Urs Mannhart «Nichts rennt wie Rotwild»

Es gibt, und ich bin dankbar dafür, die unterschiedlichsten Lehrer auf dieser Welt. Oft schätzen und würdigen wir jene Lehrpersonen, denen es gelingt, uns mühelos etwas begreiflich zu machen, uns flugs zu Einsichten zu verhelfen, von denen wir zuvor nicht wussten, dass wir sie unbedingt haben wollen. Es finden sich jedoch auch Lehrer, denen es, obwohl nicht unsympathisch, nicht gelingen will, uns etwas beizubringen, die uns, nach einem staunenden, irritierten Zuhören, ratlos zurücklassen. Ich mag diese zweitgenannten Lehrkräfte eigentlich ganz gut, auch weil uns die Dinge, von denen sie erzählen, oft lange noch zärtlich hörbar durch die zelebralen Gänge kriechen.

Neulich bin ich einem Lehrer dieser Art begegnet; er stand, glänzend vor Stolz, vor der Landwirtschaftlichen Genossenschaft. Dieser Lehrer war ein Auto, ein frisch poliertes, auffallend bulliges Modell, wie es in den USA gerne gefahren wird; auf seiner Seitentür waren liebevoll verziert zwei Worte aufgedruckt, die ich gleich ein paar Mal lesen musste: Urban Cowboy.

Diese Worte, das ganze Auto, sein stolzgeblähtes Dastehen vor der mitten im Dorf sich befindenden Landwirtschaftlichen Genossenschaft – ich war paralysiert. Insbesondere das Urban Cowboy gab mir unverzüglich Hausaufgaben mit, die zu lösen ich bis heute beschäftigt bin.

Womöglich, das muss erwähnt sein, hängen das Auto und das Dorf, in dem es geparkt steht, kausal zusammen. Denn Pfaffwil, so das Dorf, gelegen auf knapp 700 Metern über Meer, hockt am Ende einer kleinen Talschaft wie ein beleidigter Erstklässler in der Ecke des Schulhofs; seit je her weht ein apokalyptisch angegammelter Wind um die hiesigen Hausecken. Die mit schnuckligen Steingärten, Sichtschutzwändchen, Plastikmöbeln und funzligen LED-Gartenlämpchen verunzierten Glücksschatullen von Einfamilienhäuschen schmiegen sich hier so eng wie kaum woanders an konventionell geführte Bauernhöfe, die seit Jahren dicht an der Grenze des wirtschaftlichen, kulturellen und seelischen Konkurses entlangschrammen. Trotz dieser Nähe gibt es keinerlei Verbindung zwischen den Einfamilien und den Bauern; die Landwirte produzieren für die Industrie und haben die Beziehung zu ihren Produkten verloren, die jeden Miststock weit von sich weisenden Einfamilien fahren in die nächste Kleinstadt, um ihre homogenisierte, standardisierte Nahrung im Supermarkt einzukaufen. Die letzte Kraft, die das Dorf vor dem Zerfall bewahrt, ist der Charme der Verkäuferin im Volg-Laden, eine Frau, die davon profitiert, ihre kulturellen Hintergründe nicht in der Schweiz eingesammelt zu haben.

Es ist Pfaffwil das Dorf meiner Mutter, und was sie dort seit über zwanzig Jahren macht – ich weiss es nicht. Sie wohnt dort, erledigt den Haushalt eines Mannes, der sich die Abende gerne mit Fernsehprogrammen füllt, während sie, weil sie jene Aufregungen nicht mag, die aus den Spielfilmen heraus in die Stube lärmen, an den Fernsehbildern vorbei auf die Nadeln blickt, mit denen sie Socken strickt. Socken, die sie mir schenkt, Socken, die ich gerne trage, obwohl ich sie nicht tragen kann, ohne daran denken zu müssen, wie meine Mutter lange Abende am Fernseher vorbei auf die Stricknadeln blickend vor dem Fernseher verbringt, in diesem Dorf, in dem in kalten Winternächten die Leblosigkeit aus den Gullideckeln dampft, in diesem Dorf, das zu verstehen mir vielleicht nie vergönnt sein wird.

