„Wir verstehen nicht, was geschieht» – eine Reise in einen sowjetischen Gulag

Seit in Europa mit Bomben beladene Drohnen Wohnhäuser zerreissen, Panzer Radfahrer beschiessen und ein unüberwindbarer Graben zwischen Europa und Russland gähnt, ist das Interesse vieler, verstehen zu wollen, gross. Vielleicht auch ein Grund, warum das Interesse am Schriftsteller und Historiker Viktor Funk so gross war.

«Wir haben uns lange auf den Besuch in Gottlieben gefreut, und ihr habt uns mit eurer Gastfreundschaft gezeigt, dass unsere Vorfreude gerechtfertigt war. Danke für Deine sehr empathische und herzliche Moderation, Gallus, danke an Sandra für die Bilder und auch an das Publikum für alle die Aufmerksamkeit und die Neugierde. Und danke auch, dass wir dank euch Gottlieben kennengelernt haben.» Viktor Funk

Wir leben in beängstigen Zeiten. Hätten wir uns vor 13 Monaten vorstellen können, was in Europa geschieht? Viktor Funk kam 1978 in Kasachstan, einer ehemaligen Sowjetrepublik zur Welt und zusammen mit seiner Familie als Zwölfjähriger nach Deutschland. Wenn man auf seiner Webseite liest, muss das für jenen Viktor damals mehr als nur eine schwierige Zeit gewesen sein. Trotzdem gelang es ihm, Geschichte zu studieren und mit einer Magisterarbeit über den Vergleich von mündlicher und schriftlicher Erinnerungen von Gulag-Überlebenden abzuschliessen.

2017 debütierte Viktor Funk in der Literatur mit seinem Roman „Bienenstich“, eben genau mit jenen Krisen junger MigrantInnen, die sich überall abspielen, seit dem von Russland angezettelten Krieg millionenfach, bis vor unsere Haustüren. 
Seit 2006 ist Viktor Funk Redakteur bei der Frankfurter Rundschau im Ressort Politik, schreibt aber nicht nur dort, sondern engagiert, intensiv und emphatisch Romane, die aktueller nicht sein könnten.
Als ich seinen aktuellen Roman „Wir verstehen nicht, was geschieht“ vor ein paar Monaten zu lesen begann, wusste ich schon während der ersten Seiten, dass ich darüber schreiben musste und am Ende der Lektüre, dass ich es versuchen musste, den Schriftsteller in die Schweiz, nach Gottlieben einzuladen. Dass Viktor Funk die Einladung annahm, freute mich ungemein.

In den Konzentrationslagern der Sowjetzeit starben über 4 Millionen Menschen an Erschöpfung, Krankheiten, Unterernährung oder den Folgen sadistischer Strafen. Es ist nicht anzunehmen, dass im Nachfolgestaat Russland die Gulags zu Geschichte wurden. „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist aber nicht einfach ein Versuch des Wachrüttelns und schon gar kein Vorwurf an ein träges Westeuropa, das sich neben all dem gegenwärtigen Schrecken nicht auch noch mit jenem in der Vergangenheit beschäftigen möchte.

Viktor Funk hat sich ganz intensiv mit mündlichen und schriftlichen Erinnerungen von Gulag-Überlebenden beschäftigt und stiess dabei auf die Geschichte des Physikers Lew Mischenko und seine Frau Svetlana.
Lev und Svetlana sind keine Fiktion. Genauso wie Petschora, der Gulag, in den man Lev nach seiner Zeit im KZ Buchenwald schickte. „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist der Versuch des Autors selbst zu verstehen; Wie kann man die Jahre in einem Gulag überstehen? Und wie schaffte es ein Mann wie Lev nicht daran zu zerbrechen?

Zentrales Element im Buch und im Überlebenskampf sind die Briefe zwischen Lev und Svetlana. Es gibt viele Gründe, warum Lev die Zeit im Gulag überlebte; sein Glück ein Techniker, ein Physiker zu sein, seine Freundschaften – aber mit Sicherheit diese Liebe zu seiner Frau.

Der Roman ist die Geschichte einer Reise; einer Reise mit dem Zug nach Petschora Richtung Sibirien, eine Reise in die Vergangenheit und eine Reise in die Tiefen eines Lebens. Viktor Funk hat Lev dort zurückgelassen, mit diesem Buch aber eigentlich wieder mitgenommen. 

Vielen Dank für den wichtigen Abend!

Rezension zu «Wir verstehen nicht, was passiert» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Sandra Kottonau

Viktor Funk «Wir verstehen nicht, was geschieht», Verbrecher

Der Physiker Lew Mischenko wird während der Stalin-Ära für 14 Jahre in einen  sowjetrussischen Gulag verbannt, ein Straf- und Arbeitslager im kalten Norden Russlands, weg von seiner Frau, weg von seinem Leben. Jahrzehnte später fährt Lew zusammen mit dem Historiker Alexander noch einmal mit dem Zug an den Ort verlorenen Lebens.

