«Sicher ist nur, dass nicht wir bestimmen, wer wir sind.» Anna Kim im Literaturhaus Thurgau mit «Geschichte eines Kindes»

Anna Kim, 1977 in Südkorea geboren, als kleines Kind mit ihrer Familie nach Deutschland und später nach Österreich gekommen, veröffentlicht seit 2004, bald 20 Jahre, vor allem Romane und Essays. Ein erstes Mal hörte und sah ich Anna Kim in Leukerbad am Internationalen Literaturfestival 2017 mit ihrem Roman „Die grosse Heimkehr“, ein Roman über die Geschichte Nord- und Südkoreas nach dem zweiten Weltkrieg, von einer jungen Frau auf den Spuren ihrer Wurzeln.

Anna Kim trennt ihr biographisches nicht von ihrem politischen Schreiben, das Individuelle und das Politische wäre stets eine Einheit gewesen, weil ihr Aussehen scheinbar nicht das repräsentiert, was ihrer Biographie entspricht, weil man Menschen allzu schnell nach ihrem Äusseren taxiert. 

Logische Konsequenz daraus ist ihr Roman „Geschichte einer Kindheit“, mit dem Anna Kim von Wien nach Gottlieben angereist war.

Wie alle ihre Bücher ein erstaunliches Werk schon deshalb, weil sich Anna Kim nie auf das Kleinräumige, Nationale, Regionale reduzieren lässt, weil ihre Geschichten, die Schauplätze ihrer Romane stets einen global übersetzbaren Hintergrund besitzen, der sich genauso global verortet in den Romanen niederschlägt; ob in Grönland, Kosovo, Korea oder den Nordamerika; ihre Romane sind Suchen nach den Gründen, warum Menschen nicht zur Ruhe kommen, warum Menschen sich und andere stets in Schubladen pressen, grosse Schubladen oben mit viel Raum, enge unten, in die man alles stopft, was man oben nicht haben will. Sozio-politische Themen, die die Autorin, so verriet sie in einem Interview, auch dann nicht loslassen, wenn die Romane zu ende geschrieben sind und ihr Fokus auf Neues ausgerichtet wird.

„Geschichte einer Kindheit“ führt uns in eine us-amerikanische Kleinstadt im im Jahr 1953. Carol Truttmann ist jung und bekommt ein Kind. Als Vater ist keiner da. Aber auch ihre Muttergefühle siegen nicht über den Entschluss, den kleinen Jungen noch in der selben Nacht zur Adoption freizugeben. In der kleinen, konservativen Stadt, in der nichts verborgen bleibt, wäre das schon Skandal genug. Aber der kleine Junge ist nicht „weiss“ wie seine Mutter, sondern „negrid“. Und seine Mutter weigert sich, den Vater zu nennen, obwohl sie von den Sozialdiensten der Stadt immer und immer wieder aufgefordert wird, einen Namen zu nennen, um das Verfahren einer rechtsgültigen Adoption in Gang zu bringen. Der kleine Daniel wird bis zur Adoption in ein Heim gebracht, während eine ganze Maschinerie versucht, einen Pflegeplatz für den dunkelhäutigen Jungen zu finden und eine übereifrige Angestellte das Sozialdienstes keinen Versuch unterlässt, der jungen Mutter wegen des unbekannten Vaters auf den Zahn zu fühlen. Detektivische Nachforschungen, die aus gegenwärtiger Sicht mehr als übergriffig erscheinen, die mehr als verständlich machen können, dass sich eine junge Frau mehr und mehr verweigert.

Man sorgt sich durchaus um den kleinen Daniel. Man ahnt, dass er es in einem rein weissen Umfeld in Zukunft schwer haben wird. Dass auch eine Familie, die den kleinen Daniel adoptieren wird, nicht einfach einen Jungen in ihre Familie aufnehmen wird, sondern sich einer beinah feindlichen Gesinnung stellen muss. Anna Kim verdeutlicht das schmerzhaft eindringlich in den Akten des Sozialdienstes der Erzdiözese Green Bay, die in drei Teilen die Nachforschungen dokumentieren. Briefe, Telefonate und Berichte, die schneidend präzise verdeutlichen, wie sehr Behörden und vor allem die österreichischstämmige Sozialarbeiterin Marlene Winckler, durchdrungen sind von völkischem Gedankengut, der Überzeugung, dass alle nichtweissen Menschen der weissen Rasse unterlegen sind. Die Passagen dieser Akten, die Sprache, die Art und Weise, wie über das Schicksal des kleinen Jungen verhandelt und verfügt wird, schmerzt und macht offensichtlich, wie tief das elitäre Bewusstsein institutionalisierte „Nächstenliebe“ dominiert.

