Karin Richner «Der Traum des Walnussbaums», bilgerverlag

Knackt man eine Walnuss, sieht das Innere einem Hirn sehr ähnlich; gespeicherte Zeit – gespeicherte Erinnerung. Karin Richner hat mit ihrem neuen Roman „Der Traum des Walnussbaums“ ein Buch über die Zeit geschrieben, über Erinnerungen, die mit ihr verblassen und entschwinden oder mit einem Mal wieder auftauchen. „Der Traum des Walnussbaums“ ist eine literarische Kostbarkeit, der ich jedes mögliche Podest wünsche!

Es hat acht Jahre gedauert, bis nun endlich ein neues Buch der Sprachkünstlerin meine Neugier stillt. Ein Buch, das trotz seiner Erzählspanne von fast 500 Jahren den Bogen in keiner Weise überspannt. Von 1874 bis 2351 erzählt Karin Richner von den Jahrringen einer um Dasein und Überleben kämpfenden Spezies. Ein Buch, das in sechs Kapiteln aus der Perspektive sechs verschiedener Menschen von dem erzählt, was wir in unserem Alltag viel zu leichtsinnig in Stein gemeisselt sehen; eine Welt, die wir zu kennen glauben, eine Welt, die immer so bleiben wird und muss, wie sie sich aktuell zeigt oder wie wir mit Bedacht einzublenden versuchen. Dabei ist nichts, wie es ist, weder die Gegenwart so, wie sie sich uns zeigt, noch die Zukunft, wie die Gegenwart verspricht. Alles ist im Fluss und nichts und niemand kann vorhersagen, ob dieser mäandernde Fluss nicht plötzlich das Ufer aufbricht und einen ganz anderen Lauf nimmt.

„Der Traum des Wahlnussbaums“ widerspiegelt etwas von dem, was passiert, wenn ich durch den nahen Wald meines Wohnorts spaziere, vorbei an all den knorrig alten Eichen, die schon so lange stehen und in ihren Jahrringen Dinge speichern, die längst jeder Erinnerung entglitten sind. Aber Karin Richner tut dies in keiner Weise in einer verklärten, übersinnlich entrückten Säuselei, sondern so wie in den drei Kapiteln vor der Gegenwart absolut sachlich und die Wirklichkeit respektierend, auch in den drei Kapiteln in der Zukunft. Einer Zukunft, die unseren Planeten im kommenden Jahrhundert in einen Krieg der Kontinente manövriert und „über die Erde fegt wie ein alles verschlingender Dämon“. Wie sich aus der verbrannten Erde erst mit den Jahrhunderten ganz langsam wieder scheues Leben hervorwagt und das, was von der Menschheit übrig geblieben ist, sich aus ihren unterirdischen Bunkern wieder hervortraut.

Karin Richner «Der Traum des Walnussbaums», bilgerverlag, 2021, 186 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-03762-092-2

Karin Richners Roman ist keine Dystopie im eigentlichen Sinn, viel mehr ein Entdecker:innenroman, ein Abenteuerroman. Ein Roman, in dem jene Sorte Mensch die Hauptrolle spielt, die nicht an Macht und Reichtum interessiert ist, sondern die in erster Linie verstehen will. Die sich auf die Suche macht, die sich nicht in ein dumpfes Dahinvegetieren ergeben hat, die aufbrechen will, die weiss, dass es hinter allem etwas Anderes, Neues zu entdecken gibt. 

Immer wieder ranken die Geschichten um das Leben in einer Universität, an den Orten, an denen Wissen und Erfahrung gespeichert ist, an denen Menschen forschen, festhalten und kombinieren, die zum Humus werden für all die Bäume, die in den Himmel wachsen sollen. Selbst die apokalyptischen Kriege der Zukunft werden diese Speicher der Erinnerungen nie ganz auslöschen können. Beschädigen leider schon, aber niemals dem menschlichen Hunger nach Erkenntnis entziehen.

Was mich neben Karin Richners erzählerischem Wagnis aber noch viel mehr überzeugt, bewegt und fasziniert, ist eine ausgereifte, farbige Sprache. Die satten Bilder, die Räume, die sie mit wenigen Sätzen zu erschaffen versteht. Die Nähe zu den Personen, obwohl sie sich auf ein halbes Dutzend Protagonist:innen konzentriert – auf nicht einmal 200 Seiten. Man liest dieses Buch mit hochgezogenen Brauen, klappt es am Schluss nicht einfach zu, sondern schliesst es ganz langsam, um mit allen Sinnen noch lange im Nachhall dieses Kunstwerks zu bleiben.

Und dann ist da noch das Buch als haptisches Objekt selbst. Der Verleger Ricco Bilger schafft es immer wieder meisterlich, jedem seiner Bücher jenes Gewand zu geben, das ihm entspricht. Als hätte er wirklich einen Finger mehr in seinem verlegerischen «Händchen».

Hätte ich einen roten Teppich; ich würde ihn vor der Autorin ausrollen!

