Thomas Stangl «Diverse Wunder. Ein paar Handvoll sehr kurzer Geschichten», Droschl

Dass ein dünnes Buch kein Gewicht vermitteln muss und dass Geschichten, dessen „Sammlung“ der Autor selbst lakonisch „Ein paar Handvoll sehr kurzer Geschichten“ untertitelt, alles andere als bloss heiter sind, beweist der Sprachkünstler Thomas Stangl auf beeindruckende Art und Weise. Sein Band „Diverse Wunder“ ist wahrhaft wunderlich, sprachlich schillernd, voller Geheimnisse.

Thomas Stangl muss nichts beweisen. Und darum ist selbst der Titel seiner Geschichtensammlung, alles andere als eine Sammlung unwillkürlich zusammengestellter Kurztexte, Understatement und wie das ganze Buch eine literarische Schnitzeljagd in den Gedankenkosmos eines Künstlers, der sich nicht durch Grenzen der realen Wahrnehmung einschüchtern lässt. „Eine paar Handvoll sehr kurzer Geschichten“ macht glauben, die Texte wären einfach so dahingestreut, ohne Absicht, schon gar nicht komponiert. Aber in den Geschichten tauchen immer wieder Namen und Motive auf, sei es nun Wittgenstein, der Hunde malende Kunstmaler Wu Daozi, die schöne Nichte Tamara, Fortsetzungsgeschichten wie Venedig ein, zwei und drei, eine Akrobatin, vom Neffen Tamaras geliebt, eine mehrteilige Vorschichte oder ein dreiteiliges Ende.

„Ziel der Literatur ist es, der Gurke den Weg aus dem Gurkenglas zu zeigen.“

Thomas Stangl «Diverse Wunder. Ein paar Handvoll sehr kurzer Geschichten», Droschl, 2023, 112 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-99059-125-3

Thomas Stangls Geschichten kippen an der Realität, nähren sich aus Traumbildern, Geschichten von der anderen Seite. Weit weg von Erbauungsgeschichten, keine Nachttischchenlektüre, denn die Geschichten könnten sich, vermischt mit den eigenen Traumgeschichten, zu Kopfgewittern auswachsen, die kleben bleiben.

Wäre Thomas Stangl ein Maler, müsste man sich beim Betrachten seiner Bilder Zeit lassen, denn was sie auf die Schnelle zeigen, ist nicht das, worum es dem Bildermaler geht. Er spielt mit den Bildern, gibt ihnen Vieldeutigkeit. Seine Sprachbilder spielen mit Perspektiven, leuchten mal von vorne, mal von hinten, aus den Tiefen des Surrealen. Manchmal reisst Thomas Stangl auch das Bedeutungs- und Deutungsschwere herunter, so wie in der Geschichte vom Fisch, einem Symbol, einer Zeichnung, die viel zu oft mit Ideologie aufgeblasen wurde. Ein Fisch interessiert sich für nichts. Ein Fisch frisst seine Kinder, wenn das, was ihm entgegenschwimmt, zufällig seine Kinder sind. 

Skurriles gepaart mit genauer Betrachtung, seine Fantasie mit Geträumtem, die Lust am Formulieren und Fabulieren mit jener, die Bilder zu entfremden, der scheinbaren Wirklichkeit entgegenzustellen. Thomas Stangl schert sich nicht um Verständlichkeit, seine Geschichten sind Bilder, die sich überlappen, sich gegenseitig kommentieren. Sie besitzen einen ganz eigenen Witz, den Witz eines Sprachspielers. So wie Kinder, wenn sie zeichnen oder malen, sich nicht darum kümmern, eine Welt abzubilden, viel mehr Lust am Zeichnen selbst verspüren. Er folgt der Magie des Formulierens und Schreibens, seiner Lust, mit Sprache etwas entstehen zu lassen, was die reine Wiedergabe niemals schaffen kann.

Ausgerechnet in der Literatur verlangt man Verständnis, Klarheit und Lesbarkeit. In vielen anderen Kunstgattungen, sei es Musik, Malerei oder selbst dem Tanz, wird Widerspruch und Geheimnis akzeptiert. Aber weil Literatur auch noch unterhalten muss, für viele in erster Linie unterhalten muss, wird alles „Unverständliche“, Uneindeutige nur schwer akzeptiert.

Thomas Stangls Buch ist ein wundersames Bilderbuch der Geheimnisse!

Thomas Stangl, 1966 in Wien geboren, studierte Philosophie sowie Hispanistik und lebt in Wien. Bereits sein erster Roman «Der einzige Ort» brachte ihm den aspekte-Preis (2004) für das beste deutschsprachige Debüt ein. In den Folgejahren erhielt er u. a. den Telekom-Austria-Preis beim Bachmann-Preis (2007), den Erich-Fried-Preis (2011) oder den Österreichischen Kunstpreis für Literatur (2022) sowie den Bremer Literaturpreis (2023).

Webseite des Autors

Beitragsbild © Jessica Schaefer

Regina Dürig «Risse», Plattform Gegenzauber

Track 1: Mitlaut

Die Konsonanten
tropfen aus unseren
Sätzen kondensieren
an den Wänden
und sammeln sich
letzten Endes in
den Fliesenbrüchen
dort reiben kratzen raspeln
sie weiter nicht aus
bösem Willen sondern
aus ihrer Natur denn
ihre Kanten sind
unerbittlich wie
Diamantenglanz
sie schmirgeln sie
murmeln da kann
selbst der Hausbesitzer
nichts machen der
Hausbesitzer besitzt
derart viele Häuser dass
er sich beim besten
Willen nicht um jeden
Mitlaut kümmern kann
der irgendwo hervortropft
der auf Unfug aus ist auf
Krawall er steht auf
der Hausbesitzer
besteht darauf dass wir
wussten als wir
den Vertrag unterschrieben
haben an einem übermässig
wackeligen Tisch dass
nichts mehr zu machen ist
dass alles schon immer
desolat war zerfasert
brach

wir versuchen auf
eigene Kosten zu kitten
spachteln grosszügig 
Konjunktionen und
Dehnungslaute in die
Fugen aber sobald sie
zu trocknen beginnen 
wölben die Konsonanten die Masse
von innen her auf

es bleibt
uns nicht anderes 
übrig als zusätzlich zum
weichen Gehen auch
weich zu sprechen und
möglichst
selbstlautreiche Gerichte
zu kochen leider
mögen wir beide kein
Ei

 

TRACK 2: Schwerkraft und Zündholz und Brot

Der Puls des Nachbarn
dringt durch das Netz aus
undicht gewordenem
Bodenmaterial zu uns
hinauf in unsere
Gedanken unsere Herzen
unsere Haut

der Nachbar ist
so langsam und froh wie
ein Leguan er nickt uns zu
wenn wir ihn auf der Strasse
sehen wenn er uns im
Laden Wein oder 
Knoblauch verkauft 
der Nachbar
lässt seinen Wagemut in
Wolkenfetzen verdampfen
deswegen ist sein Puls
meist ruhig aber stetig er
ist Geheimnissen aus diesem
Grund abgeneigt Überraschungen
Zwischenfällen Zweifeln der Nachbar
hat alles was er zum Leben
braucht die Schwerkraft und
Zündholz und Brot
der Nachbar fühlt sich nie
allein nicht nur wegen der
Risse die ihn mit uns verbinden
sondern in einem absoluten
Sinn

denn er weiss dass er einer
Spezies angehört die sich über
eine unendlich lange Zeit aus
einer anderen Spezies und 
diese wiederum vor unendlich längerer Zeit aus
winzig kleinen Zellen ohne
Körperform und feste Absicht 
entwickelt hat

dieses
Wissen beruhigt den Nachbarn
wie nichts anderes
wenn er isst 
wenn er schläft 
wenn er wacht

 