Anna Kims Roman hat mehrere Stimmen. Zum einen jene der jungen Frau, die einen ruhigen Ort zum Schreiben sucht, die eine Fährte aufnimmt und in Rückblenden zu reflektieren beginnt und von ihrem eigenen Leben erzählt, zum andern die unterkühlten Aktenpassagen, denen tatsächliche Akten zu Grunde liegen, die einen Schriftverkehr dokumentieren, der in schmerzhaft übergriffiger Weise zeigt, wie wenig es bei einer scheinbar objektiven Beurteilung um den jeweiligen Menschen selbst geht. Schon der Titel des Romans „Geschichte eines Kindes“ impliziert, dass Anna Kims Roman exemplarisch sein will.

Warum steht der Mensch so sehr unter dem Zwang, einzuordnen, alles in eine von Werten geprägte Hierarchie zu bringen? Ist das unsere Unfähigkeit, die natürliche Gleichheit von allen zu ertragen? Weil wir Menschen uns als Spitze der Evolution sehen?

In den Akten werden ungeheuerliche Behauptungen aufgestellt, die wie in Beton gegossene Wahrheiten präsentiert werden. Zum Beispiel: Im Durchschnitt ist die Intelligenz der Negerkinder um zwei Prozentpunkte niedriger als die der weissen Kinder.“ Aussagen, die heute zu tiefst schockieren, gleich mehrfach, in ihrer Zeit aber hingenommen wurden. Heute passiert solches Erwachen fast täglich, wenn gefragt wird, ob gewisse Bücher heute noch lesbar sind bis hin in die bildende Kunst, wo Männer wie Picasso auf ihren Sockeln wackeln.

„Geschichte eines Kindes“ ist aber auch der Roman einer jungen Frau, die sich aus welchen Gründen auch immer weigert, ihre Mutterschaft anzutreten. Ein scheinbares Unding, ganz im Gegensatz zu all den Vätern, die nicht bereit sind, ihre Vaterschaft anzutreten.

Anna Kims Roman beschreibt die menschliche Unfähigkeit, das Gegenüber nicht an Äusserlichkeiten zu messen: Warum kannst du mich nicht so akzeptieren, wie ich bin? Eine Schlüsselfrage, die bis in die Weltpolitik hineingeht.

Kurzgeschichte «Die Zähne» von Anna Kim auf der Plattform Gegenzauber

Rezension «Geschichte eines Kindes» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Anna Kim «Die Zähne», Plattform Gegenzauber

Gilbert träumt: Er sitzt in einem Zugabteil neben zwei Frauen. Sie stellen sich mit einer kleinen Verbeugung vor. Martha sagt, sie heißen Ida und Martha. Ida ist stumm, da sie aus ihrem Mund eine Gebirgslandschaft bläst. Sie hört nicht auf, bis alle Berggipfel vollzählig sind und die Wolken einen Himmel gebildet haben. Martha trägt eine Fellmütze auf dem Kopf. Endlich knarrt Ida: Der Arzt sagt, Sie sind ein Engel. Gilbert: Sprechen Sie mit mir? Martha wiederholt: Der Arzt sagt, Sie sind ein Engel. Sie nestelt in ihrer Handtasche, gibt ihm zwei verschlossene Briefumschläge. Er öffnet sie, beide Karten sind unbeschrieben. Ida und Martha ziehen schwarze Lederhandschuhe an. Sie nähern sich seinem Hals, drücken auf seinen Kehlkopf. Er zieht eine Bratpfanne aus der Hosentasche. Gilbert schlägt auf Idas und Marthas Köpfe. Die Pfanne gewinnt. Das Abteil verwandelt sich in einen Hotelflur. Martha ruft den Aufzug herbei. Der Aufzug stürzt ab.

An einem Sonntagmorgen, die Kopfschmerzen lagen noch im Bett, und auf den Straßen herrschte schüchterner Verkehr, schüttelte Gilbert den Traum ab, einen Wiederkehrer, und beschloss statt einer Dusche ein Sandbad zu nehmen. Er füllte die rote Plastikwanne seiner Kinder mit Vogelsand und warf sich, Rücken voran, in den Sand; die Beine und Füße wälzte er zuletzt. Anschließend schüttelte er sich so lange, bis er den Sand vollkommen losgeworden war, und lief in die Küche, wo er ein hart gekochtes Ei und eine Scheibe Toastbrot in seine Backen schob, ohne zu kauen. Im Badezimmer spuckte er die Ladung in den Wäschekorb, die Reste, die in den Zähnen und Wangen stecken geblieben waren, holte er mit den Fingern hervor und schmierte sie dazu. Er schloss den Korb und lief erneut in die Küche, wo er Kaffee aus der Kanne schleckte. Beim Hinauslaufen packte er ein paar Salamischeiben, etwas Vollkornbrot und eine Gewürzgurke in die Wangen und spie die Mischung auf die Dreckwäsche. Danach lief Gilbert in die Abstellkammer zum Schlafen, in einen dunklen Raum unter der Treppe, der wegen der Heizrohre in der Wand warm war.