In sowjetrussischen Gulags starben über 4 Millionen Menschen an Erschöpfung, Krankheiten, Unterernährung oder den Folgen sadistischer Strafen. Bereits in den 70ern machte Alexander Solschenizyn mit Büchern auf das permanente Massaker in diesen Lagern aufmerksam. Was Stalin als Notwendigkeit in seinem Machtapparat zur Waffe gegen das eigene Volk machte, ist bis heute eine offene Wunde in der gemarterten russischen Seele. Obwohl „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ und später „Archipel Gulag“ vom Alexander Solschenizyn millionenfach gelesen wurden und der Autor nicht zuletzt für seinen Kampf gegen Unrecht 1970 den Nobelpreis bekam, ist die Tatsache, dass ein ganzes Volk im tödlichen Würgegriff eines totalitären Machtapparats war, fast vergessen. Was in der Gegenwart passiert, müsste deutlich genug sein, dass Staaten, die sich eine einzig richtige Farbe auf ihr Banner schreiben, noch immer alle nach dem gleichen Prinzip funktionieren. Folge davon war nicht zuletzt die faktische Auflösung der Menschenrechtsorganisation Memorial Ende 2021. Das Nicht-Erinnern-Wollen wird zur staatlichen Maxime. Und wenn man sich erinnern will, dann an ein geschöntes, verklärtes Zerrbild der Vergangenheit.
Nicht nur in Russland, auch in vielen anderen Staaten, nimmt man Menschen wegen Nichtigkeiten ihre Freiheit, reagiert man mit aller Härte gegen nicht uniformiertes Tun und Denken.

Lew, Tochter Anastasija (stehend), Swetlana und der Hund Primus. (Bild: Viktor Funk)

Der Schriftsteller Viktor Funk ist Historiker mit sowjetrussischen Wurzeln. In „Wir verstehen nicht, was geschieht“ erzählt der Autor die Geschichte des Physikers Lew Mischenko, den er in Moskau besucht. Lew ist alt und wohnt mit seinem ebenfalls alt gewordenen Hund allein in einer kleinen Wohnung. Seine Frau Swetlana, mit der er fast sein ganzes Leben teilte, wenn auch über ein Jahrzehnt unfreiwillig über tausende von Kilometern voneinander getrennt, musste Lew zu Grabe tragen. Was ihm geblieben ist, sind seine Erinnerungen, Swetlanas Briefe, ein paar zerfledderte Bücher aus seiner Zeit im Lager – und der Hund. Im Roman heisst der Historiker Alexander. Wohl darum, um dem Erzählen jene Distanz geben zu können, um sich nicht in Emotionen zu verlieren. 

Viktor Funk «Wir verstehen nicht, was passiert», Verbrecher, 2022, 156 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-95732-536-5

Alexander will jene Menschen interviewen, die den Gulag überlebten. Was gab jenen Menschen, die über Jahre und Jahrzehnte in diesen Lagern aller Menschenwürde beraubt wurden, Hoffnung? Was gab ihnen Kraft, den inneren Kampf aufzunehmen? Wie konnte eine Liebe wie jene zwischen Lew im Lager und seiner Frau Swetlana in Moskau die Zeit der ungewissen Trennung überstehen? Wie kann ein Leben danach funktionieren? Lew empfängt den Historiker in seiner Wohnung, beginnt zu erzählen, etwas, das vielen mit einer Gulag-Vergangenheit auch nach Jahrzehnten schwer fällt.

Doch während der Tage in Moskau bittet Lew den jungen Historiker, ihn nach Petschora zu begleiten, eine Reise zu unternehmen an jenen Ort, der ihm ein grosses Stück seines Lebens nahm, auf eine Reise zurück in die Vergangenheit. Gleichsam überrumpelt wie neugierig geworden treten die beiden die lange Reise in den Norden mit dem Zug an, eine Reise weit weg und ganz nah, eine Reise durch die Gegenwart in die Vergangenheit, eine Reise an einen Ort, von dem Lew gar nie richtig weggekommen ist, eine Reise an einen Ort, an dem viele einen langsamen Tod erleiden mussten und der Physiker Lew nur deshalb überlebte, weil seine Fähigkeiten gefragt waren und Freundschaften hinter den Stacheldrähten ihn am Leben hielten.

„Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist der Reisebericht eines Historikers in eine eisig kalte Vergangenheit. „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist die Liebesgeschichte zwischen Swetlana und Lew, die allem trotzte. Und „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist die Geschichte einer zarten Freundschaft zwischen einem jungen suchenden Historiker und einem alten Physiker, der in seinem Leben gefunden hat, wonach andere ewig suchen. „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist unsäglich zärtlich geschrieben und von erschütternder Aktualität. Da versucht jemand zu verstehen, was geschieht, im Kleinen und im Grossen.

Das ehemalige Lagergefängnis des Petschor-Lager (Bild: Viktor Funk).

Viktor Funk, geboren 1978 in der Sowjetunion (Kasachstan), kam als Elfjähriger 1990 nach Deutschland. Er ging in Wolfsburg zur Schule, studierte später in Hannover Geschichte, Politik und Soziologie. Seine Magisterarbeit in Geschichte beschäftigte sich mit dem Vergleich mündlicher und schriftlicher Erinnerungen von Gulag-Überlebenden. Viktor Funk arbeitet als Politikredakteur mit dem Schwerpunkt Russland bei der Frankfurter Rundschau. Sein erster Roman «Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich» erschien 2017. Er lebt in Frankfurt am Main.

Webseite des Autors

Illustration © leafrei.com

Januar bis April 2023 – das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

«Das schöne Gottlieben und eure liebe Gesellschaft geht mir nicht aus dem Kopf – überall schwärme ich davon.» Norbert Scheuer

«Danke für Wortraum und Seewind und Weitsicht und Wein, danke fürs Klangexperiment und einen Ort zum Wiederkehren. Schönste Bühne weitumher.» Simone Lappert

«Besonders schön war es, im Bodmanhaus aus dem Buch zu lesen, das zu guten Teilen auch dort entstanden war. Geschrieben im leeren Haus, vorgelesen vor vollen Rängen, vor Menschen, die seit langer Zeit wieder einmal ihre Gesichter zeigen durften.» Peter Stamm

Literaturhaus Thurgau