Interview

Dass jemand mit einem Roman so viel Mut zeigt, ist schon beachtlich genug, denn jedes Experiment birgt auch vielfältige Möglichkeiten des Scheiterns. Sie spannen den Bogen weit, ohne ihn in irgend einer Weise zu überspannen. Schrieben Sie mit einem Plan? War da von Anfang an eine Idee, die sich durchsetzte?
Die Idee war anfangs, wie immer bei meinen Romanen, eher vage. Ich suchte nach einer Möglichkeit, verschiedene Lebensgeschichten – die zu verschiedenen Zeiten spielen – auf irgendeine Weise zu verknüpfen, mehr wusste ich nicht. Der Text hat sich aus dieser Grundidee allmählich entwickelt, und irgendwann wurde dann klar, wie die genaue Umsetzung sein sollte. Dass diese Form ein Experiment ist und ich damit scheitern kann, war mir ebenfalls bewusst… wenn ich aber überzeugt bin, dass ein Text die Form gefunden hat, die er natürlicherweise in sich trägt, spielen solche Überlegungen für mich keine Rolle. 

Tapetenstücke aus dem Aarauer Altstadthaus, in dem die Autorin eine Weile wohnte.

Ein Walnussbaum lässt im Herbst seine Nüsse fallen, und legt sich jeden Winter einen weitern Jahrring zu. Jede Nuss, jeder Jahrring etwas gespeicherte Zeit. In Ihrem Roman geht es um Zeit, Erinnerung und das Vergessen. Leben wir zu wenig im Bewusstsein unserer eigenen Nichtigkeit?
Ich glaube – ich empfinde das anders – das Leben eines Einzelnen kann vielleicht nichtig erscheinen, vor allem im grossen Zusammenhang der Menschheitsgeschichte, in Wirklichkeit ist aber die Existenz jedes Menschen von absoluter Bedeutsamkeit. Weil jedes Individuum diese Geschichte ja mitformt, und weil zudem jeder Mensch ein einzigartiges Wesen hat. 

Über Jahrhunderte war es der Mensch, der die Welt in eine Form zu fassen versuchte. Er baute Gärten und Parks, um in menschlicher Ästhetik die Natur zu optimieren. In der Zukunft ihres Romans hat sich der Mensch mit seiner reduzierten Natur unter Kuppeln zurückgezogen, weil das, was von der Natur übrig geblieben ist, menschenfeindlich wurde, zumindest für einige Jahrhunderte. Ist nicht selbst dieses Szenario ein optimistisches?
Dem würde ich zustimmen. Der optimistische Grundgedanke zieht sich durch den gesamten Roman, und er zeigt sich auch in diesem Szenario. Der Mensch adaptiert sich immer an veränderte Umstände, und er bleibt dabei menschlich: Beziehungen, Empfindungen, die Verbundenheit mit der Natur – all das ist in seinem Kern unveränderlich.

Büchern wird es in „Ihrer Zukunft“ fast keine mehr geben, dafür fleissige Archivare, die in endlos scheinender Kleinarbeit aus den Schutthalden zerbombter Bibliotheken nach dem Prinzip Zufall das Wenigste zu retten versuchen. Man hat den Tod des gedruckten Buches schon oft prophezeit. Aber wenn man auch in nächster Zukunft so rabiat mit den natürlichen Ressourcen umgeht, werden Bibliotheken mit Papier wohl zu Museen und Bücher zu Sonderanfertigungen für Sammler. Können Sie sich eine Wohnung ohne Bücher vorstellen? Eine Wohnung, in der Sie sich zuhause fühlen?
Generell denke ich nicht gerne in absoluten Kategorien. Wird die Welt der Zukunft eine bücherlose sein, wird es dafür anderes geben – Dinge, die wir uns nicht vorstellen können, bevor es sie gibt, und über welche die Menschen sagen werden: Wie hat man jemals ohne sie leben können? Um Ihre Frage zu beantworten: Ja, ich bin mit Büchern aufgewachsen, und wenn ich gegenwärtig die Möglichkeit habe, fülle ich mein Zuhause damit, aber wer weiss, welche veränderten Umstände mit dem Verlust von Büchern Hand in Hand gehen würden… vielleicht würden sie mir dann gar nicht fehlen. Veränderung war von Anfang an Bestandteil der Menschheitsgeschichte.

Zwei Männer reiten durch die Landschaft, dorthin, wo sie den Niedergang eines Meteoriten vermuten. Sie suchen und finden ihn, einen faustgrossen Brocken, der auf seiner unendlich scheinenden Reise durchs All auf der Erde einschlug. Ein Stück Materie gewordene Ewigkeit. Dabei trägt doch jeder Stein diesen Code in sich. Selbst wir Menschen. Ist es die Gier des Entdeckers, die die Bergung dieses Steins zur Besonderheit werden lässt?
Vielleicht empfindet man einen Meteoriten als etwas Besonderes, da er lange Zeit fern von der Erde existiert hat – er stellt eine Verbindung zur Unendlichkeit des Weltalls dar. Zudem sind Meteoriten rar, und das Seltene ist immer auch etwas Aussergewöhnliches. Im Fall des betreffenden Protagonisten kommt aber ganz bestimmt auch die Persönlicheit des Entdeckers hinzu.

Karin Richner, geboren 1980, lebt und arbeitet in Aarau. Sie studierte an der Universität Basel Deutsch, Englisch und Geschichte. 2007 erhielt sie ein Aufenthaltsstipendium von Pro Helvetia und einen Werkbeitrag des Aargauer Kuratoriums. Ihre Werke erscheinen im bilgerverlag.

Beitragsbild © Dieter Kubli