Track 4: Gedanken aus Glas

Die Fliesen springen
im stillen Schwungtanz
des anhaltenden Verfalls
sodass sie an
manchen Stellen mehr 
aus Rissen bestehen als 
aus etwas

der Rest klimpert
hell wie Taschengeld
wie Gedanken aus Glas

wir treten vorsichtig wenn
wir zum Schüttstein gehen zum
Tisch zum Herd wir 
sind auf der Hut
nicht in den Abgrund zu geraten
der sich auftut
an den Bruchstellen des
hundertjährigen Zements

manchmal jedoch bleiben wir
mit dem Stuhl oder dem
Strumpf hängen wir verschütten
Suppe oder Wasser und
Argumente und Tee denn die Küche
ist der Ort an dem wir beide
Recht haben wollen in
keinem anderen
Zimmer ist dieser
Umstand ähnlich akut
in keinem anderen Zimmer diese
Klippen steil abfallend von
der Wolkendecke 
klingengerade hinunter zum Strand

es hat sich der Sohn
eines berühmten Sängers
von diesem Höhenunterschied gestürzt
damals Anfang der Neunziger und
trotzdem wohnt der
berühmte Sänger noch immer im
gleichen Haus im gleichen Ort

wir fragen uns was er denkt
wenn er die Klippen sieht ob es
Unglaube ist oder ob er sich
wünscht er hätte unten gestanden
aus irgendeinem Zufall hätte
so starke Arme gehabt wie früher
als sein Sohn noch sehr klein war
ein Nestling und hätte ihn auffangen
können zusammengekugelt 
hätte ihn an sich nehmen
können die Luft anhalten | du sagst
aber es gibt keine Unumkehrbarkeit
ohne Nostalgie und
nicht mal Gefühl kann aufgehalten
werden mit starkem Arm das weiss
jeder weisst du weiss auch der
berühmte Sänger besonders der
denn irgendwie war der doch 
schon immer so
wissentlich finster schon bevor
das mit dem Sohn bevor es
den Sohn überhaupt | und 
wahrscheinlich bleibt er ganz einfach
deshalb weil er es sowieso nicht vergessen
kann nichts vergessen machen warum dann
noch den Bäcker die Bushaltestelle den
Pub verlieren wenn schon der
Sinn weg das Leicht

und ich denke 
dass das auf keinen Fall stimmen
kann aber die Klippen nicken 
gleissend in der Mittagssonne und
weil mir mein Knochengeflecht
innendrin lieb ist
heute nicke ich sicherheitshalber
still mit
dir mit

 

TRACK 5: Richtung Meer

Von Zeit zu Zeit
bricht eine Fliese in die
Form einer Stadtkarte mit
Ringautobahn und
sternförmigen Alleen
erläutert uns 
topographische
Zusammenhänge zwischen
Staaten Gewässern
und Grenzgebiet
verweist auf den historischen
Einfluss der Flüsse
die sich in Ackerland verlaufen
ins Ufer wuchern oder
ausdünnen Richtung Meer
zerstreut von
Inseln die
prekären Küsten 
vorgelagert sind
Landstriche auf
die niemand Anspruch erhebt
wo kein Wettrennen
der Entdeckergesten
je stattgefunden
haben wird
und wir sind froh denn was würden
wir ihnen servieren diesen
Vorboten der Währungen
sie würden
mit den Silberlöffeln 
ihrer jeweiligen Majestät die
vollen Teller vom Tischrand
stossen würden 
herabschauen würden
gestikulieren während wir
Kartoffeln braten oder
Kohl sie würden
über ihre Silberbärte streichen
und ihre Silberbäuche halten
während sie mit
Silberzähnen unsere
Vorräte verschmähten
wir wüssten dass sie bald
schneeblind verhungert
oder sonstwie 
an Überheblichkeit 
verendet sein werden wie 
all die andern zuvor wir würden ihnen
Stiefel schenken Hunde
Fell und zusehen
wie sie die Segel setzten wie
sie die Maschinen anliessen
wie sie zu schneeweissen 
Punkten würden 
zu Salzkristallen
zu Staub

 

«Risse» ist im April 2022 als CD bei Deszpot und digital auf Bandcamp erschienen. Das kurze Album (eigentlich also eher eine EP) ist eine Momentaufnahme unseres langsam zerfallenden Küchenbodens – hundertjährige Zementfliesen, original wie beim Bau des Hauses, abgesunken und eingebrochen im Lauf der Zeit. Frottagen, die Regina von den Rissen gemacht hat, dienten Christian als grafische Notation für fünf elektronische Kompositionen. Für vier dieser Stücke hat Regina Texte geschrieben, in denen sich Klippen auftürmen, in denen der Fortschritt klafft und Konsonanten zerrieseln.

Butterland (Das neue Butterland-Album!)

Regina Dürig «Federn lassen», Droschl, 2021, 104 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-99059-071-3

Regina Dürig ist Autorin, Performerin, Artistic Researcher und Dozentin/Mentorin für Literarisches/Kreatives Schreiben an der Hochschule der Künste Bern, dem Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und an der Volkshochschule Biel/Lyss. Für ihre Arbeiten hat Regina Dürig zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. den Peter-Härtling-Preis, den Literaturpreis Wartholz und den Literaturpreis des Kantons Bern. Regina Dürig lebt in Biel.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Anja Fonseka

Constantin Schwab «Das Journal der Valerie Vogler», Droschl

Vier Männer auf Spitzbergen mitten im arktischen Winter. Künstler, die ihrer Individualität entsagen und als Kollektiv AURORA mit ihren Bildern bis in die letzten Geheimnisse menschlichen Daseins vorstossen wollen. Und eine Frau mit einem Stift, Valerie Vogler, die das Geheimnis lüften will: „Das Journal der Valerie Vogler“

«AURORA ist ein Rätsel.»

Valerie Vogler ist aufstrebende Journalistin. Sie schreibt hauptsächlich über Themen, die sich mit Kunst, mit bildender Kunst auseinandersetzen und zögert deshalb nicht, als sie von einem angesagten Künstlerkollektiv nach Spitzbergen eingeladen wird und die Chance wittert, etwas von den Geheimnissen von AURORA lüften zu können. Eine Künstlergruppe, die nicht mit Individualität auffällt, sondern mit einem für den Kunstmarkt gesichtslosen Kollektiv. Und da solche Geheimnisse wie jenes um Bansky das Zeug haben, Sensationen zu generieren, macht sich Valerie Vogler in die winterliche Dunkelheit in den Spitzbergen auf, eingeladen von vier Männern, die sie mit allerlei Bedingungen durch einen Boten per Schiff und zu Fuss an ihrer Türe absetzen lassen: Kein Telefon, keinen Computer, stets in einem weissen Kittel wie die vier Männer und respektieren, was das Kollektiv als ihr Manifest bezeichnet:

  1. Das Werk steht immer an erster Stelle.
  2. Das Werk hat immer recht.
  3. Kunst kommt von Kollektiv.
  4. Jedes wahrhaftige Kunstwerk ist die zu Ende gebrachte Ausführung einer Idee.
  5. Es gibt keine individuellen Ideen.
  6. Das Individuum hat sich für das Werk zu opfern. 
  7. Das Werk muss für sich stehen, der Künstler nie.
  8. Der eigentliche Held ist die Werkstatt.

«Was im Werk zu sehen ist, entscheidet der Künstler. Was im Werk nicht zu sehen ist, entscheidet der Betrachter.»

Valerie Vogler ist gleichermassen fasziniert, verunsichert und misstrauisch. Sie spürt sehr schnell, dass die vier bärtigen Männer, von denen sie nur auswechselbare Vornamen kennt, nicht wirklich daran interessiert sind, sie an einem Geheimnis, an ihrem Geheimnis teilhaben zu lassen. Vier Männer und eine Frau in sieben Räumen, alle ausgemalt in verschiedenen Farben, das siebte Zimmer verboten, so wie in den Märchen, wo dieses eine letzte Zimmer verschlossen bleiben muss und man dem Gast von Beginn weg unmöglich macht, über dieses Geheimnis hinwegzuschauen. Valerie bewohnt eines der Zimmer und schreibt, versucht zu ergründen, was die seltsame Inszenierung bedeutet, und was mit ihr geschieht, während sie diesen Männern in der Küche, die gleichzeitig Werkstatt zu sein scheint, in verschiedenster Weise immer näher kommt. 

«Eine Kunst, bei der es um weniger als Leben und Tod geht, wird sich selbst nicht überleben.»

Constantin Schwab «Das Journal der Valerie Vogler», Droschl, 2022, 128 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-99059-099-7

Je mehr Zeit verstreicht, desto klarer wird, dass in den Räumen von AURORA viele Geheimnisse stecken. Warum dieses verbotene Zimmer? Warum im Gewehrschrank ein eingeritzter Vogel und die Ziffern 4/6? Warum diese seltsame Distanz, wo man sie doch eingeladen hat? Warum diese Abgeschiedenheit, diese Entfremdung von der Welt? Während draussen Schneestürme toben, sitzt man am grossen Tisch und speist, trinkt schwarzen Kaffee. Distanzen weichen auf, Alkohol macht das seinige. Bis Valerie mit Schmerzen aufwacht und in ihrer Armbeuge eine Einstichstelle findet.

«Die einzige Perversion ist die Zurückhaltung.»

Constantin Schwabs Debüt lässt sich wie ein Thriller lesen. Aber „Das Journal der Valerie Vogler“ ist viel mehr; eine Auseinandersetzung mit den Motivationen der Kunst, der Bericht einer Frau, die immer tiefer in die künstliche (durchaus zweideutig gemeinte) Gegenwelt eines Männerquartetts eintaucht, die die feine Membran durchsticht zwischen Realität und Wahn. Ein Buch darüber, wie weit Kunst sich in Leben verhaken kann, wie leicht man zum Opfer werden kann, geblendet, getäuscht, instrumentalisiert. „Das Journal der Valerie Vogler“ ist das Protokoll eines Abtauchens, ein Gang durch die Labyrinthe der Künstlichkeit. Mitreissend geschrieben, mutig, passiert doch bei der Lektüre eines solchen Buches Ähnliches wie Valerie Vogler; Man lässt sich ein – und wenn man gepackt wird, sind die Grenzen zwischen den Seiten eines Spiegels fliessend, erst recht dann, wenn sich Spiegelbilder verselbstständigen.