Als er erwachte, waren seine Lippen zerbissen, und es war ihm kaum möglich, den Mund zu schließen. Seine Zähne waren gewachsen; Gilbert überprüfte dies mit Hilfe eines Spiegels und eines Lineals. Noch während er sie abtastete, musste er feststellen, dass sie bereits weitergewachsen waren, so beschloss er, sie an einem Tischbein abzuwetzen. Er wieselte aus der Kammer, blieb aber mit einer Wange an der Türklinke hängen. Auch die Backen hatten sich verändert, wieder griff Gilbert zum Spiegel, sie hatten sich in Hängebacken verwandelt, reichten bis zur Kinnspitze und schlabberten bei jeder Bewegung. Gilbert machte dies allerdings nichts aus, im Gegenteil: Sie gefielen ihm besser als vorher. Zufrieden ließ er sie in seinen Händen auf und ab hüpfen, als wären sie Brüste.

Es begann zu dämmern, Gilberts Magen knurrte laut und anhaltend. Auf Salami hatte er keine Lust mehr, wohl aber auf Vollkornbrot. Nach dem mühsamen Abendessen, es bestand aus Sonnenblumenkernen, die er mit seinen Zähnen und Fingern aus den Fitnessbrötchen pulte, verspürte er den Drang zu laufen. Laufen gehörte zu den Dingen, die Gilbert früher stets vermieden hatte: Nie wäre er gerannt, um einen Bus zu erwischen, und schon gar nie aus Spaß. Doch heute drängte es ihn geradezu danach zu rennen, er war besessen von dem Wunsch, die Beine zu bewegen, den Wind in den Haaren und hinter den Ohren zu spüren. Hin und wieder schlich sich der Gedanke an Sonnenblumenkerne ein, dann hielt er Ausschau nach einem weiteren Fitnessbrötchen, schließlich aber gewannen die Füße die Oberhand, und er nahm sie unter die Arme und rannte los, aus dem Haustor, die Straße hinauf zur Busstation und weiter nordwärts bis zum Ende der asphaltierten Wege; er lief auf verlassenen Schienen, die mit Gras überwuchert waren, Gras und Unkraut, rannte auf ein Wäldchen zu, über eine Wiese, und verrannte sich. Da er sich nicht entscheiden konnte, in welcher Richtung er weiterrennen sollte, rannte er auf der Stelle, nur um zu rennen. Als er ein verdächtiges Knacksen hinter sich hörte, floh er in den U-Bahn-Schacht.

Für die Zwillinge vergingen die Stunden im Hort zu langsam, die Mädchen starrten auf die große Uhr mit dem römischen Zifferblatt, hatten aber das Gefühl, die Zeiger bewegten sich nicht, tatsächlich waren sie sich nicht sicher, ob der Zeitzähler überhaupt Zeit zählen konnte. Zudem mussten sie stillsitzen, ein Buch in der Hand war alles, was ihnen gestattet war; die Beine brav übereinander geschlagen, und aus den zusammengebundenen Haaren verirrte sich keine Strähne. Die Aufpasserin war stets auf der Suche nach Briefchen, die die Mädchen einander zusteckten. Vielleicht aber, meinte der eine Zwilling, war sie nicht auf der Suche nach Briefchen, sondern dabei, ihre Nummer zu proben. Nummer, fragte der andere. Siehst du denn nicht, sagte daraufhin der eine Zwilling, dass sie eine Schlangenfrau ist?

An der Haltestelle stiegen die Zwillinge in die Tram und pressten ihre Gesichter an die Glasscheibe: Ein Luftballon versuchte dem Gartenzaun zu entkommen. Plötzlich sprang ein Mann auf die Schienen, der Schaffner zog die Notbremse, der Mann blickte sich verwirrt um und verschwand im U-Bahn-Tunnel, und die Schwestern sprangen aus dem Zug und jagten ihm hinterher.

Es roch nach Berührungen von Regen mit Welt; im Tunnel fanden sich weder Gehwege noch der rasende Wilde, nur Feuchtigkeit und die Gewissheit, dass sich Moder in den Haaren und in der Kleidung niederlässt, um für immer eingenistet zu bleiben, und doch kehrten die Zwillinge nicht um, sondern versuchten, den Mann mit den langen Wangen zu erschnuppern; es schien ihnen, als müsste er duften.

