stadt und der darbenden Bevölkerung ist längst entschieden. So gesehen hat der dunkel-bunte Roman von Marie-Jeanne Urech durchaus eine real-politische Parallele. Aber ich glaube nicht, dass dahinter eine aufklärerische Absicht steckt. «Schnitz», Marie-Jeanne Urechs dritter Roman überzeichnet Realität wie die zwei vorangegangenen Romane. Die Autorin will nicht aufklären, nicht warnen, obwohl es indirekt dann doch geschieht, wenn über ihren Roman, über ihre Kulisse diskutiert wird. Sie erzählt von einer Klassengesellschaft , von den Superreichen in ihren Glaspalästen und den von Bilanzen Gestraften, von Schulden Erdrückten, von Armut Gepeinigten.

Marie-Jeanne Urechs Roman lebt von den Gestalten und Bildern, die zwischen Alp und Traum pendeln, von Namen, zwischen bedeutungsvoll und verspielt, von den kleinen Geschichten im Roman. Von Nathanel Kummer, der seinen streusalzbeladenen Laster durch die ewig wintrige Stadt pflügt und nichts unversucht lässt, um seine Familie zu retten. Von der dicken Philanthropie, die auf dem Sofa im Wohnzimmer thront, ihren betörenden Gesang mit ausgebreiteten Armen in den Äther schmettert, sekundiert von zwei kleinen Engeln, Daphne und Tournov, die Philanthropie immer dann bewachen, wenn sie nicht singt. Von den beiden Kindern Yapakleu und Zobeline, die auf ihren Erkundungen durch die Stadt einen Pommes-Automaten entdecken, aus dem im Dunkeln, kurz vor acht, ein Riese aus einer kleinen Seitentür des Automaten entsteigt, sich entfaltet und im Dunst von Bratöl auf die andere Strassenseite geht. Der Riese wird zum Freund der Kinder, zum Hort und Hüter ihrer Geheimnisse. Es ist das Personal, das ich zu lieben beginne, selbst den Kommissar in seiner Verzeiflung, den der Winterwind in immer neuer Mission auf die Vortreppe des Hauses weht, um mit neuen Papieren das Ende des Hausfriedens anzukündigen.

Und es ist die Poesie, die Sprache, das unerschrockene Erzählen der Autorin, diese starke Stimme, die es schafft, ihr Erzählen immer wieder mit markigen Sätzen zu durchsetzen. Sätzen, die das Zeug zu Zitaten haben. «Schnitz» ist ein Buch, dass ich mit einem Stift hinter den Ohren lesen musste, um nichts zu versäumen. Eine erfrischende Stimme aus der Westschweiz, die unzimperlich erzählt und es verdient, in der deutschsprachigen Lesewelt entdeckt zu werden. Marie-Jeanne Urech zaubert, auch wenn die Bilder in düsteres Licht getaucht sind.

Marie-Jeanne Urech liest am Literaturfestival Leukerbad aus ihrem neuen Roman. Ebenfalls zu Gast am internationalen Literaturfestival im Wallis ist der zweite Literaturstern aus der Westschweiz, dessen neustes Buch im bigerverlag erschien: Quentin Mouron mit «Notre-Dame-de-la-Merci» (ebenfalls auf literaturblatt.ch besprochen!).

Marie-Jeanne Urech wurde 1976 in Lausanne geboren. Nach einem Studium der Soziologie und Anthropologie in Lausanne machte sie 2001 ihren Abschluss an der London Film School und lebt heute als Regisseurin und Schriftstellerin in Lausanne. Im bilgerverlag erschienen 2006 «Mein sehr lieber Herr Schönengel» und 2013 «Requisiten für das Paradies». Alle Roman wurden aus dem Französischen übersetzt von Lis Künzli.

Titelbild: Sandra Kottonau

André David Winter, Gedichte aus der Schublade

Die Farben

Als wären wir Entdecker
Suchen wir die Farben,
Die hier an den Rand
Wichen.
Schwarze Äcker
Liegen wie Narben
In den weissen Land-
Strichen.

Wo ist anderes Wetter?
Wo sind die Blätter,
Die mit ihren Farben
Um uns warben.

Sind sie in uns verschwunden?
In langen Abendstunden
Holen wir sie heraus
In irgendeinem Haus,
Und bringen die feuchten
Abende zum Leuchten.

Ein blauer Tag

Auf den Bergen liegt Schnee,
Kormorane spreizen ihre Flügel.
Licht funkelt auf dem See,
Nebel, noch hinter dem Hügel.

Von irgendwo kommt ein Weg,
Weit weg, ein einsamer Geher,
– Möwen auf dem alten Steg –
Seine Schritte kommen näher.

Dies stille Land
Im Wintergewand.
Wasser legt Wellen
In den hellen
Sand.

Ein blauer Tag!
Auf dem See
Ein Flügelschlag.
Die Kälte tut weh,
Greift jeden Duft
Aus der kalten Luft.