Interview

Männer ziehen sich nach Spitzbergen zurück, nennen ihr Künstlerkollektiv AURORA (auch wissenschaftliche Bezeichnung für das Polarlicht). Sie arbeiten nach festgelegten Grundsätzen, nennen es Manifest. Eigentlich gleich ein multipler Gegenentwurf zu aktuellen Strömungen. Wie sind Sie darauf gekommen?
Tatsächlich lässt sich in der Kunstszene heute wieder ein Trend hin zur kollektiven Arbeit beobachten. Letztes Jahr standen ausschliesslich Gruppenarbeiten auf der Shortlist zum britischen Turner Price, Kunst und Aktivismus vermengen sich dabei zunehmend. Konkretes Vorbild für das Künstlerquartett in meinen Roman war jedoch das kubanische Kollektiv «Los Carpinteros» («Die Zimmermänner»), auf das ich während meiner Arbeit als Museumsaufsicht in der Wiener Albertina gestossen bin. Ich fand es faszinierend, dass diese Gruppe ihre Namen bewusst in den Hintergrund stellt, um sich auf das gemeinsame, anonyme Kunsthandwerk zurückzubesinnen. Während «Los Carpinteros» dem Kunstmarkt jedoch mit viel Humor und Ironie begegnet, muss die Protagonistin in meinem Buch erfahren, dass AURORA ihre Arbeit sehr, sehr ernst nimmt.  

Das handgeschriebene Original-Journal (also die Urfassung) © Constantin Schwab

Eine Handvoll Männer im ewigen Eis, in der Dunkelheit des arktischen Winters. Sie sind Hüter, Bewahrer ebenso wie Erschaffer und Vollstrecker. Und eine Frau, nur eine einzige Frau als Gegenpol. Sie wird, ohne es in den ersten Tagen zu bemerken, zum Opfer. Eine Art Schöpfungsgeschichte?
Ich denke, jede Kunstgeschichte ist irgendwo eine Schöpfungsgeschichte. Da ist es natürlich kein Zufall, dass AURORA ihr Meisterwerk in genau sieben Tagen erschaffen will. Dass eine junge Frau sich dabei völlig alleingelassen in einer verschworenen Männergruppe wiederfindet, spiegelt für mich nur das Gefühl wider, das der männerdominierte Kunstkanon jahrhundertelang erzeugt hat. Man kann «Das Journal der Valerie Vogler» damit auch als Emanzipationsgeschichte lesen, denn diese Frau will sich eben nicht mit der Opferrolle abfinden, die ihr aufgedrängt wird. Die Frage, die sich ihr dabei stellt, ist: Gibt es überhaupt eine Kunst ohne Opfer? 

Das Buch, die Geschichte hat das Zeug für einen Thriller. Aber ganz offensichtlich ging es ihnen um ganz anderes, wohl nicht zuletzt um Fragen um die Kunst. Was sie soll und darf. Sie schaffen auch Bezüge zum „Kollektiv“ um Rubens, zu Munch oder Banksy. War das von Beginn weg ein genauer Schreibplan? Welches Bild, welche Geschichte stand am Anfang?
Am Anfang stand das Bild aus einem Traum: Ich war in einer Art Künstlerkommune und jeder Raum hatte eine andere Farbe. Das war für mich der Ausgangspunkt – ich wollte eine Geschichte schreiben, die an einem isolierten Ort spielt, in genau dieser Kommune. Dann kam mir die Idee mit dem Journal und der jungen Reporterin, aus deren Sicht wir von dem mysteriösen Kunstprojekt erfahren sollten. Dabei habe ich mir selbst die strengen Einheiten von Ort und Zeit auferlegt: Eine Werkstatt, sieben Tage. Am Ende sollte «das absolute Kunstwerk» stehen. Aber wie dieses Werk aussieht und wie ich dort hinkomme, das wurde mir erst klar, als ich das Journal tatsächlich geschrieben habe – mit der Hand, übrigens.

Journal 02 © Constantin Schwab

Wir sind süchtig nach Sensationen, nach Geheimnissen. Banksy erzählt mit seinen Werken astronomische Auktionspreise, in der Literatur lässt das Geheimnis „Elena Ferrante“ die Kasse klingeln. In der bildenden Kunst gab es immer wieder solche „alternative Lebens- und Schaffensentwürfe“, bei denen sich Marketing und tatsächliche Alternative nicht immer klar abgrenzen und erkennen lassen. „Wahrhaftigkeit“ als Marketing?
Auf jeden Fall. Auch die nicht abreissende Welle an «True Crime»-Formaten und Enthüllungsbüchern zeigt das grosse Bedürfnis nach Sensationsgeschichten, hinter der ein unermüdlicher Massenvoyeurismus steckt. Dieser Blick durch das Schlüsselloch in andere Leben wird uns wohl immer anziehen. Wer möchte nicht einmal in einem fremden Tagebuch blättern? Mit diesem Bedürfnis und dem Label der künstlerischen «Authentizität» spielt auch mein Roman. Das ständige Werben mit dem Authentischen, das zurzeit in Mode ist, finde ich in der Kunst allerdings sehr problematisch. Hier wird vergessen, dass Kunst an sich immer schon inszeniert ist. Letztlich führen diese Marketingmaschen des Wahrhaftigen nur dazu, dass es den Leuten immer schwerer fällt, zwischen Wahrheit und Fiktion zu unterscheiden. 

Ganz am Schluss kippt die Geschichte. Mit einem Mal stehe ich als Leser auf der anderen Seite eines verspiegelten Fensters. „Das Journal der Valerie Vogler“ ist auch ein Roman über Wahrnehmung, über Wahrheiten.
Ganz genau. Ein grosses Vorbild von mir ist Leo Perutz, der es meisterhaft verstanden hat, kunstvolle Romane zu schreiben, die am Schluss oft mehrere Lesarten zulassen. Ich persönlich liebe Bücher und Geschichten, deren Ende mich dazu bringt, alles Vorherige in einem neuen Licht zu betrachten.

Constantin Schwab wurde 1988 in Berlin geboren und wuchs in Kärnten auf. Er studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien, wo er heute auch lebt. Seine Geschichten werden regelmässig in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht. 2019 gewann er den Emil-Breisach-Literaturpreis der Akademie Graz. Im selben Jahr erschien der Erzählband Der Tod des Verführers. «Das Journal der Valerie Vogler» ist sein Debütroman.

Beitragsbild © Aleksandra Pawloff

Andrea Scrima «Kreisläufe», Droschl

Schon Andrea Scrimas literarisches Debüt „Wie viele Tage“ war eine Offenbarung. Mit ihrem zweiten Roman wünsche ich ihr das grosse Publikum. „Kreisläufe“ ist viel mehr als nacherzählte Familiengeschichte. „Kreisläufe“ ist grosse Kunst!

Eigentlich vertraut die Literatur stets auf ein „Stellen Sie sich vor“. So sehr es von den Schreibenden Imagination braucht, so sehr braucht es sie von den Lesenden. Aber alle, die lesen, wissen, dass gewisse Bücher eine ganz spezielle Resonanz erzeugen können. Manchmal sind es Themen, die einem anspringen oder abstossen und trotzdem faszinieren. Manchmal ist es die Sprache, der Sound, oder die Bilder, die aus Büchern aufsteigen. Andrea Scrima hat mit ihrem Roman „Kreisläufe“ zumindest bei mir alles erreicht, was ein Buch schaffen kann. Dieses „Stellen Sie sich vor“ war so intensiv, wirkte dermassen durch mich hindurch, dass ich am Ende meiner Lektüre etwas benommen dasass und zurückblätterte, um bei all den angestrichenen Szenen noch einmal unter die warme Decke schlüpfen zu können.

„In jeder Familie ist eine Geometrie am Werk, ein Zusammenwirken von Geheimnissen und Tabus.“

Stellen Sie sich vor; Sie sind eine junge Frau, erfüllt vom Wunsch, mit Farbe, Papier und Leinwand die Welt zu erobern. Aber um es zu tun, müssen sie zuallererst fliehen. Fliehen aus dem klebrigen Geflecht einer Familie, die sich mit seinen Tentakeln in alles einmischt und ihnen die Luft aus dem eigenen Körper presst. Stellen sie sich vor, sie fliehen über den Ozean nach Deutschland, in ein fremdes Land, eine fremde Stadt, die in den Wirren der „Wiedervereinigung“ implodiert. Andrea Scrima, selbst Malerin, beschreibt den Kampf um Emanzipation, um Ablösung auf der einen und den Prozess vielfacher Annäherungen auf der anderen Seite. Vielleicht beschreibt der Titel „Kreisläufe“ genau diese Bewegung; weg und hin! Aber wäre „Kreisläufe“ nur die Geschichte einer Findung, dann würde man dem Roman in keiner Weise gerecht werden.