Gilbert war in einem Aufsichtsraum angekommen, in einer kleinen Kammer in einem Seitentunnel. Ein Fernseher stand auf einem Plastiktisch, die Zeitung war zusammengefaltet und hing (gerade noch) über der Lehne. Vorsichtig sah sich Gilbert um, seine Schnurrhaare auf dem Nasenrücken zuckten nicht, also schlüpfte er in den Raum, zog die Tür hinter sich zu, schlüpfte unter den Tisch und schlief ein. Vielleicht hatte es ihn danach gedrängt, aus der Wohnung zu laufen, weil er sich in den Höhlen unterhalb der Stadt sicherer fühlte. Die Dunkelheit machte ihm nicht zu schaffen, im Gegenteil, sie erleichterte das Erkennen: Die Finsternis schärfte seinen Sehsinn. Zudem konnte er endlich seinem Drang nachgehen, mit den Händen und Füßen zu graben, in der Erde zu wühlen, sich auf der Erde und in ihr zu wälzen und Dreck auf sich zu häufen, ohne gesellschaftliche Konsequenzen.

Nach dem Nickerchen begann er in den Nebenhöhlen des U-Bahnnetzes Gänge zu graben, vier Eingänge hatte er geplant, die Nestkammer sollte sich genau einen Meter unter der Erdoberfläche befinden und mit Gras ausgelegt sein, seine Fingernägel, seine Schaufeln, hatten schon begonnen, sich diesem Wunsch anzupassen, sie wuchsen sich aus zu Krallen, und die Hände zu Pfoten, etwas stärker behaart und um einiges kräftiger als zuvor. Zunehmend entfiel ihm die helle Welt, und seine Erinnerungen wurden vom Dunkel verschluckt.

Die Zwillinge hatten sich verlaufen. Seit einigen Tagen irrten sie durch das unterirdische Labyrinth und hatten es schon fast aufgegeben, an die Erdoberfläche zu gelangen, als sie an einer Abzweigung eine Abstellkammer entdeckten. Die hölzerne Tür war hinter einem Vorsprung verborgen; sie war ihnen nur aufgefallen, weil ein eigenartiger Geruch durch einen Spalt in den Tunnel strömte.

Vorsichtig spähten sie in den Raum, konnten aber im Schein des Streichholzes nicht viel erkennen. Um sicher zu gehen, dass im Inneren der Höhle niemand auf sie lauerte, blieben sie eine Weile vor der verschlossenen Tür sitzen und horchten auf verdächtige Geräusche. Erst als sie sich vergewissert hatten, dass ihr Leben nicht in Gefahr war, schlüpften sie in die Futterkammer. Eine große Auswahl an Lebensmitteln gab es nicht, sie ertasteten hauptsächlich Erdnüsse, Haselnüsse, Walnüsse, Sonnenblumenkerne und etwas weiches, fauliges Obst, außerdem tote Fliegen, Würmer und Käfer.

Die Mädchen stürzten sich auf das Essen. Im Schein des vorletzten Streichholzes beschlossen sie, an diesem Ort zu bleiben und auf den Besitzer der Fressalien zu warten; auch wenn er böse auf sie wäre, weil sie seinen Vorrat dezimiert hatten, wollten sie ihn um Hilfe bitten, er musste den Weg ins Freie kennen, vielleicht würde er sie sogar bis zur Erdoberfläche begleiten. Doch bereits nach wenigen Stunden bereuten sie ihre Entscheidung: Nichts deutete darauf hin, dass der Sammler zurückkehren würde, wahrscheinlicher war, dass er diesen Ort aufgegeben hatte, daher das verfaulte Obst und die vielen toten Insekten. Diese Kammer war nicht für die Lebenden gedacht, schoss es ihnen durch den Kopf.

Gerade, als sie sich wieder in die Finsternis wagen wollten, kam ein Schatten durch die Tür gehumpelt, stieß bei ihrem Anblick ein aufgeregtes Pfeifen aus und begann bedrohlich zu knurren.