So ist mir also auch meine Mutter eine gute Lehrerin. Während ich nicht verstehe, wie sie es seit über zwanzig Jahren in einem Dorf aushält, aus dem ich, wenn ich sie besuche, nach spätestens zwanzig Minuten flüchten möchte, scheint sie nicht die geringsten Schwierigkeiten zu haben, meinen nicht sehr bürgerlichen Lebenswandel zu verstehen. Ich möchte mit meiner Unbürgerlichkeit nicht kokettieren, Vieles wurde mir vom Schicksal kostenlos vor die Füsse gespült, aber ich stelle es mir doch etwas abenteuerlich vor, als bald 70-jährige Mutter einen Sohn zu haben, der, obwohl über 40, weder Frau noch Kind noch Auto noch Wohnung noch festen Job hat. Bloss eine Lehrstelle auf einem Bauernhof hat er, sein Stundenlohn beträgt zwei Franken achtzig, und dann ist er auch noch frech genug zu behaupten, er sei glücklich.

Ja, ich sehe ein, ich könnte, verstünde mich meine Mutter nicht so gut, meine Mutter viel besser verstehen, aber sie gehört eben zu diesem Pfaffwil, das ich nicht verstehen kann – kein Wunder eigentlich, dass dort jetzt noch ein Auto steht, das ich nicht verstehe.

Urban Cowboy; wahrscheinlich ist es ja ein Sanitärinstallateur, der dieses Auto fährt, oder ein Metallbauschlosser, viele andere Jobs sind auf dem Land nicht zu haben, und als Cowboy mag er sich fühlen, weil sein Vater noch einen Hof führt und er hin und wieder mit diesem grossen Auto zwei Säcke Ergänzungsfutter aus der Landi holt, während er sonst zum Beispiel sehr geschickt Aussentreppen und Handläufe zusammenschweisst, am Dorfrand, wo sie das Altersheim renovieren, in dem er später einmal wohnen wird.

Anfang zwanzig war ich, als ich, neu an der Uni eingeschrieben und ohne Geld, mit meiner Mutter in dieses Dorf zog. Für mich war Pfaffwil und die vollkommene Abwesenheit von Möglichkeiten, mit denen es gefüllt war, stets die beste Nahrung für phantastische Einfälle. Auch heute fände ich es nur logisch, würden die meisten jungen Menschen, die in hier aufwachsen, den Wunsch entwickeln, später einmal als Pilot in Asien, als Matrose auf dem Indischen Ozean oder als Robotik-Forschungsleiter in China zu arbeiten. Aber dieses Urban Cowboy zeugt von einer anderen Denkweise, es erinnert mich an einen Kollegen aus der Berufsschule, die ich Ende Mai abgeschlossen habe. Ein Kollege aus der Provinz hinter Winterthur war das, der nie zu sehen war ohne ein mit heroischen Silben bedrucktes Kleidungsstück. Meist waren das T-Shirts, die von einem Traktor schwärmten. Nothing runs like a deer, stand dann da zu lesen, und während ich lange noch an Rotwild dachte, war für alle anderen in meiner Klasse vom ersten Augenblick an klar, dass es um John Deere-Traktoren geht. In den letzten Schulwochen hatte er den Unterricht jeweils in einer sehr robusten, knallroten Arbeitshose besucht, die mit dem Schriftzug der Freiwilligen Feuerwehr Unter- und Oberstaffelbach bedruckt war. Ohne je mit ihm darüber zu sprechen, wussten wir also, dass er Mitglied ist in dieser Feuerwehr, und die Hose war so glänzend rot und tadellos sauber, dass er sie unmöglich an einer der Feuerwehrübungen, die er gewiss absolvierte, bereits getragen haben konnte. Er trug diese Hose nur mittwochs, auf der Schulbank, und ich weiss nicht, ob ich ihn beneiden soll dafür, irgendwo so sehr dazuzugehören.