„Kunst handelt von Wahrnehmung … es geht nicht nur darum, Dinge herzustellen, sondern auch darum, sie zu sehen.“

Andrea Scrima «Kreisläufe», aus dem Amerikanischen von Christian von der Goltz und Andrea Scrima, Droschl, 2021, 320 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-99059-091-1

Felice, noch nicht einmal achtzehn, haut ab aus der Enge ihrer Familie, aus den biederen Vororten New Yorks über das grosse Wasser bis nach Berlin, in eine Stadt, in der es in den 80ern langsam zu kochen beginnt. Sie flieht aus einem Haus, in das sich Depression hineinäzte, weg von einem Vater, der verstummte, weg von einer Mutter, deren Boshaftigkeit alles beherrscht, weg von einer Familie, die ihr die Luft nahm. In Berlin kommt sie mit nichts an, findet irgendwann eine Bleibe, einen Raum, in dem sie Platz findet, um zu malen. Sie geht durch die getrennte Stadt auf der Suche nach all dem, was sie sich nicht kaufen kann, was sie zum Überleben braucht. Sie lernt Micha kennen, einen, der sich aus dem geschlossenen Berlin auf der anderen Seite der Mauer absetzen konnte. Auch einen, der fliehen musste. Den man drüben einsperrte, weil er nicht dem Bild des Musterstaates entsprach. Dem man weh tat, der es aber nicht schafft, über all die Verletzungen zu sprechen, die im das freie Atmen nehmen.

„Vielleicht genügt es nicht, jemanden zu lieben.“

Irgendwann, Felice feiert ihre ersten Erfolge als Künstlerin, sollen ihre Bilder auch in einer New Yorker Galerie ausgestellt werden. Felice fliegt nach Jahren zurück, konfrontiert sich, ermuntert von Micha, mit dem Trauma einer mehr als schwierigen Mutterbeziehung, mit einer Frau, die eine ganze Familie mit ihrer Unberechenbarkeit, ihren Ausbrüchen und der Art, die Welt nach ihrer Fasson zu drehen, in einen Zustand der permanenten Angst bringt. Kaum zurück kämpft sie wieder und spürt in diesem Kampf, dass ihr nicht nur droht, eine Familie zu verlieren, sondern sich selbst.

„Meine Familie hatte mich aus der Bahn geworfen … und die Kunst war der Versuch, wieder eine Ordnung herzustellen.“

„Kreisläufe“ ist als grosse Rückblende geschrieben. Der erste Teil der Mutter, der zweite Teil dem Vater zugewandt. Vom Vater ist nicht viel geblieben, ausser einer ganzen Reihe Kalenderbücher, die der Vater als Tagebücher nutzte und in krakeliger Schrift rapportierte, was ihm wichtig erschien. Nach dem Tod ihres Vaters gelingt es Felice, diese Bücher dem Vergessen zu entreissen. Sie liest sie über Jahre, hält sich fest an dem Wenigen, das von ihrem Vater geblieben ist, einem Vater, der sich neben seiner Mutter im Obergeschoss und seiner Frau im Erdgeschoss immer mehr in sich zurückzog und verstummte.

„Mein ganzes Leben bin ich weggerannt, mein ganzes Leben habe ich versucht, wieder nach Hause zu finden.“

Was mich an „Kreisläufe“ bewegt, ist aber nicht nur die Emanzipationsgeschichte einer Frau, das Familiendrama, das Gift, das Beziehungen vernichtet, sondern die Art und Weise, wie Andrea Scrima ihrem Stoff begegnet und wie sie schreibt und malt zugleich. Hier schreibt jemand polyphon, legt Bilder übereinander, trägt Schicht für Schicht ab, lässt Ränder ausfliessen, malt mit grossem Pinsel, um den Rissen in der Farbe nachzugehen. Man spürt, dass die Autorin malt. Der Autorin geht es nicht um Offenlegung, Ausbreitung. „Kreisläufe“ ist ein Bilderzyklus, der sehend macht!

Andrea Scrima, geboren 1960 in New York City, studierte Kunst an der School of Visual Arts in New York und an der Hochschule der Künste in Berlin, wo sie seit 1984 als Autorin und bildende Künstlerin lebt. Ihre Arbeiten waren in internationalen Ausstellungen zu sehen. Sie schreibt Essays für Times Literary Supplement, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Schreibheft, Music & Literature, The American Scholar, LitHub und The Brooklyn Rail.

Christian von der Goltz ist Jazzpianist, Komponist (Sophie Said, Complicated Stories (With No End), Dreaming, Paradise), Leiter des cvdg projekts, Übersetzer und Schriftsteller. Sein Essay «Halted Time» erschien in StatORec und in der Anthologie «Writing the Virus» (Outpost 19 Books, Nov. 2020). Ein Auszug aus seinem neuen Roman «Das Norwegische Mädchen» erscheint demnächst bei manuskripte.

Andrea Scrima, aus der «Floor Eile Project»- Serie, 1990, Grafit auf Papier (mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin)

Rezension von «Wie viele Tage» auf literaturblatt.ch

Webseite der Bildenden Künstlerin und Schriftstellerin

Interview (englisch) mit Andrea Scrima

Beitragsbild © Johannes Rühl

Regina Dürig ist die erste Weinfelder Buchpreisträgerin!

Regina Dürig ist mit ihrer Novelle «Federn lassen» erste Trägerin der Weinfelder Buchpreises. Der von der BuchhändlerinKatharina Alder  initiierte Weinfelder Buchbuchpreis wurde erstmals übergeben. Der Preis ehrt die Qualitäten eines besonderen Buches und zugleich das Engagement einer leidenschaftlichen Bücherfreundin!

Hier veröffentlicht literaturblatt.ch die fünf Texte der Jury zu den Büchern, die nominiert waren.

Zum Siegerbuch von Regina Dürig «Federn lassen», Droschl:
Schwarz-weiss gestreift wie eine Vogelfeder, dazu noch lang und schmal, kommt dieses Buch daher. Es irritiert auf den ersten Blick, wenn es in der Hand liegt. Ein besonderes Format für ein Buch. Und auch die ersten Wörter sind ungewöhnlich. Verrissene Sätze und Absätze hindern den Lesefluss. Doch das stockende Lesen stört keineswegs das Verständnis der Geschichte. Es ist gewollt und gekonnt. Der Verzicht auf jegliche Interpunktion und die individuelle Interpretierbarkeit von Enjambements verleihen den Textabschnitten unzählige Varianten des Verstehens. Auf der Buchvorderseite steht Novelle, doch die Zeilen hören sich eher nach lyrischer Prosa an. Die Stimme hinter den Sätzen wurde nie erhört. Durch das Niederschreiben bricht wird ein Tabu gebrochen, das unerhörte Ereignis in doppeltem Sinn. Die Kategorie Novelle könnte also nicht treffender sein.

Die Geschichten handeln vom Alltäglichen. Ein namenloses Du erzählt rückblickend von Schweigen, Scham, Stille und Starre. Von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter werden wir Zeuge von Grenzüberschreitungen und Übergriffen, von physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt.
Die Erzählerin schildert ihr Überhörtwerden bei der Arbeit, wie sie ihre Freunde bei kleinen Dingen nicht ernstnehmen. Aber auch, dass sie körperliche Nähe erfährt, die sie so nicht möchte und nicht einfordert. Es sind Dinge, die einer Frau tagtäglich passieren. Mit dieser Novelle ist Regina Dürig eine eindrückliche Gesellschaftskritik geglückt.

Und dann ist da noch diese Angst. Sie ist universal, sie ist allgegenwärtig und bestimmend. Diese Angst, dass es immer noch schlimmer kommt. Die Beschreibungen davon sind bedrückend und deprimierend. Die Federn werden fliegen gelassen – gerupft und nackt steht die Erzählerin da und hat uns ihr Innerstes offenbart.

Regina Dürig ist mit «Federn lassen» eine mutige und feministische Novelle gelungen, die aufrüttelt und an der innersten Sicherheit kratzt. Schonungslos und ungeschönt kommen sie Sätze daher. Sie verheimlichen nichts und gewinnen durch ihre Mehrdeutigkeit eine grosse Wucht.