Sein rechter Unterschenkel stand waagrecht in die Luft, Gilbert war auf seinen Beutezügen von einem Balkon gefallen. Er hatte zwar als Vierbeiner eine beachtliche Geschicklichkeit erworben, war aber gerade deswegen leichtsinnig geworden und hatte sich seine Ziele immer höher und höher gesteckt. Während er von Balkon zu Balkon gesprungen war, mehr ein Affe als ein Nager, war er abgerutscht und dabei mit einem Fuß im Geländer hängen geblieben. Also hatte er die Futtersuche abgebrochen und war in seinen Bau zurückgehinkt. Auf dem Weg in den U-Bahn-Schacht hatte er sich ständig umgesehen, er war das beklemmende Gefühl nicht losgeworden, dass sich ihm ein Raubtier näherte. Nun hatte er zwei Mädchen vor sich, denen die Finsternis sämtliche Farben von Gesicht und Kleidung gestohlen hatte: zwei Geister.

Gilbert machte es sich (so gut es ging) in seinem Nest bequem, krempelte das rechte Hosenbein hoch und untersuchte die Verletzung, die sich, von Schwärze angesteckt, ebenfalls schwarz verfärbt hatte. Das Geisterduo fragte, ob es in der Nähe ein Krankenhaus gebe, aber Gilbert hörte nicht zu, er hatte sich schon über das Bein gebeugt und begonnen, es abzubeißen.

Als er die Operation beendet hatte, reinigte er seine Zähne mit der Zunge und den Fingern. Die Schwestern, die ihm noch immer stumm gegenübersaßen, ignorierte er, akzeptierte aber die Haselnuss, die ihm Nummer Eins anbot. Nummer Zwei trug den abgetrennten Unterschenkel in den Nachbargang und stopfte ihn in einen Spalt, dann säuberte sie Gilberts Nest und streute trockenes Stroh auf die blutdurchtränkte Stelle.

Wie zahm er ist, dachten die Zwillinge, als sie ihm, wie jeden Tag, den Bauch kraulten und ihm Sonnenblumenkerne und Erdnüsse zusteckten. Ließen sie die Nuss auf der Hand, setzte er sich sogar auf ihre Hände, wobei diese vollkommen unter seinem Gesäß verschwanden. Da er sich weigerte mit ihnen zu sprechen – außer einem lauten Pfeifen kam nichts aus seinem Mund –, nannten sie ihn Hallo. Dies war das einzige Wort, auf das er reagierte. Auf die Idee, sich selbst mit Namen vorzustellen, kamen sie nicht. Es reichte ihnen, dass er wusste, wann er angesprochen war.

Sie begleiteten ihn überall hin, auch bei der Futtersuche, da er ständig das Gleichgewicht verlor und sich wunderte, wenn er umfiel. Manchmal versuchte er gar, sich mit dem Phantomfuß am Oberschenkel zu kratzen. Sein wohliger Gesichtsausdruck stand dabei ganz im Gegensatz zum Gelenk, das orientierungslos durch die Luft ruderte. Gilbert schien die Amputation vergessen zu haben, ebenso seinen Unfall; das Einzige, an das er sich erinnerte, waren gute Futterplätze und -verstecke sowie die Mädchen, die ihn mit Nüssen und Streicheleinheiten gezähmt hatten.

Aber auch die Zwillinge vergaßen; sie vergaßen, dass sie vor wenigen Tagen noch verzweifelt versucht hatten, einen Ausgang aus dem Labyrinth zu finden. Nun, da sie ihre genaue Position kannten, genossen sie Gilberts Gesellschaft und dachten gar nicht mehr daran, in ihr Zuhause zurückzukehren. An manchen Abenden wagten sie sich ohne seine Hilfe in die Oberwelt und brachten ihm einen Eimer voll Sand mit, den sie in seine Sandkiste schütteten, damit er ein Sandbad nehmen konnte. Ihr altes Leben vermissten sie nicht; an seinem Haar lasen sie den Wechsel der Jahreszeiten ab, im Oktober verlor es seine Farbe und wurde winterweiß, im Februar dunkelte es nach und wurde wieder hellbraun.

Gilbert wurde ihr Haustier und Anführer, was immer er befahl, sie folgten ihm. Er lehrte sie das Leben im Untergrund, und die Zwillinge revanchierten sich, indem sie ihm seine dreibeinige Existenz so angenehm wie möglich machten – zu angenehm, wie sich herausstellte: Er vergaß vollkommen, seine Zähne zu wetzen. So wuchsen seine unteren Nagezähne aus der Mundhöhle heraus und spiralförmig in seinen Oberkiefer, die oberen Zähne aber krümmten sich um sich selbst und durchstießen sein Kinn.

Kurz bevor Gilbert erstickte, streichelten ihn die ergrauten Zwillinge und stellten sich endlich vor. Du sollst unsere Namen erfahren, sagten sie, wir heißen Ida und Martha.