Unter- und Oberstaffelbach sehen Pfaffwil vielleicht ziemlich ähnlich, im Gegensatz zu den meinen sind die Eltern dieses Berufsschulkollegen aber Landwirte, spezialisiert auf Schweinemast. Er hat mit zwanzig eine Lehre als Landmaschinenmechaniker abgeschlossen, hat auf dem Hof seines Vaters gearbeitet, hat geheiratet, ein Kind gezeugt, und bildet sich nun, mit sechsundzwanzig Jahren, im Kanton Bern, noch zum Landwirt aus. Auf einem Betrieb freilich, der Schweine mästet. In diesem ersten Schuljahr war er einer der besten unsere Klasse; so erfahren wie er ist keiner. Er wird, das ist klar, in zehn oder fünfzehn Jahren den elterlichen Betrieb übernehmen.
Wieso eigentlich, wurde er einmal von einem Klassenkollegen gefragt, wieso eigentlich betreibst Du den ganzen Aufwand, um von Winterthur nach Bern zu fahren, wenn Du Dein Lehrjahr auch auf dem elterlichen Hof hättest absolvieren können?
Ich wollte, so antwortete er, ich wollte noch einmal etwas anderes sehen, ehe der Ernst des Lebens beginnt.
Ich stand, wie er das sagte, gleich neben ihm. Gebannt blickte ich in sein Gesicht, suchte die Mundwinkel nach einem Lachen ab, suchte in seinen Augen nach Anzeichen der unbedingt in den nächsten Sekunden hervorbrechen müssenden Ironie. Aber da kam nichts, da war nichts, er meinte den Satz mit dem Ernst des Lebens vollkommen ernst, diese Lehrstelle auf einem bernischen Schweinemastbetrieb ist für ihn tatsächlich die letzte Chance, noch einmal etwas anderes zu erleben, ehe er, für den Rest seines Lebens, auf dem elterlichen Hof Schweine mästen und hin und wieder mit den anderen Mitgliedern der freiwilligen Feuerwehr einen kurzweiligen Abend verbringen wird.

Am liebsten hätte ich ihn heute mitgenommen, damit er, ehe der Ernst des Lebens beginnt, noch die Dala-Schlucht oder eine Lesung von Gospodinov erlebt, aber damit wüsste er wahrscheinlich nichts anzufangen, nothing runs like a deer, und wenn fünf Meter hinter Deinem Schlafzimmer vierhundertfünfzig Mastschweine leben, hast Du andere Sorgen, als der Dala beim Rauschen zuzuhören. Das nächste Mal, wenn Sie im Supermarkt Schweinefleisch kaufen, können Sie also an Stefan denken, an Stefan aus Unter- oder Oberstaffelbach, ich weiss es nicht, aber ich bin sicher, er trägt seine schöne Feuerwehrhose nur, wenn es nicht brennt.

Noch immer aber versuche ich, dieses Urban Cowboy zu verstehen. Um meinen Blick zu wenden, um die Worte von ihren Stühlen zu bitten und sie im Kopfstand vor mir zu haben, stelle ich mir ein Auto vor, das mitten in Bern geparkt steht und auf dem rural officeboy zu lesen ist. Das müsste, weil doppelt entgegenstehend, semantisch wieder dasselbe sein.
Ich nehme also an: Der urban cowboy lebt ein städtisch geprägtes Leben, er kennt die PIN seiner Kreditkarte, weiss, wann welche Ampel auf Grün schaltet, hat aber nicht vergessen, wo, wenn es um eine Kuh geht, vorne und hinten ist. Beim rural officeboy verhält sich das ähnlich: Er kümmert sich zwar jetzt um Software, weiss aber noch immer, wie weich der Fladen einer Kuh ausschaut, deren Darmflora gesund ist. Wieso aber erwartet der Mensch, der diesen Wagen beschriften liess, von den Worten urban cowboy so selbstsicher aus seiner Mitwelt nur positive Reaktionen? Wieso hat er nicht in Betracht gezogen, seine Inhalte in der deutschen Sprache zu transportieren? Städtisch geprägter Agrarpraktiker – wäre das nicht bestrickend?