Regina Dürig wurde 1982 in Mannheim geboren und lebt in Biel. Sie ist Autorin, Performerin und Dozentin für Literarisches Schreiben und hat Miniaturen, Kurzgeschichten, Hörspiele, Kinderbücher, Jugendromane und unsichere Übertragungen veröffentlicht. Für ihre Arbeiten hat Regina Dürig zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. den Peter-Härtling-Preis, den Literaturpreis Wartholz und den Literaturpreis des Kantons Bern

Judith Keller «Oder?», Der gesunde Menschenversand
Judith Kellers Oder? ist kurzweilig. Das liegt einerseits an den vielen Seiten, die nur mit ein paar wenigen Sätzen bedruckt sind und andererseits am flüchtigen Plot. Die Rahmenerzählung um zwei Schwestern, die ihren eigenen Autor finden wollen, weil sie sich „schlecht erzählt“ fühlen, bleibt so vage wie das Abtauchen ins mythologische Griechenland oder die Zusammenhänge der einzelnen Episoden. Ein bisschen veräppelt fühlt man sich da bei der Lektüre schon. Und gerade das ist immer wieder sehr unterhaltsam. So beispielsweise, wenn Keller sich im Roman etliche Male selbst zitiert – aus Werken, die in Zukunft erscheinen werden. Oder wenn es immer wieder um die nie stattgefundene Entführung von Roger Federer geht. Veräppelt werden nicht nur die Lesenden. Der Text macht sich über den gesamten Literaturbetrieb lustig und ist am Ende – genau so, wie es auf der ersten Seite steht – „überhaupt kein Roman“: Dieser Text ist das Ringen mit dem Roman, den es nicht gibt. Was man da in den Händen hält, ist nicht einmal ein Manuskript. Es ist eine Sammlung von Miniaturen und Notizen zu einem Roman, den Keller vielleicht einmal schreiben wird. Und darauf kann man hoffen, denn das Potenzial dieses Textes geht weit über den Schalk hinaus.

Judith Keller, 1985 in Lachen (SZ) geboren, lebt in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert. Für ihr Debüt «Die Fragwürdigen» wurde Judith Keller mit Anerkennungspreisen von Stadt und Kanton Zürich ausgezeichnet.

Seraina Kobler «Regenschatten», Kommode
In ihrem Debütroman inszeniert Seraina Kobler ein Zürich der nahen Zukunft. Geprägt von Dürren, steigendem Meeresspiegel und Waldbränden schafft Kobler die Atmosphäre einer nahen Dystopie. Und inmitten dieser kaputten Welt entsteht neues Leben: Der Roman verdichtet das Geschehen auf einen einzigen Tag im November, an dem Anna ohne jegliche Hilfe ein Kind zur Welt bringen wird. In einer Rückblende erzählt sie von sich und David, dem Baby, dass sie erwarten und dem Problem, dass nicht David, sondern ein guter Freund der Vater ist. Vom Verlassenwerden und der Frage, ob sie das Kind behalten oder abtreiben soll. Zugleich berichtet die Ich-Erzählerin von einem Feuersturm, der am Zürichberg wütet und die Stadt in Panik versetzt. Kobler verschränkt gekonnt die Geschichte einer Frau und ihrer Schwangerschaft mit der einer Klimakatastrophe. Die Geburtsszene bestimmt die Dramaturgie des Romans und über viele Seiten gelingt es Kobler die unterschiedlichen Ebenen und Motive stimmig miteinander zu verknüpfen. Erst gegen Ende franst das Nebeneinander von Persönlichem und Allgemeinem aus und die Erzählfäden sind nur noch lose bis gar nicht miteinander verknüpft und der Schluss wirkt abrupt. Dennoch gelingt es Kobler übers Ganze eine Atmosphäre zu kreieren, die überzeugt.

Seraina Kobler ist Journalistin und Autorin, arbeitete sie als Redakteurin bei verschiedenen Tages- und Wochenzeitungen, bevor sie sich mit einem eigenen Schreibatelier in der Zürcher Altstadt selbstständig gemacht hat. Sie ist Mutter von vier Kindern. «Regenschatten» ist ihr erster Roman. Ihr literarisches Schaffen wurde von verschiedenen Stiftungen, sowie dem Bundesamt für Kultur unterstützt.

Anaïs Meier «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken», mikrotext
Anaïs Meiers erste Kurzgeschichtensammlung mit dem Namen «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken» ist ein buntes Sammelsurium. Gerade so gut könnte dieses Buch «Über Hindelbank, Verhütung und insbesondere Essiggurken», oder «Über Bünzli-Ferien, Crazy Ellipsen und insbesondere Emmentaler Schildkröten» heissen. Nichtsdestotrotz ist der erste Titel treffend. Über Berge geht es im ersten Text und von Menschen handeln fast alle von Meiers Geschichten. Genauer gesagt von Menschen aus der Schweiz. Auf sie richtet Meier einen Blick, der in seiner Unaffektiertheit und vermeintlichen Arglosigkeit nur umso härter mitten in die ‘Conditio Svizzera’ trifft. Schweizerische Kleingeistigkeiten, Essgewohnheiten und sonstige Entgleisungen werden aufs genaueste analysiert und entlarvt, zwar immer wieder aufgelockert mit absurden Einfällen und zielgenauem Humor, aber das Lachen bleibt einem allzu oft im Hals stecken (wie eine zu grosse Essiggurke). Meier ist eine abgeklärte Erzählerin und wache Beobachterin der Schweiz, die trotzdem nie Allwissenheit über ihr Sujet vorzutäuschen braucht. Und was hat es mit den ebenfalls titelgebenden Bergschnecken auf sich? Diese Antwort bleibt Anaïs Meier den Lesenden schuldig. Sie scheinen mysteriöse und unergründliche Wesen zu sein – genauso wie wir Schweizerinnen und Schweizer.

Anaïs Meier, geboren 1984 in Bern, studierte Film und Medien an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg und Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Monatliche Kolumne “Aus dem Réduit” in der Fabrikzeitung, Zürich. 2013 Mitbegründerin von Büro für Problem und 2018 von RAUF. Im August 2020 erscheint der Kurzgeschichtenband «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken» bei mikrotext, im Herbst 2021 der Roman “Mit einem Fuss draussen” bei Voland & Quist.

X Schneeberger «Neon Pink & Blue», Verlag Die Brotsuppe
«Wer erzählt, hat überlebt», schreibt Schneeberger. Tatsächlich scheint das gesamte Buch im Bewusstsein dieser makabren Realität entstanden zu sein. Alles muss erzählt werden, und das so schnell wie möglich. In gedrängten Sätzen und dem rastlosen Stil der indirekten Rede zeichnet Schneeberger das flackernde Portrait einer prekär lebenden Hauptfigur. Deren Fluidität zeigt sich hinsichtlich ihrer eigenen Identität, ihres Namens, ihrer Sexualität und sozialen Existenz. Schneeberger schildert Auseinandersetzungen mit dem Staat ebenso wie Auseinandersetzungen mit diversen Liebhaber:innen, Erfahrungen von sexueller und körperlicher Gewalt, Abhängigkeiten, Todesangst, aber auch Rausch, Parties, Lust, Ekstase. In den weniger düsteren Passagen ist «Neon Pink & Blue» schrill, humoristisch, schelmenhaft. Genauso vielschichtig wie die Biografie und Psychologie der Hauptfigur sind die wilden musikalischen und literarischen Referenzen, die sich kreuz und que(e)r durch den Text ziehen. X Schneeberger ist damit ein beeindruckendes Portrait gelungen und eine Geschichte, die gleichsam unglaublich und allzu glaubwürdig erscheint.

X Schneeberger, Christoph Schneeberger wird 1976 im Aargau geboren und wächst in Vogelsang und Birr auf. Er studiert zunächst am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und schliesst 2018 den Master in Literarischem Schreiben an der Hochschule der Künste Bern ab. Christoph Schneeberger verknüpft die verschiedenen Bereiche der Kunst und ist in vielseitigen Formen und Identitäten aktiv. Als X Noëme – so heisst er als Dragqueen – performt er etwa eine Lesung seines preisgekrönten Romans «Neon Pink & Blue».

Begleitbild © Christoph Heer 

Helwig Brunner «Gummibärchenkampagne», Droschl

Sie lieben die Kurzgeschichten von Franz Hohler, den skurrilen Witz von Monty Python und die sprachliche Raffinesse derer, die Dinge durch das Wort lebendig werden lassen, von denen man sonst gar nichts weiss? Was bei Droschl als schmuckes Buch von Helwig Brunner so unscheinbar daherkommt, ist grosse Kunst!

«An manchen Tagen begleitet mich die fehlende Poesie wie ein Hund, der keinen Schwanz zum Wedeln hat.»

Was unter dem Titel „Gummibärchenkampagne“ und „Minutennovellen“ fast niedlich daherkommt, hats in sich. Wer die Titel der 109 Miniaturen durchliest, weiss schnell, dass es um die wirklich wichtigen Dinge des Lebens und darüber hinaus geht: Romantik, Laufbahn, Gelassenheit, Anfang, Gerechtigkeit, Erinnerung, Gottesbeweis, Teufelskreis, Apokalypse… Aber schon die Titel der anderen Gegenseite: Socke, Vogerl, Puppengehirn, Spiel, Gewicht… zeigen, dass es dem Autor doch nicht darum geht, die Welt zu erklären. Aber vielleicht die Dinge dazwischen, darüber und darunter. Das, was sonst im Schatten verborgen bleibt, was ausgeblendet wird, was unserem sinngebenden Blick entgeht. 