(Eine längere Fassung erschien 2017 im Erzählband „Fingerpflanzen“, Topalian & Milani)

Anna Kim wurde 1977 in Südkorea geboren, zog 1979 mit ihrer Familie nach Deutschland und schliesslich weiter nach Wien, wo die Autorin heute lebt. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt die Romane «Anatomie einer Nacht» (2012) und «Die grosse Heimkehr» (2017). Für ihr erzählerisches und essayistisches Werk erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Literaturpreis der Europäischen Union.

Illustration © leafrei.com

Anna Kim «Geschichte eines Kindes», Suhrkamp

„Geschichte eines Kindes“ ist eine wahre Geschichte über ein Kind, dem man das Nest verweigert. Über eine Mutter, die sich ihrer Verdammnis verweigert und ein System, das mit rassistischer Gesinnung scheinbar Gutes tut. Auch wenn die Geschichte in der us-amerikanischen Provinz angesiedelt ist. Solche Geschichten sind globale Gegenwart!

Dass Menschen auf Grund ihres Aussehens taxiert werden, ist noch immer Reflex. In einer Zeit, in der es angesagt wäre, sich immer mehr Gedanken darüber zu machen, ob man nicht selbst diesem automatischen Schubladisieren unterworfen ist. Wir leben im Zwang des Einordnens. Ob hellhäutig oder dunkel, ob dick oder dünn, ob sympathisch oder unsympathisch – wir ordnen ein. Unser Urteil darüber, wie wir taxieren, bestimmt unser Tun, bewusst oder unbewusst. Obwohl es immer mehr Stimmen gibt, laute und leise, die uns auffordern, sich diesen Zwängen und Automatismen entgegenzustellen, bestimmen sie unser Tun und Lassen, bis hinein in die Sprache.

Seit wir von totalitären Gesinnungen wissen, was institutionalisierter Rassismus anrichten kann, seit wir präsentiert bekommen, dass die europäische Kultur seit Jahrhunderten durchsetzt ist von Rassendünkel und dem Glauben, helle Hautfarbe rechtfertige Macht und Unterdrückung, weil Geschehnisse in der Gegenwart zeigen, dass Rassismus noch längst nicht überwunden ist, sind Bücher wie „Geschichte eines Kindes“ von Anna Kim mehr als Unterhaltung. Sie sind Notwendigkeit.

Anna Kim «Geschichte eines Kindes», Suhrkamp, 2022, 220 Seiten, CHF 33.90, ISBN 978-3-518-43056-9

1953, in einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Wisconsin. Carol Truttmann ist jung und bekommt ein Kind. Ein Vater ist nicht da. Aber auch ihre Muttergefühle siegen nicht über den Entschluss, den kleinen Jungen noch in der selben Nacht zur Adoption freizugeben. In der kleinen, konservativen Stadt, in der nichts verborgen bleibt, wäre das schon Skandal genug. Aber der kleine Junge ist nicht „weiss“ wie seine Mutter, sondern „negrid“. Und seine Mutter weigert sich, den Vater zu nennen, obwohl sie von den Sozialdiensten der Stadt immer und immer wieder aufgefordert wird, einen Namen zu nennen, um das Verfahren einer rechtsgültigen Adoption in Gang zu bringen. Der kleine Daniel wird bis zur Adoption in ein Heim gebracht, während eine ganze Maschinerie versucht, einen Pflegeplatz für den dunkelhäutigen Jungen zu finden und eine übereifrige Angestellte des Sozialdienstes keinen Versuch unterlässt, der jungen Mutter wegen des unbekannten Vaters auf den Zahn zu fühlen. Detektivische Nachforschungen, die aus gegenwärtiger Sicht mehr als übergriffig erscheinen, die mehr als verständlich machen können, dass sich eine junge Frau mehr und mehr verweigert.

Man sorgt sich durchaus um den kleinen Daniel. Man ahnt, dass er es in einem rein weissen Umfeld in Zukunft schwer haben wird. Dass auch eine Familie, die den kleinen Daniel adoptieren wird, nicht einfach einen Jungen in ihre Familie aufnehmen wird, sondern sich feindlichen Gesinnungen stellen muss. Anna Kim verdeutlicht das schmerzhaft eindringlich in den Akten des Sozialdienstes der Erzdiözese Green Bay, die in drei Teilen die Nachforschungen dokumentieren. Briefe, Telefonate und Berichte, die schneidend präzise verdeutlichen, wie sehr Behörden und vor allem die österreichstämmige Sozialarbeiterin Marlene Winckler durchdrungen ist von völkischem Gedankengut, der Überzeugung, dass alle nichtweissen Menschen der weissen Rasse unterlegen sind. Die Passagen dieser Akten, die Sprache, die Art und Weise, wie über das Schicksal des kleinen Jungen verhandelt und verfügt wird, schmerzt und macht offensichtlich, wie tief das elitäre Bewusstsein institutionalisierte „Nächstenliebe“ dominiert.