Es ist anzunehmen, dass es noch andere Dörfer gibt, in welchen solche Autos stehen. Vielleicht zählen sogar Unter- und Oberstaffelbach dazu. Unnütz, in die Dörfer zu blicken, wenn man sieht, was in den Städten passiert? Würden die Menschen, die auf dem Dorf wohnen, nicht dauernd unsere Abstimmungen gewinnen, könnte man zu Recht monieren, es sei hinfällig, über sie zu schreiben.
Um eine Übersicht über das Dorfleben in der Schweiz zu gewinnen, stelle ich mir gerne Landeskarten vor, thematisch koloriert: Verschiedene Farben kennzeichnen durch die Jahre hindurch die verschiedensten kulturellen Einflüsse und machen sichtbar, bis wohin welche Einflüsse haben vordringen können.
Dort, wo Pfaffwil eingetragen ist, sind nicht besonders viele Farben zu finden. Es gibt dort Internet-Anschlüsse, fast so viele wie in den Städten auch, aber das Internet ist bloss ein Kanal, über den Transport von Inhalten, über die Verbreitung von Einsichten sagt das nichts aus. So fühlen sich Pfaffwil und seine Nachbardörfer, die Karte belegt es, seit Winnetou und Old Shatterhand mit Faust und Flinte für Gerechtigkeit gesorgt haben, dem so genannten Wilden Westen kulturell sehr viel näher als zum Beispiel Zürich. Von Brüssel gar nicht zu sprechen. Country music klingt eben auch viel besser als Ländler. Und während die Berliner gegenwärtig von den Koreanern und deren Restaurants schwärmen, sind die Dörfler freilich nicht auf Fremde angewiesen, um ihren Saloon zu betreiben. Man muss nur einen alten Revolver, ein paar Dollar-Noten und ein Bild von einer Harley-Davidson über den Tresen hängen, und alles ist klar. Nach den Abenteuern Winnetous, von denen Pfaffwil nachhaltig beeinflusst wurde, blieb das Dorf lange ohne kulturellen oder mentalitätsgeschichtlichen Wandel. Das änderte sich erst, als der Autohersteller Subaru sich entschied, von einem ihrer Modelle werbewirksam zu behaupten, es sei speziell für die Schweiz entwickelt worden. Bald fuhren so viele Dörfler einen Subaru, dass sich unterbewusst der Glaube etablierte, es handle sich um ein einheimisches Fahrzeug. Das war in den 80er-Jahren. Seither hat sich in diesen Dörfern, einmal abgesehen von der Umstellung auf den verkapselten Kaffee, nichts geändert.
Nein, stimmt nicht ganz: In einigen Dörfern, so die Karte, hat sich noch die Einsicht verankert, dass es sich, wie Bundesrat Adolf Ogi einst im Fernsehen darlegte, lohnt, einen Deckel auf die Pfanne zu legen, wenn man ein Ei kocht.
Fassen wir zusammen: Drei wesentliche kulturelle Einflüsse in fünf Jahrzehnten – das kann nicht erstaunen, denn Bescheidenheit war hier schon immer ein überlebenswichtiger Charakterzug. Daran wird sich offenbar auch demnächst nicht viel ändern, denn die Dorfjugend bleibt dem Motorrad treu und will nichts wissen von den E-Bikes; an einer Batterie gibt es schliesslich nichts zu frisieren!

Nothing runs like a democracy: Zum Glück hört, denke ich jetzt, zum Glück hört der Ernst des Lebens mit dem Witz des Sterbens auf, und ehe das eintritt, soll noch jede und jeder Gelegenheit haben, kluge und wichtige, womöglich identitätsstützende Worte auf Autotüren zu schreiben.

Urs Mannhart hat als Velokurier, Nachtwächter, Journalist und in der Landwirtschaft gearbeitet. 2004 erschien sein Erstling »Luchs«, 2006 dann »Die Anomalie des geomagnetischen Feldes südöstlich von Domodossola«. Als Reporter berichtet Mannhart aus Ungarn, Serbien, Kosovo, Rumänien, Russland, Weißrussland und der Ukraine. »Bergsteigen im Flachland« ist sein dritter Roman, für den er 2016 mit dem Conrad Ferdinand Meyer-Preis ausgezeichnet wurde.