Idee
Den ganzen Tag schon begleitete Helmut das Hochgefühl, über eine Idee zu verfügen, die sein weiteres Leben zum ungleich Besseren wenden würde. Yes, I can!, rief etwas in ihm in grösster Zuversicht. Zwar konnte er nicht genau sagen, worum es bei der Idee ging, denn sie lag nicht offen vor ihm, sondern noch irgendwo im Verborgenen; nur der Zipfel eines Schattens von ihr, oder war es der Schatten eines Zipfels, fiel in sein Gesichtsfeld. So viel nur meinte Helmut zu wissen, dass sie etwas mit Erfolg zu tun hatte, mit Geld und schliesslich unfehlbar mit Glück. Er würde sich ihr, wenn sie sich erst ganz zeigte, nur zuzuwenden und nach ihr zu greifen brauchen, um ihrer für immer habhaft zu werden. So sicher war er sich seiner Sache, dass er sich Zeit liess und gelassener als sonst seinem Tagesgeschäft nachging, auf das er künftig ohnedies nicht mehr angewiesen sein würde. Helmut hätte nicht sagen können, woher sein Hochgefühl gekommen war; auch wohin es gegen Abend unbemerkt verschwand, wusste er nicht. Die Gelassenheit aber blieb ihm, ganz so, als hätte die Idee ihr Werk bereits getan.
 

Helwig Brunner „Gummibärchenkampagne“, Droschl, 2020; 144 Seiten, 27.90 CHF., ISBN: 978-3-99059-049-2

Helwig Brunner interessiert sich nicht für das Glatte, Glänzende, Auffällige, für Oberflächen. Nicht einmal für das Originelle, Einmalige, sondern für das absolut Normale, das Normalbetrachtern durch die Lappen geht, das nicht auffällt und hängen bleibt, selbst wenn ich es sehe und höre. Er rahmt und grenzt mit seiner Sprache ein, manchmal ein Bild, manchmal einen Moment, manchmal ein Gefühl, einen Gedanken. Bilder, die an Quint Buchholz oder René Magritte, an das Schräge in Roman Signers bildender Kunst, das absolut Normale übersteigert. Texte, leicht verschoben, kindlich verspielt, unsäglich witzig und klug. Scharf beobachtend, als sähe Helwig Brunner das Einerlei des Lebens durch ein Okular, ein Brennglas, bis selbst das Nebensächliche zu funkeln und manchmal zu brennen beginnt.

Trotz
Die Haltbarkeitsdauer der Marillenmarmelade würde, so stand es auf dem Deckel, am zehnten September des kommenden Jahres um sechzehn Uhr zwei enden. Charlotte vermutete spontan einen Fall von Scheingenauigkeit. Bestimmt legte irgendeine von weltfremden Bürokraten ausgeheckte europäische Norm fest, dass die Angabe des Verfallsdatums auf Marmeladegläsern minutengenau zu erfolgen hatte. Was aber, wenn zum Wohle des Konsumenten umfangreiche mikrobiologische Testreihen durchgeführt worden waren, die eine derart genaue Prognose tatsächlich zuliessen? Charlotte wollte niemandem Unrecht tun, auch nicht den Institutionen der Europäischen Union. Sie beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen und das Glas bis zum angegebenen Termin ungeöffnet aufzubewahren. Möglicherweise würde am zehnten September um sechzehn Uhr zwei ein explosionsartiges Schimmelpilzwachstum einsetzen und die Marmelade binnen Sekunden grün überziehen. Anderenfalls würde Charlotte, Europa zum Trotz, um sechzehn Uhr drei eine Biskuitroulade damit füllen.

Geschichten, die zuweilen verunsichern, weil ich als Leser glaube, die Pointe versäumt zu haben, die mich zwingen, ein zweites Mal mit Lesen anzusetzen, weil ich den Witz in der falschen Ecke vermute. Geschichten, die mich nicht aufs Glatteis führen, nicht mit mir spielen, die sich aber durchaus einen Spass mit mir erlauben. Geschichten von der menschlichen Spezies, der Krone der Schöpfung, die ihre Eigenarten allen anderen Lebewesen gegenüber in die Sonne stellt, aber offenbaren, wie linkisch, kompliziert und widersprüchlich sie ist.

Zufriedenheit
Seine Frau, so Leopold grimmig nickend, wolle sich von ihm scheiden lassen; sie begründe dies damit, dass sie unzufrieden sei mit seiner ständigen Unzufriedenheit. Er hingegen halte ihre unausrottbare Zufriedenheit, die sie immer dann an den Tag lege, wenn sie nicht gerade mit seiner Unzufriedenheit unzufrieden sei, für den einzigen in Betracht kommenden Scheidungsgrund; Zufriedenheit nämlich sei letztlich nichts anderes als die Resignation vor dem Erträglichen und als solche unverzeihlich.

Helwig Brunners Minutennovellen, angelegt an seinen Erfinder, den ungarischen Schriftsteller Istvan Örkeny, der zwischen 1944 und 1968 fast vierhundert solcher Minutentexte schrieb. Texte, die wohl schnell gelesen sind, aber zäh hängen bleiben, die man immer wieder lesen will, die einem wie ein Ohrwurm verfolgen, die man vorlesen und teilen will. Für eine Minute geschrieben, aber nie und nimmer in einer Minute geschrieben; kunstvoll komponiert, mehrschichtig, mit Fallgruben, scharfen Kanten und Spiegeln überall.

© Anett Keszthelyi Brunner

Helwig Brunner, geboren 1967 in Istanbul, lebt in Graz. Nach seinem Studium der Musik und Biologie arbeitet er in einem ökologischen Planungsbüro und ist zudem für die Literaturzeit- schrift Lichtungen sowie für eine Lyrikreihe editorisch tätig. Bisher liegen zwölf Gedichtbände sowie mehrere Prosatitel vor, ausserdem regelmäßige Beiträge in Anthologien, Zeitschriften und im Rundfunk.
Bei Droschl erschienen bisher sein mit Stefan Schmitzer geführter poetologischer Disput «gemacht | gedicht | gefunden» (2011) und das «Journal der Bilder und Einbildungen» (2017).

(literaturblatt.ch dankt Autor und Verlag für die ausdrückliche Genehmigung, die drei Texte ‹Idee›, ‹Trotz› und ‹Zufriedenheit› in den Bericht einfügen zu dürfen!)

Webseite des Autors

Beitragsbild © Anett Keszthelyi Brunner

Aufgebrochen! Das 17. Lyrikfestival Basel

Für jede Kunst ein Haus? Bildende Kunst in Museen und Galerien, Musik in Konzerthäusern und Clubs, Theater und Tanz auf Bühnen und Plätzen, Film in Kinos und zuhause, Literatur im Literaturhaus, im kleinen Lesekreis oder für sich, ganz allein. Was ganz zaghaft aufzubrechen beginnt, was viele Kunstschaffende längst auf ihre Fahnen geschrieben haben, die Sparten aufzubrechen und miteinander zu verbinden und zu verweben, manifestiert sich in aller Deutlichkeit am Lyrikfestival Basel.

Ulrike Almut Sandig in der Late Night Varieté im Sommercasino Basel, © Samuel Bramley

Ulrike Almut Sandig, vielfach preisgekrönte Lyrikerin und Erzählerin, schon oft zusammen mit MusikerInnen aufgetreten, vertonte ihre Gedichte, ihre Texte zusammen mit der jungen Pamela Méndez, einer jungen, freischaffenden Songwriterin aus dem aargauischen Brugg, die bald ihr drittes Album veröffentlichen wird. Zusammen mit anderen Paarungen traten die beiden am Freitag spät im Sommercasino Basel auf, nachdem sie sich einen Nachmittag zusammen für diesen einen Auftritt vorbereitet hatten. So entstand ein vielschichtiges Klangkunstwerk, eine Performance aus Sound, Text, Stimme, Rhythmus und Gestus, öffnete sich ein weites Feld, dass den Text aus seiner Hülle riss, die Musik den Text dem Boden enthob und in neue Sphären katapultierte. Erfindungsreich und wagemutig, genauso wie politisch und gesellschaftskritisch. Ulrike Almut Sandig relativiert sowohl formal, inhaltlich und performativ die Grenzen traditioneller Lyrik.
Sie fügt sprachliche Netze zusammen, wirft sie aus, nicht um LeserInnen zu gewinnen, sondern in der Hoffnung, dass diese etwas von dem wiedererkennen, was an Verlinkungen in ihren Büchern ausgelegt ist, geheimnisvoll, zahlen- und symbolverliebt. Dichtung sei wohl die mutigste aller Kunstformen, meinte die Autorin, denn keine andere Kunstgattung strecke die Arme so weit auf, um andere Genres einzuladen und mitzunehmen.