Anna Kims Roman ist vielschichtig. Eine junge Wiener Autorin tritt ein Sommersemester als Writer in Residence in Wisconsin an und findet ein Zimmer bei einer älteren Frau. Die beiden Frauen kommen sich näher, bis die Vermieterin die Geschichte ihres dement gewordenen Ehemanns erzählt, eben jenes Jungen, der im Sommer 1954 zur Adoption freigegeben werden konnte. Eines Mannes, der ein Leben lang, selbst bei der Suche nach einem Pflegeplatz als an Demenz Erkrankter, Rassismus, ob offensichtlich oder latent, erleiden musste.

Anna Kim, in Südkorea geboren und in Deutschland und Österreich aufgewachsen, weiss, was es heisst, taxiert und schubladisiert zu werden. Anna Kims Roman ist keine Anklage, sondern eine Offenlegung ganz subtiler Mechanismen. „Geschichte eines Kindes“ ist die Geschichte aller Kinder, die nicht dort geboren werden, wo alle so aussehen wie das Kind selbst. „Geschichte eines Kindes“ ist die Geschichte jener Kinder, die nicht herbeigesehnt werden, die man weghaben will. Darüber, dass eine Schwangerschaft zu einem Verdammnis werden kann.

 
Anna Kim wurde 1977 in Südkorea geboren, zog 1979 mit ihrer Familie nach Deutschland und schliesslich weiter nach Wien, wo die Autorin heute lebt. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt die Romane «Anatomie einer Nacht» (2012) und «Die große Heimkehr» (2017). Für ihr erzählerisches und essayistisches Werk erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Literaturpreis der Europäischen Union.

Januar bis April 2023 – das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

«Das schöne Gottlieben und eure liebe Gesellschaft geht mir nicht aus dem Kopf – überall schwärme ich davon.» Norbert Scheuer

«Danke für Wortraum und Seewind und Weitsicht und Wein, danke fürs Klangexperiment und einen Ort zum Wiederkehren. Schönste Bühne weitumher.» Simone Lappert

«Besonders schön war es, im Bodmanhaus aus dem Buch zu lesen, das zu guten Teilen auch dort entstanden war. Geschrieben im leeren Haus, vorgelesen vor vollen Rängen, vor Menschen, die seit langer Zeit wieder einmal ihre Gesichter zeigen durften.» Peter Stamm

Literaturhaus Thurgau

Drei Perlen aus dem 22. Literaturfestival Leukerbad

Die Literatur riss in Leukerbad den Himmel auf!

Literaturfestival Leukerbad, ein literarisches Gipfeltreffen inmitten der Walliser Steilwände und Felszähne. 3’800 Eintritte während drei Tagen! Das Programm aus Lesungen und der «Perspektiven»-Gesprächsreihe war dicht und sehr international: Aus Europa, Asien, Nord- und Südamerika reisten 37 Autoren und Protagonisten ins Bäderdorf.

Liao Yiwu, einer der bedeutendsten chinesischen Avantgarde-Dichter, 1987 in politische Ungnade gefallen, veruteilt, für Jahre ins Gefängnis gesteckt, gefoltert und von seiner Frau zwangsgeschieden, weil die Familie nichts mehr von ihm wissen wollte, spielte Tsiao, eine chinesische Flöte. Ein Instrument, das er während seiner Haft von einem ebenfalls eingesperrten Mönch erlernte. Er spielte, sang und las aus seinem neuen und ersten Roman «Die Wiedergeburt der Ameisen», in dem er die Geschichte seiner Familie mit der seines Heimatlandes verknüpft, das ihn verstossen hat. Er, der kaum je wieder einen Fuss in sein Heimatland setzen wird, las, während auf dem Platz draussen chinesische Touristen vorbeiflanieren.
Robert Menasse, der grosse Europäer, der sich nicht scheut, bei einer Rede an das Europäische Parlament den Anwesenden die Leviten zu lesen und man gespannt auf seinen im September erscheinenden grossen Roman «Die Hauptstadt» wartet. Er bannt mit seinem Erzählen über Europa, während die Pizza im Dorf von Ukrainerinnen serviert wird.
Oder der irakisch-kurdische Schriftsteller und Dichter Bachtyar Ali, der 20 Jahre unentdeckt in Deutschland lebte und in seinem Roman «Der letzte Granatapfel» die gefährliche Reise auf einem Flüchtlingsboot übers Mittelmeer erzählt, eine bildgewaltige Parabel über Unterdrückung und Bruderzwist. Abends dann geniesst man im Restaurant mit Aussicht mediterrane Küche. International – auf jeden Fall.