Kathy Zarnegin «Chaya», weissbooks, ein Interview am Literaturfestival Leukerbad

Am Literaturfestival in Leukerbad traf ich im Garten des Thermenhotels die Schriftstellerin Kathy Zarnegin, die mit «Chaya» einen wunderbaren Roman über eine junge Frau schrieb, die sich anschickt, die deutsche Sprache, die Dichtung zu erobern. Ein Buch voller Sprachlust, Witz und Ironie.

Seit 20 Jahren veröffentlichen Sie Texte; Essays, wissenschaftliche Texte, Lyrik und dieses Jahr Ihren ersten Roman «Chaya» bei weissbooks. «Chaya» ist die Geschichte eines Mädchens, das vom Iran in die Schweiz geschickt wird. Aus einem Land der Revolution in die ruhige, satte Schweiz. Sie sind auch Psychoanalytikerin mit eigener Praxis. Wofür schlägt Ihr Innerstes, Ihr Herz? Schaffen Sie es, alles miteinander zu verbinden? Ich schreibe schon viel länger als 20 Jahre, wie Chaya seit meiner Kindheit. «Chaya» ist auch nicht mein erster Roman, aber der erste, der veröffentlicht wurde. Bei allem, was ich tue, geht es um Sprache, um die Arbeit mit und an der Sprache. Und darum, was Effekte der Sprache mit uns anstellen, in uns bewirken, selbst in der Psychoanalyse. Was macht Sprache mit uns und was machen wir mit Sprache.

Chaya lernt Deutsch als junge Frau, taucht ein in eine neue, ganz andere Welt der Laute und des Sprechens. Nicht nur in ihrem Roman, sondern auch in ihren Gedichten spüre ich die Lust am Klang, an der Musik, am Sound von Worten, Zeilen und Texten. Die eigentliche Bedeutung, die Aussage scheint in der Lyrik nebensächlich zu werden. Sprache soll mehr als bloss Inhalt transportieren. Aber die Psychoanalytikerin legt das Gewicht doch in die Bedeutung. In der Psychoanalyse spielt die Bedeutung eine grosse Rolle. Aber viel mehr, was diese Bedeutungen «intravenös» bewirken. Man hört auch in der Psychoanalyse nicht nur auf die Bedeutung. Der Klang spielt eine wichtige Rolle, die Färbung, der Ton. In meinem literarischen Schreiben fühle ich mich als altmodische Person. Als jemanden, der auf Rhythmus und Klang reagiert und damit zu wirken versucht. Auch im Leben von Chaya, in der Suche nach Liebe und einem Zuhause, spielt der Klang, der Sound eine wichtige Bedeutung. Die Suche nach Rhythmus, Klang und Musik war mir auch wichtig beim Schreiben meines Romans, wenn auch weniger zentral wie in meinen Gedichten. Bei Romanen ist es selten die Geschichte, viel mehr der Sound, der eine Resonanz erzeugt, der LeserInnen am Lesen bleiben lässt.

In Ihrem Roman schildern Sie Gegensätze. Das farbige Leben im Iran vor der Revolution, die ledige Tante Farah, der Leuchtturm in Chayas Kindheit, der Gegenpol zur strengen und verschlossenen Mutter, den umtriebigen Vater und die leidenschaftliche Lektüre von 1001 Nacht. Und dann wird Chaya in die unterkühlte Schweiz verpflanzt, aus ihrer Sprache herausgerissen. Das Leben ist etwas Buntes mit vielen Schattenseiten. Je genauer ein Mensch zu- und hinhört, je aufmerksamer er ist, desto stärker nimmt er Gegensätze wahr. So unterschiedlich die Welten im Iran und in der Schweiz sind, im Leben von Chaya gab es eine Konsequenz, die Konsequenz wegzugehen, in eine fremde Welt hineinzuspringen.

Ein Unterschied zwischen Europa und dem Orient, erklärt ihr Roman, ist das Verhältnis zur Zeit. Hast gehöre nicht in die Welt des Orients. Stimmt das immer noch? Ich bin keine Orientexpertin. Ich schreibe aus der Erinnerung und aus Sehnsüchten. In meiner Orientwahrnehmung nimmt man sich mehr Zeit füreinander, Zeit für Menschen, für die Familie. Bei uns in Europa herrscht das Diktat der Arbeit. Der Roman «Chaya» entstand aus Geschichten aus dieser Arbeitswelt. So entstand auch die Idee einer Lyrikagentur. Wir leben in einer Gesellschaft, in der nicht nur das Empfinden, sondern die Gesundheit abhängig ist von ihrer Arbeit, ihrer Leistungsfähigkeit. Eine heikle und gefährliche Denkmentalität!