Michael Fehr und Manuel Toller mit ihrem Programm «Im Schwarm», © Samuel Bramley

Ebenso beeindruckend der Auftritt von Michael Fehr und Manuel Toller, die das Literaturhaus Basel zu einem musikalischen Tollhaus werden liessen. Als hätte Michael Fehr seine Geschichten, Bilder und Texte wie wilde Hunde losgelassen, als hätten die beiden den kratzenden, wütenden Sound eines Tom Waits ins Land hineingelassen, um ihn in helvetischem Grove an den Steilhängen der vaterländischen Widrigkeiten hinaufzupeitschen. Die beiden waren ein wahrhaft hinreissendes Ereignis, so gar nicht das, was man sonst in einem Lyrikfestival vermuten würde.

Preisträgerin des diesjährigen Basler Lyrikpreises 2020 ist die junge Dichterin Eva Maria Leuenberger mit ihrem Debütband «dekarnation», herausgegeben bei Droschl. Alisha Stöcklin und Rudolf Bussmann, beides Mitglieder der Lyrikgruppe Basel, die Festival und Preisvergabe organisiert, priesen in ihrer gemeinsamen Laudatio einen Erstling, der nichts mit Anfängerglück gemein hat, lobten einen sprachlich raffinierten Naturlyrikzyklus über «tal – moor – schlucht – tal», der ebenso viel Reife wie unmittelbare Nähe zu Sprache und Motiv zeigt. Dekarnation als Form der Inkarnation. Dekarnation nicht als das Ende, den blossen Zerfall, sondern den Anfang von etwas Neuem, nicht Schluss, sondern Beginn, losgelöst von der Zeit, nicht eingegrenzt in ein Dasein, ein Leben, sondern kleiner Abschnitt eines Ganzen, eines Kreislaufes. Lyrik, die trotz der Erdigkeit durch Leichtigkeit überzeugt, das scheinbar Dunkle erhellt.

Eva Maria Leuenberger liest aus ihrem preisgekrönten Band «dekarnation». © Samuel Bramley

hier ist ein tal
in vorhergesehener form
mit berg und bach und grüner wiese
am rande des baches
am ende der ersten äderung
wächst moos über die steine
zieht flaumig über die ränder hinweg
in diesem tal
lebt niemand mehr und niemand
kennt den weg:
ich wache auf
am rande des baches
und höre das wasser
der mund spricht ein wort
und ordnet es in die hügel ein

am bachufer, die decke aus moos
ich spüre den boden
wie er nachgibt unter mir
der bach, lang und laut,
beachtet mich nicht

hinter dem wasser
die anfänge von licht
splitternd, gehüllt ineinander
wie arme, schlingend
auf der haut perlt das wasser
in tropfen, licht /
darin der himmel ein boden

auf der anderen seite
des wassers
sitzt ein vogel, gefiedert,
blau mit gelb darum
und knickt den kopf:
es ist still
wir sind allein

(Ausschnitt aus „dekarnation“ von Eva Maria Leuenberger, © Droschl, 2019, mit freundlicher Genehmigung des Verlags)

Schlusspunkt in einem äusserst vielfältigen und abwechslungsreichen Programm war die Lyrikerin und Musikerin Lydia Daher, die zusammen mit dem Musiker Hannes Buder erst recht die Grenzen zwischen Musik und Literatur, zwischen Lyrik und Lyrics verwischen will. Sie arbeitet an Schnittstellen, tummelt sich an Genregrenzen, bildende Kunst mit eingeschlossen. Angesprochen, ob den Musik nicht einfach nur untermale oder begleite, meinte Hannes Buder: «Im besten Falle höre ich gut zu.» So wie der Illustrator seine Arbeit längst nicht mehr nur als Bebilderung versteht, will Hannes Buder weder Textmusik noch Hintergrund. Text und Musik als ebenbürtige MitspielerInnen, Fragende und Antwortende.

Ein gelungenes Festivalspektakel trotz des grossen Abwesenden Lutz Seiler! Ein grosses Kompliment an den unermüdlichen Eifer der organisierenden Lyrikgruppe Basel unter ihrer Präsidentin Simone Lappert.

Alle Fotos © Samuel Bramley, Lyrikfestival Basel (Beitragsbild Pamela Méndez und Ulrike Almut Sandig)

Eva Maria Leuenberger «dekarnation», Droschl

«Dekarnation» bedeutet «Entfleischung». Ein menschlicher oder tierischer Organismus «befreit» sich von allen Weichteilen, bis nur noch Knochen und Horn übrig bleiben. Eva Maria Leuenbergers Dichtung ist wahrlich Verdichtung, bis nur noch Konzentrat übrig bleibt. Aber kein Skelett, sondern das, was bei einer in Sprache Sehenden hängen bleibt.

Wie sehr mich beeindruckt, was sich las, ist daran zu messen, wie lange das Buch «Dekarnation» mich begleitete. Eva Maria Leuenbergers Lyrik ist wie eine leise Berührung. Nichts, das zerlegt. Nichts, das unter die Lupe nimmt. Nichts, das verkopft. Nichts, was einem unberührt lässt.
Ihre Gedichte sind der Nachhall dessen, was mit sanftem Berühren über Tal, Moor, Schlucht und Tal bleibt. Als würde die Dichterin mit ihrem Sprachatem die Formen, Farben, Düfte und Bilder umstreichen, wie ein Hauch, ganz zart, aber keineswegs ohne Gewicht.

hier ist ein tal
in vorhergesehener form
mit berg und bach und grüner wiese
am rande des baches
am ende der ersten äderung
wächst moos über die steine
zieht flaumig über die ränder hinweg
in diesem tal
lebt niemand mehr und niemand
kennt den weg:
ich wache auf
am rande des baches
und höre das wasser
der mund spricht ein wort
und ordnet es in die hügel ein

am bachufer, die decke aus moos
ich spüre den boden
wie er nachgibt unter mir
der bach, lang und laut,
beachtet mich nicht

hinter dem wasser
die anfänge von licht
splitternd, gehüllt ineinander
wie arme, schlingend
auf der haut perlt das wasser
in tropfen, licht /
darin der himmel ein boden

auf der anderen seite
des wassers
sitzt ein vogel, gefiedert,
blau mit gelb darum
und knickt den kopf:
es ist still
wir sind allein

(Ausschnitt aus «dekarnation» von Eva Maria Leuenberger, © Droschl, 2019, mit freundlicher Genehmigung des Verlags)

Naturlyrik, die mich umschmeichelt und zuweilen aufschreckt, die nicht idealisiert, aber Bilder erzeugt, wie es nur die Sprache zu schaffen vermag. Sie tastet, schmeckt und riecht, fühlt, hört und empfindet für mich, ohne mich zu gängeln.

Ein schmucker Band durch und durch! Ein Genuss!

Der Lyrikband «dekarnation» erscheint mit Recht auf der Hotlist der besten Bücher unabhängiger Verlage. Wer die Hotlist unterstützen will, hier sind die Infos!

© Anja Fonseka

Eva Maria Leuenberger wurde 1991 in Bern geboren und lebt in Biel. Sie studierte an der Universität Bern sowie an der Hochschule der Künste Bern. Veröffentlichungen u.a. in manuskripte und in Literarischer Monat.
Sie ist zweifache Finalistin des open mike in Berlin (2014 und 2017) und erhielt 2016 das »Weiterschreiben«-Stipendium der Stadt Bern.

Literatur grenzenlos!

Das alljährlich stattfindende Literaturfestival „Erzählzeit ohne Grenzen“ ist einmalig. Zusammengerechnet ist die Besucherzahl imposant, die Liste der Autorinnen und Autoren mehr als beachtlich, die Veranstaltungsorte von abenteuerlich bis beeindruckend und meine Not als Besucher jedes Jahr die gleiche.

Man müsste in den Tagen vom 7. – 15. April mehrere Leben zur Verfügung haben, um all jenen Schreibenden zu lauschen, auf die man doch eigentlich schon lange wartet. Diesmal waren es drei Schriftstellerinnen und ein Schriftsteller, deren Bücher ich ihnen ans Herz legen möchte.

„Keyserlings Geheimnis“ von Klaus Modick, Kiepenheuer und Witsch, 235 Seiten
Klaus Modick, Autor von mehr als 20 Romanen, interessierte sich mit der Lektüre der Werke Eduard von Keyserlings (1855 – 1918, Schriftsteller und Dramatiker des Impressionismus) immer mehr für dessen Biografie. Ein Leben allerdings, dass viele weisse Flecken oder schwarze Löcher aufweist, weil der Nachlass auf Keyserlings Wunsch vernichtet wurde. Eine Tatsache allerdings, die die Neugier und Fantasie Klaus Modicks nur noch mehr anstachelte. Was waren die Gründe, warum ein Nachlass, fast alle Spuren, Briefe und Manuskripte eines Schriftstellers vernichtet werden mussten? Warum musste Eduard von Keyserling fluchtartig seine Universität und die Stadt Dorbat (heute Tartu) verlassen und nach Wien fliehen? Klaus Modick spinnt mit viel Einfühlung einen mitreissenden Roman, der in der Künsterboheme um 1900 spielt, Keyserlings Schwabinger Freunde; den Dramatiker Halbe, den Maler Lovis Corinth oder den Schriftsteller und Schauspieler Frank Wedekind. Absolut überzeugend aber ist Klaus Modicks feinsinnige Sprache, der Ton, den er beim Erzählen anstimmt und der perfekt zum Lebensgefühl und zur Zeit damals passt. Für all jene die perfekte Lektüre, die es mögen, wenn mit dem Lesen Zeitverständnis geweckt wird.