Langsam naht die Nacht,
Das Licht schon blasser,
Ein Schwan landet sacht
Auf dem dunklen Wasser.

Die Nacht wird dichter,
Aus weiter Ferne
Glänzen die Lichter
Unbekannter Sterne.

So viele Hände
Haben nichts mehr zu tun.
Ein Tag geht zu Ende,
Und alles darf ruh’n…

 

Zu «Jasmins Brief», André David Winters letztes Buch: Käthe, alt und müde, weiss, dass ihre Tage gezählt sind. Selbst die paar Scheiter für den Ofen werden zur Strapaze. Und jeder Gang nur erträglich, wenn sie die kleine Flasche mit Morphium in Griffnähe weiss. Käthe ist allein. Ihr Mann, vor Jahren gestorben, verriet ihr auf seinem Sterbebett, dass sie nicht seine Einzige war. Käthe muss feststellen, dass sie bloss Stellvertreterin war. Sie blieb kinderlos in einer Ehe, in der sie schnell spürte, «dass etwas nicht stimmte». Aber sie schickte sich hinein. Käthe räumt auf, liest endlich den Brief, den sie schon lange mit sich herumträgt. Den Brief von Jasmin, auch eine Stellvertreterin, eine für die Enkelin, die sie so gerne gehabt hätte. Und Käthe denkt an Tolstoi, dem es noch kurz vor seinem Tod gelungen war, aus einer Ehe zu entfliehen, in der es nicht stimmte. Aber Käthe blieb. André David Winter schlüpft mitten ins Herz einer Frau, die nichts bereut, auch wenn es in ihrem Leben Gründe genug gegeben hätte, zu hadern und zu brechen. Ein sprachlich feines Buch aus dem ebenso feinen Kleinverlag «edition bücherlese».

André David Winter, geboren 1962 in der Schweiz. Seine Kindheit verbrachte er bis zum achten Lebensjahr in Berlin. Mit vierzehn verlor er seine Mutter. Nach Abbruch einer Lehre arbeitete André David Winter auf Bauernhöfen in der Schweiz und in Italien. Es folgten die Ausbildung in der Psychiatrie sowie die Arbeit in Notschlafstellen und in einem rumänischen Kinderheim. Heute arbeitet Winter als Kursleiter und Erwachsenenbildner im Gesundheitswesen. 2008 erschien sein Roman «Die Hansens», der von den Medien und dem Buchhandel begeistert aufgenommen wurde. 2012 folgte «Bleib wie du wirst. Deine Demenz, unser Leben». Zuletzt erschien bei edition bücherlese «Jasmins Brief».
André David Winter ist verheiratet und lebt mit seiner Familie in Emmen bei Luzern.

Quentin Mouron «Notre-Dame-de-la-Merci», Bilger

Auch wenn Quentin Mouron, Jahrgang 89, noch jung ist, ist dieser schmale, beim Zürcher Bilger Verlag herausgekommene Roman, ein Buch von unsäglicher Tiefe, Traurigkeit und reifer Verzweiflung. Eine Tragödie von sheakespearscher Kraft gepaart mit dem schonungslosen Realismus amerikanischer Erzähler, so gar nicht das, was ich unter nabelfixierter Literatur verstehe.

Quentin Mouron weiss, wovon er erzählt, wuchs dort auf, wo der westeuropäische Tourist die Freiheit vermutet, in den Wäldern von Québec, «zwischen Feuer und Kälte». Der junge Autor erzählt die Geschichte aus einer finsteren Gegenwart, in einem Winter, der nicht nur Kulisse des Geschehens ist, denn die Kälte reisst einem Risse in die Haut. Odette liebt Jean. Daniel liebt Odette und Jean liebt nur sich selbst. Drei kaputte Leben im ewigen Strudel einer Sackgasse. Odette verwittwet und gescheitert, geschunden und verletzt, hält sich mit Drogenlieferungen über Wasser. Daniel, im Würgegriff finanzieller Schulden und dem Elend zuhause, hilft Odette als Kurier, weiss, dass es der falsche Weg aus seinem Elend ist, aber der einzige. Und Jean, der die Polizei ruft, nachdem sich sein Vater im Schuppen erhängte. Jean, ein Möchtegerngangster, dessen einzige Regel er selbst ist, jeden instrumentalisieren will, Odette als Frau, Daniel als img_0138Sündenbock. Drei Schicksale, drei brennende Lunten, die sich unaufhaltsam auf das gleiche Pulverfass hinfressen. Drei Leben, die irgendwann aus dem Tritt gerieten, dasjenige von Jean mit aller Absicht, das von Daniel, weil das Leben mit ihm spielt, das von Odette, weil sie gefangen ist. Daniel und Jean, zwei Archetypen von Männern, die unterschiedlicher nicht sein können. Und dazwischen eine Frau, deren Leben sich an ihr selbst rächt, die nicht aus ihrer Haut schlüpfen kann, trotz allem Zorn, aller Wut.