Chaya wird in Ihrem Roman zur Europanautin. «Sie entzog sich der Gravitation der Vergangenheit», schreiben Sie. Kann man das oder ist es bloss Wunschdenken oder Hoffnung? Natürlich glaube ich nicht, dass man seine Vergangenheit wie schmutzige Wäsche abstreifen kann. Man kann sich mit der Gegenwart arrangieren. Bei Chaya geht es immer um die Sprache, nur um die Sprache, wenn sie sich mit dem Abstreifen der Vergangenheit, dem Abstreifen der Muttersprache auseinandersetzt. Chaya zieht sich mit der neuen, fremden Sprache eine Uniform an.

Sie und Ihre Romanfigur Chaya verloren eine Sprache. Sie beide fanden in der Lyrik ein neues Zuhause, Chaya gar mit einer Gedichtagentur. Genügt Sprache als Heimat? Menschen sind unterschiedlich. Den einen genügt Musik oder Esskultur und es erzeugt Heimat, zumindest ein Heimatgefühl. Der Begriff Heimat ist ein Modewort und überstrapaziert. Wie viele Menschen hängen an kitschigen Vorstellungen von Heimat. Heimat ist eine Sehnsucht nach Orten, Menschen und Zuständen, die nicht einmal den Anspruch haben, realistisch sein zu müssen. Heimat ist die Erinnerung an Verbundenheit.

Chaya verliert mehrfach; die Sprache, die Vertrautheit, die Familie, die Mutter. Sie schreiben, Gedichte seien «Rezepte gegen die Traurigkeit». Ist das auch in Ihrem Leben so? Sprache und Sprechen ist ein Mittel gegen den Verlust. Und Verlust ist tief in der Literatur verankert. Literatur schafft Welten, neue Welten, Zustände und Figuren. Lyrik ist dabei viel komplexer, viel sprachbezogener und mit viel konkreterm und imaginärem Potenzial.

Mit dem Verlassen der Heimat und der «Ankunft» in der Schweiz gerät Chaya in ein «Dazwischen», nicht nur in ihrer Sprache. Dieses «Dazwischen» ist ein Ort des Schmerzes, ein Schmerz, der lähmen könnte. Chaya schafft den grossen Schritt aus diesem «Dazwischen». Millionen von Flüchtenden, Ausreisenden geraten in dieses «Dazwischen». Wann hört bei Chaya der Schmerz auf? Ob das «Dazwischen» je ganz aufhört, weiss ich nicht. Es kann für die Person aufhören, aber für die Umwelt noch lange nicht. Bevor ich meinen Roman «Chaya» veröffentlichte, interessierte man sich kaum für meine Herkunft. Und nun, mit einem Mal, setzt man mir diesen Stempel auf. Ich laufe nicht mit der Tafel «Ich bin eine Emigrantin» durchs Leben. Die Welt macht das mit mir. Bei Flüchtenden ist es noch ganz anders. Niemand verlässt seine Heimat freiwillig, wenn man der Gefahr und Unfreiheit entkommen ist. Und dann, im neuen Leben, kommt ein Leben, das mit diesen Menschen nicht zusammenpasst. Und rundum verlangt man von ihnen, dankbar und nun endlich glücklich zu sein. Sie leben mit dem permanenten Gefühl des Verlusts.

Chaya, die Europanautin, begegnet Männern, den unterschiedlichsten Männern. Männern mit Makeln, denen sie sich trotzdem auftut. Auch Männer sind unbekannte Territorien, manche bleiben fremd, andere werden vertraut. Wie gross war die Lust, das Chaya alles durchstehen zu lassen. Chaya ist eine energische Person, auch wenn sie sich als eine melancholische Orientalin bezeichnet. Wenn Lust da ist, bleibt sie, die Sprachlust, ihre Neugier. Auch in der Sprache der Erotik.