“Jahre danach“ von Angelika Klüssendorf, Kiepenheuer und Witsch, 156 Seiten
Nach „Mädchen“ und „April“ ist „Jahre danach“ der Schluss einer Trilogie. Die Geschichte von April, von der Kindheit bis hinein in ein Schriftstellerleben. „Jahre danach“ erzählt in sich abgeschlossen von Aprils Ehe zu Ludwig, den die zuerst als aufgeblasenen Chirurgen an einer Lesung kennenlernt, der ihr aber genau das zu geben scheint, wonach ihre Seele dürstet. April und Ludwig heiraten, bekommen ein Kind und Probleme zuhauf. Angelika Klüssendorf schrieb aber keinen Rosenkriegroman, sondern die Geschichte zweier Menschen, die sich wohl irgendwann irgendwie liebten, aber mehr ineinander verstrickten. „Jahre danach“ spriesst voller Witz und Poesie dort, wo man als Leser weinen könnte. Ein Buch voller starker Sätze, die man mitnehmen, nicht mehr vergessen möchte. Ein unglaublich starkes Buch, von dem die Autorin meinte, sie wäre froh, nun endlich einen Abschluss gefunden zu haben, um Neues beginnen zu können. Wie ich mich darauf freue!

“Die Königin schweigt“ von Laura Freudenthaler, Droschl, 206 Seiten
Nicht von den Märchen aus der Vergangenheit möchte Fannys Enkelin hören, viel lieber von der wirklichen Vergangenheit. Fanny erinnert sich. Vom Vater mit der harten Brust, von der Wärme ihrer Mutter, die nicht von ihrer abzugrenzen war, dem elterlichen Hof und von Toni, ihrem Bruder, dem Hoffnungsträger, der tot im grossen Krieg zurückgeblieben war. Fanny braucht ein Leben lang, um sich von den Gewichten ihrer Vergangenheit loszumachen, den Eltern, dem Dorflehrer, mit dem sie verheiratet war und einen Sohn hat. Selbst von jenen, die noch leben, ihrem Sohn, der auch Toni heisst und ihrer Enkelin, die sich nicht mehr nur mit Märchen aus der Vergangenheit begnügt. Die Geschichte einer Frau durch fast ein ganzes Jahrhundert. Laura Freudenthaler, noch jung, erzählt klug, wohl wissend, wo Nähe oder Distanz dem Erzählen gut tun. Ein Roman voller Ehrlichkeit und Reife, sprachlicher Kraft und Leidenschaft für ein Leben! Unbedingt lesen!

eine ausführlichere Rezension auf literaturblatt.ch

“Stillhalten“ von Nina Jäckle, Klöpfer & Meyer, 189 Seiten
Tamara sitzt in ihrem Zimmer. Ihr Leben ist abgeschlossen wie das Haus am künstlichen See, in dem sie wohnt. Sie schreibt in ihrem Zimmer in ihr Abrechnungsbuch. Tamara ist alt, war einst Tänzerin, vor langer, langer Zeit, damals 1933 in diesem schicksalsreichen Jahr deutscher Geschichte. Und sie sass Modell für ein Porträt, vor dem Maler Otto Dix. Damals war Tamara zwanzig, als sie Otto Dix zum ersten Mal begegnete, ebenso beeindruckt wie eingeschüchtert von einem Mann, der kein Blatt vor den Mund nahm. Otto Dix malte sie, weil sie mit ihrem Lächeln trösten sollte. Aus dem „Bildnis der Tänzerin Tamara Danischewski mit Iris“ wird eine nicht genutzte Möglichkeit, ein Leben am Scheidepunkt, damals noch von einem Leben in allen Facetten. Bis sie heiratete. Sie heiratete einen Mann, der ihr das Tanzen und Fragen verbot, liess sich einschliessen, für immer verwundet.

Nina Jäckles Mann trägt vor der Lesung im Kunsthaus Singen eine grosse Tasche mit ins Obergeschoss, wo fast 100 Gäste auf die weitgereiste Autorin warten. Er packt ein Bild aus, das Bild, das „Original einer Fälschung“, lächelt dieser. Die Replik des Bildes, das meist in Stuttgart hängt, wenn es nicht irgendwoin den Zentren der Welt auf Reisen ist.

Erfrischend war, wie Nina Jäckle den Bilddeutungen des Kunsthistorikers widersprach und deutlich machte, dass die Wissenschaft mit ihrer Deutung auch „unrecht“ haben kann.

eine ausführlichere Rezension auf literaturblatt.ch

Ich liess mich von „Erzählzeit ohne Grenzen“ faszinieren. Ein literarisches Freudenfest, ein Grossanlass, der einmalig ist. Ein grosses Dankeschön an das Organisationsteam, allen voran Monika Bieg und Barbara Tribelhorn.

Andrea Scrima «Wie viele Tage», Droschl

Andrea Scrima lebt und arbeitet als bildende Künstlerin in Berlin. Ihr erster Roman erzählt nicht so sehr eine Geschichte, als dass er sich mit Augen-Blicken beschäftigt, mit Wahr-Nehmung, in Pendelbewegungen zwischen Berlin und New York.

Neben Betrachtungen über Geschehnisse um sie herum, in Ateliers, in Wohnungen, in Strassen und Städten, sind es Menschen; Nachbarn, Bekannte und Freunde, ihr Bruder, mit dem sie sich fast symbiotisch verbunden fühlt, ihre Verwandten und ihr Vater, den sie durch Krankheit verliert. «Wie viele Tage» ist eine literarische Auseinandersetzung mit der Erinnerung.

«Mein Bewusstsein läuft diesem Moment hinterher, und dem nächsten, und dem danach; ich nehme mir vor, mir jedes Detail einzuprägen, doch ich kann es nicht, und ich kann nicht in der Gegenwart existieren und im Wissen, dass ich ein Grossteil dessen, was ich um mich herum sehe, vergessen werde.»

Andrea Scrima ist eine Meisterin des Sehens, vermag mit ihrer feinen Wahrnehmung Oberflächen aufzubrechen, dahinter liegende Schichten freizulegen. Genau das Gegenteilige von dem, was in der Malerei sehr oft passiert. Sie kann profansten Momenten Poesie abgewinnen, mit Sprache und Melodie. Und doch scheint Andrea Scrima weit vom Geschehen distanziert zu sein. So nah sie mit ihren Empfindungen dem Geschehen kommt, so weit scheint sie sich vom Wahrgenommenen zu distanzieren, nicht wirklich dazugehörend, nicht mitgenommen werden wollend.

«Wie viele Tage» liest sich nicht leicht, wenn auch nicht verschlüsselt. Wer das als «Roman» verkaufte Buch liest, sucht vergeblich nach einem durchgehenden Handlungsstrang, einer vielleicht verborgenen Geschichte. Ich las das Buch wie lyrische Prosa, eine mäandernde Textspur durch ein Leben, das Empfinden einer Empfindsamen. Keine Nabelschau, aber der Lyrik näher als einer Erzählung.

Andrea Scrima schreibt, wie sie arbeitet, wie sich das Sehen in ihrer Kunst manifestiert. Wie sie ihre Umgebung, ihre Welt zu erfassen versucht, wie sie sich mit ihr vertraut macht. Wie wenig sie dabei von sich selbst gefangen ist! Andrea Scrima muss keine Geschichte loswerden. Sie nimmt mich mit auf eine Reise durch ihre Welten.

Ein Buch über Lebensspuren, Aufbrüche und Einsichten von dem, was bleibt oder sonst ins Vergessen rutscht. Erinnern schafft Ordnung. Andrea Scrima erinnert sich, ordnet, bringt Erinnern in Ordnung, ordnet Erinnerungen neu und fragt sich immer wieder, nach jeder «Neuordnung», ob das, was geworden ist, nun ganz anders ist.

Andrea Scrima, geboren 1960 in New York City, studierte Kunst an der School of Visual Arts in New York und an der Hochschule der Künste in Berlin, wo sie seit 1984 als Autorin und bildende Künstlerin lebt.
Ihre Arbeiten waren in internationalen Museen und Ausstellungen zu sehen.
Sie schreibt Literaturkritiken für «Quarterly Conversation, Music & Literature» und «The Brooklyn Rail».

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Titelfoto: Sandra Kottonau