Das ist die Geschichte. Die Geschichte eines Dreiecks. Aber Quentin Mouron erzählt durch den Roman auch von sich selbst, seinem Schreiben, dem Kampf mit sich, mit seiner Gegenwart, mit der Deformation einer ganzen Generation. Quentin Mouron leidet, verzweifelt und macht 95 Seiten lang keinen Hehl daraus. «Notre-Dame-de-la-Merci» erzählt von seiner Verzweiflung, dass gewisse Leben nie und nimmer umzukehren sind, dass Unglück unabwendbar scheint, die Katastrophe nur immer eine Frage der Zeit. Was der Autor an persönlichen Gedanken in den Roman mischt, ohne ihn zu stören, zwang mich öfters zu mehrmaligem Lesen, weil da jemand mit seiner Verzweiflung an der Welt, mit dem Schicksal der Verlorenen hadert, die nicht wie er selbst eine Stimme haben, ihre Ausgeschossenheit von Glück, Wärme und Liebe.

Starke Literatur von einer starken Stimme. Grund genug, dass Mouron Stimme auch in der deutschsprachigen Welt wahrgenommen wird.

img_0139Quentin Mouron, Schriftsteller und Dichter mit schweizerisch-kanadischen Wurzeln wurde 1989 in Lausanne geboren und verbrachte seine Kindheit in Québec.
Er schrieb bisher fünf Romane und avancierte schnell zum Stern am Himmel der jungen Literatur in der Romandie und in Frankreich.

Webseite des Autors 

(Titelbild: Sandra Kottonau)

Anita Siegfried «Steigende Pegel», bilgerverlag

Seit Juni 2016 brettern Züge durch den neuen Neat Basistunnel, einem Jahrhundertbauwerk durch den Alpenriegel, genau wie vor 130 Jahren der Eisenbahntunnel. Höchstleistungen, Pioniergeist, ungebrochener Glaube an Machbarkeit und Technik, Beharrlichkeit und Muskelkraft, früher wie heute. Aber vor 100 Jahren hatte auch der Ingenieur Pietro Caminada eine gigantische Idee: einen Kanal über die Alpen, der Nordsee und Mittelmeer miteinander verbinden sollte.

Anita Siegfried erzählt in ihrem neuen Roman «Steigende Pegel» nicht nur die wechselvolle Lebensgeschichte des umtriebigen Ingenieurs Pietro Caminada nach, sondern verwebt geschickt Fakten und Fiktion. Ein Teil des Romans 43534beschreibt eine Schifffahrt durch das Kanal-, Tunnel- und Schleusensystem. Ein anderes erzählt von dem, was nach dem Einbruch und dem Vergessen des umgesetzten Projekts übrig geblieben ist. Er versetzt mich in die Welt des «Was-wäre-wenn». Wirklich übrig geblieben ist, gemessen an seinen Ideen, nicht viel, ausser einem Strassennamen in einem Aussenbezirk Roms, einigen Bauwerken in Rio und einer Unzahl von städtebaulichen Visionen und Plänen. So entwarf Pietro Caminada schon 60 Jahre vor Baubeginn Pläne für die neue Hauptstadt Brasilia.

9783037620540_1455901557000_xxlAlles andere in den Schatten stellend ist Caminadas Plan einer Wasserstrasse über den Splügen. Der gesamte Wasserweg hätte zwischen Genua und Basel 591 km betragen, 230 km auf Seen und Flüssen, 30 km in doppelten Galerien, 43 km in Röhrensystemen und der Rest in offenen Kanälen. Doch obwohl man Projekt und Ingenieur mit viel Zustimmung und Anerkennung begegnete, wurde das Projekt wohl hauptsächlich aus Geldmangel nie umgesetzt. Nicht zuletzt waren es aber Kriege, die eine Umsetzung verunmöglichten.

Anita Siegfried begleitet den Ingenieur Pietro Caminada zusammen mit seiner Familie bis ins hohe Alter, bis in jene Zeit, als Schwarzhemden in einem faschistischen Italien seine Ideen gänzlich entfremdeten.

Schön, dass mit Anita Siegfrieds Roman «Steigende Pegel» ein Buch des Verlegers Ricco Bilger den Weg ans Literaturfestival Leukerbad findet, einem Bücherfest, das mit Rico Bilger begann. (Homepage Literaturfestival Leukerbad)

imgresAnita Siegfried studierte Archäologie und Kunstgeschichte in Zürich. Auslandaufenthalte nach dem Studium führten sie u.a als Stipenditatin des Istituto Svizzero nach Rom. Später arbeitete sie für ein Projekt des Schweizerischen Nationalfonds und bei der Kantonsarchäologie Zürich. Seit 1994 ist sie freischaffende Autorin. Es entstanden zahlreiche Kinder- und Jugendbücher, Hörfolgen und drei Romane. Die Autorin lebt in Zürich.

Anita Siegfried ist Gast am Literaturfestival in Leukerbad.vs_literaturfestival_over

Homepage der Autorin

Literaturfestival Leukerbad