Wie sehr dominieren die Geschehnisse in und um ihr Herkunftsland ihr Leben, ihr Denken, ihr Schreiben, das Mädchen Chaya? Mit Chaya werde ich nun plötzlich reduziert auf meine Herkunft. Aber man kann viele «Herkünfte» haben. Meine Herkunft liegt in meiner geistigen Welt. Im Zusammenhang mit Chaya werde ich nie über meine wirkliche Herkunft befragt; die deutsche Literatur und die deutsche Philosophie. Das ist mein Koordinatensystem, das mein emotionales und geistiges Leben formte. Es sind Vorurteile und Bequemlichkeiten. Man sucht einen Aufhänger, eine Schublade. Man verkauft es leichter und besser.

Kathy Zarnegin, vielen Dank für das Interview und das wunderbare und fesselnde Buch, dass Sie uns Leserinnen und Leser geschenkt haben.

Kathy Zarnegin wurde in Teheran geboren und kam mit 15 Jahren in die Schweiz. Sie ist Lyrikerin, Essayistin, Übersetzerin aus dem Persischen, Philosophin und promovierte Literaturwissenschaftlerin. Sie ist Mitbegründerin des Lacan Seminar Zürich und Mitorganisatorin des Internationalen Lyrikfestivals Basel. Ihre Lyrikveröffentlichungen hiessen «Tierische Träume» (1998), «Buchstäblich traurig» (2004) und «SaitenSprünge» (2006). «Chaya» ist ihr erster Roman.

Webseite der Autorin 

Drei Perlen aus dem 22. Literaturfestival Leukerbad

Die Literatur riss in Leukerbad den Himmel auf!

Literaturfestival Leukerbad, ein literarisches Gipfeltreffen inmitten der Walliser Steilwände und Felszähne. 3’800 Eintritte während drei Tagen! Das Programm aus Lesungen und der «Perspektiven»-Gesprächsreihe war dicht und sehr international: Aus Europa, Asien, Nord- und Südamerika reisten 37 Autoren und Protagonisten ins Bäderdorf.

Liao Yiwu, einer der bedeutendsten chinesischen Avantgarde-Dichter, 1987 in politische Ungnade gefallen, veruteilt, für Jahre ins Gefängnis gesteckt, gefoltert und von seiner Frau zwangsgeschieden, weil die Familie nichts mehr von ihm wissen wollte, spielte Tsiao, eine chinesische Flöte. Ein Instrument, das er während seiner Haft von einem ebenfalls eingesperrten Mönch erlernte. Er spielte, sang und las aus seinem neuen und ersten Roman «Die Wiedergeburt der Ameisen», in dem er die Geschichte seiner Familie mit der seines Heimatlandes verknüpft, das ihn verstossen hat. Er, der kaum je wieder einen Fuss in sein Heimatland setzen wird, las, während auf dem Platz draussen chinesische Touristen vorbeiflanieren.
Robert Menasse, der grosse Europäer, der sich nicht scheut, bei einer Rede an das Europäische Parlament den Anwesenden die Leviten zu lesen und man gespannt auf seinen im September erscheinenden grossen Roman «Die Hauptstadt» wartet. Er bannt mit seinem Erzählen über Europa, während die Pizza im Dorf von Ukrainerinnen serviert wird.
Oder der irakisch-kurdische Schriftsteller und Dichter Bachtyar Ali, der 20 Jahre unentdeckt in Deutschland lebte und in seinem Roman «Der letzte Granatapfel» die gefährliche Reise auf einem Flüchtlingsboot übers Mittelmeer erzählt, eine bildgewaltige Parabel über Unterdrückung und Bruderzwist. Abends dann geniesst man im Restaurant mit Aussicht mediterrane Küche. International – auf jeden Fall.