Drei ganz besondere Perlen möchte ich vorstellen. Drei Bücher, eine Autorin und zwei Autoren, die es zu entdecken gilt, wenn man nicht längst auf sie gestossen ist:

100 Jahre Geschichte eines Landes, das kaum je in den Fokus Europas gerät. Ein Epos über die Folgen der Teilung der koreanischen Halbinsel, eine Spionagegeschichte und gleichzeitig ein politischer und historischer Roman multipliziert mit einer ménage à trois, die zwischen die Fronten gerät. Ein Roman mit gewaltiger und überzeugender Sogkraft. Ein Soziogramm der Lügen und Illusionen. Anna Kim ist in Südkorea geboren, dort aber weder zuhause noch beheimatet. Erstaunlich genug, dass sie immer und immer wieder als Südkoreanerin genannt wird, obwohl sie sich dezidiert gegen eine verortete Heimat ausspricht. Trotzdem beschäftigt sich die Autorin mit der Geschichte ihres Herkunftslandes, den Auswüchsen des kalten Krieges in Südostasien im Willen, diesen Konflikt zu verstehen. «Wie schreibe ich über Vergangenes und Geschichte? Reine Beschreibung reicht mir nicht aus, auch wenn ich mit Recherche tief ins Geschehen eingedrungen bin.» Eine mitreissende Geschichte um Freundschaft, Loyalität, Verrat und das unmögliche Leben in der Diktatur.

Georgi Gospodinov ist der grosse Autor der bulgarischen Literatur. Sein viertes bei Droschl auf deutsch erschienene Buch ist eine Sammlung von Erzählungen. «8 Minuten und 19 Sekunden», die Erzählung die dem Buch den Titel gibt, dauert es, bis das Licht von der Sonne die Erde trifft. Genau so viel Zeit, wie Gerogi Gospodinov dem Leser der Geschichte einräumt, um sich mit seinen gleichsam spielerischen wie apokalyptischen Spielereien auseinanderzusetzen. Vielleicht ein Markenzeichen des Autors, der sich gerne der Faszination der Apokalypse hingibt, ohne literarisch der in Mode geratenen Dystopie zu verfallen. Seine Geschichten entspringen einer Mischung aus Melancholie und Humor, Absurdem und den Erfahrungen aus der bulgarischen Diktatur. Georgi Gospodinov verknüpft Wahrnehmungen, Empfindungen auf seine ganz eigene Art. Für mich eine grosse Entdeckung und ein Versprechen: Höchster Lesegenuss!

John Wray. Ein durch und durch amerikanischer Autor, der 2007 vom Literaturmagazin «Granta» unter die 20 besten jungen US-Autoren gewählt wurde. Aber er spricht deutsch und wird in diesem Sommer in der Arena des Bachmann-Preisschreibens in Klagenfurt mit einem deutschen Text antreten. Ein Amerikaner mit österreichischen Wurzeln und kärntner Akzent. So verzwickt seine Herkunft, so verzahnt sein Roman; eine historisch eingebettete Familiengeschichte über ein ganzes Jahrhundert, wissenschaftliche Einsprengsel über Physik und die Produktion eingelegter Gurken bis hin zum bewusst «schlechten» Science- Fiction und kruden, sektiererischen Verschwörungstheorien. Ein Erzähler, der sich in einer Zeitblase wiederfindet, in der Wohnung seiner schrägen Zwillingstanten, die Tonnen von Zeitungen und anderem Strandgut sammeln. Grotesk, skurril und kompliziert, aber nie unübersichtlich, wabernd in einem natürlichen Chaos, mit Absicht weit weg aller unnatürlichen Chronologie. Ein Buch, dem ich den Spass des Autors auf jeder Seite «anhöre». John Wray, ein ausserordentlich begnadeter Geschichtenerzähler mit cineastischem Blick und liebevollem, schrulligem Witz. Und wenn er liest, wünscht man dem fabulierenden Erzähler, dass die Verpflichtung des Vorlesens nie endet würde.

Wie jedes Jahr war das Literaturfestival Leukerbad ein Ort der Begegnungen. Nicht nur mit Büchern, mit Literatur, mit Lyrik und Romanen, sondern in faszinierenden Gesprächen, solchen auf der Bühne, solchen unterwegs und den vielen vor Ort. Ganz besonders freute ich mich über die Gelegenheit, ein Interview mit der Schriftstellerin Kathy Zarnegin zu führen, über ihren gelungenen Roman «Chaya». In drei Tagen auf literaturblatt.ch!