Drei ganz besondere Perlen möchte ich vorstellen. Drei Bücher, eine Autorin und zwei Autoren, die es zu entdecken gilt, wenn man nicht längst auf sie gestossen ist:

100 Jahre Geschichte eines Landes, das kaum je in den Fokus Europas gerät. Ein Epos über die Folgen der Teilung der koreanischen Halbinsel, eine Spionagegeschichte und gleichzeitig ein politischer und historischer Roman multipliziert mit einer ménage à trois, die zwischen die Fronten gerät. Ein Roman mit gewaltiger und überzeugender Sogkraft. Ein Soziogramm der Lügen und Illusionen. Anna Kim ist in Südkorea geboren, dort aber weder zuhause noch beheimatet. Erstaunlich genug, dass sie immer und immer wieder als Südkoreanerin genannt wird, obwohl sie sich dezidiert gegen eine verortete Heimat ausspricht. Trotzdem beschäftigt sich die Autorin mit der Geschichte ihres Herkunftslandes, den Auswüchsen des kalten Krieges in Südostasien im Willen, diesen Konflikt zu verstehen. «Wie schreibe ich über Vergangenes und Geschichte? Reine Beschreibung reicht mir nicht aus, auch wenn ich mit Recherche tief ins Geschehen eingedrungen bin.» Eine mitreissende Geschichte um Freundschaft, Loyalität, Verrat und das unmögliche Leben in der Diktatur.

Georgi Gospodinov ist der grosse Autor der bulgarischen Literatur. Sein viertes bei Droschl auf deutsch erschienene Buch ist eine Sammlung von Erzählungen. «8 Minuten und 19 Sekunden», die Erzählung die dem Buch den Titel gibt, dauert es, bis das Licht von der Sonne die Erde trifft. Genau so viel Zeit, wie Gerogi Gospodinov dem Leser der Geschichte einräumt, um sich mit seinen gleichsam spielerischen wie apokalyptischen Spielereien auseinanderzusetzen. Vielleicht ein Markenzeichen des Autors, der sich gerne der Faszination der Apokalypse hingibt, ohne literarisch der in Mode geratenen Dystopie zu verfallen. Seine Geschichten entspringen einer Mischung aus Melancholie und Humor, Absurdem und den Erfahrungen aus der bulgarischen Diktatur. Georgi Gospodinov verknüpft Wahrnehmungen, Empfindungen auf seine ganz eigene Art. Für mich eine grosse Entdeckung und ein Versprechen: Höchster Lesegenuss!

John Wray. Ein durch und durch amerikanischer Autor, der 2007 vom Literaturmagazin «Granta» unter die 20 besten jungen US-Autoren gewählt wurde. Aber er spricht deutsch und wird in diesem Sommer in der Arena des Bachmann-Preisschreibens in Klagenfurt mit einem deutschen Text antreten. Ein Amerikaner mit österreichischen Wurzeln und kärntner Akzent. So verzwickt seine Herkunft, so verzahnt sein Roman; eine historisch eingebettete Familiengeschichte über ein ganzes Jahrhundert, wissenschaftliche Einsprengsel über Physik und die Produktion eingelegter Gurken bis hin zum bewusst «schlechten» Science- Fiction und kruden, sektiererischen Verschwörungstheorien. Ein Erzähler, der sich in einer Zeitblase wiederfindet, in der Wohnung seiner schrägen Zwillingstanten, die Tonnen von Zeitungen und anderem Strandgut sammeln. Grotesk, skurril und kompliziert, aber nie unübersichtlich, wabernd in einem natürlichen Chaos, mit Absicht weit weg aller unnatürlichen Chronologie. Ein Buch, dem ich den Spass des Autors auf jeder Seite «anhöre». John Wray, ein ausserordentlich begnadeter Geschichtenerzähler mit cineastischem Blick und liebevollem, schrulligem Witz. Und wenn er liest, wünscht man dem fabulierenden Erzähler, dass die Verpflichtung des Vorlesens nie endet würde.

Wie jedes Jahr war das Literaturfestival Leukerbad ein Ort der Begegnungen. Nicht nur mit Büchern, mit Literatur, mit Lyrik und Romanen, sondern in faszinierenden Gesprächen, solchen auf der Bühne, solchen unterwegs und den vielen vor Ort. Ganz besonders freute ich mich über die Gelegenheit, ein Interview mit der Schriftstellerin Kathy Zarnegin zu führen, über ihren gelungenen Roman «Chaya». In drei Tagen auf literaturblatt.ch!