Alain Claude Sulzer las aus «Doppelleben» im Literaturhaus Thurgau

Alain Claude Sulzers Roman «Doppelleben» ist ein vielschichtiges Porträt dreier Personen, die gefangen in ihrer Zeit, die Polkappen der Pariser Gesellschaft im 19. Jahrhundert ausmachten; die Brüder Edmond und Jules Goncourt, damals ein Dreh- und Angelpunkt der Pariser Kultur – und ihre Dienstmagd Rose, eine Existenz zwischen Ergebenheit und Selbstaufgabe.

«Doppeldank an Cornelia Mechler und Gallus Frei für Vorbereitung und Zubereitung, für die Sorge um mein leibliches Wohl und den barocken Schlafplatz mit Blick auf Wasser und Schwäne. Auftreten ist das eine, gut schlafen das andere. Beides hat perfekt geklappt. Danke an die ganze Equipe in Gottlieben, wo ich stets Udo Jürgens› und Lisa della Casas gedenke.»
Alain Claude Sulzer 
 

1998 begann meine Liebe zu Alain Claude Sulzers literarischem Werk, mit einem Schlag und unauslöschlich. Damals las ich seinen Roman «Urmein», der im Schloss eines italienischen Grafen im bündnerischen Urmein spielt. Ein Roman über eine wilde, bunte und bisweilen schräge Gesellschaft, die sich in den Jahren vor und während des 1. Weltkriegs im fiktiven Schloss des Adeligen trifft. Ein Roman, der wie viele Bücher Alain Claude Sulzers das gesellschaftliche und politische Leben der jeweiligen Zeit spiegelt und illustriert.
Später las ich auch die früheren Werke und fast alle, die auf «Urmein» folgten – und mit aller Selbstverständlichkeit und dem grössten Lesevergnügen seinen neusten Roman «Doppelleben».

Alain Claude Sulzer hat zweieinhalb Jahre am Roman geschrieben, nachdem er sich schon lange ausgibig sowohl in das Werk der Goncourts und die Zeit, in der die Brüder und ihre Dienstmagd lebten, vertiefte. Edmond und Jules Goncourt lebten wie siamesische Zwillinge, taten alles gemeinsam, und als Jules langsam an Syphilis erkrankte, immer stärker an den Symptomen litt und nicht nur die Fähigkeit zu sprechen verlor, sondern auch die des Schreibens, wurden die drohenden Veränderungen für den älteren Edmond immer existenzieller.
Zum einen lebt Sulzers Roman von den Schilderungen dieses Sterbens, zum andern vom Sterben ihrer Dienstmagd Rose, einer Frau und Angestellten, auf die sich die beiden Brüder ganz und gar verliessen, die das Leben der Brüder erst ermöglichte. Einer Frau, die sich in ihren beinahe nymphomanischen Anwandlungen in einen unnahbaren Mann verliebte, ihr Erspartes und mehr verlor, schwanger wurde und das Kind verlieren musste. Ein Leben im Verborgenen. Ein Leben, von dem die Brüder nichts wussten oder nichts wissen wollten.

Es habe ihn das Gegensätzliche interessiert, das Leben eines Bruderpaars, das gemeinsam Bücher schrieb, die langsamen Katastrophen, sowohl jene der Goncours wie jene ihrer Dienstmagd Rose, erklärte der Autor. Alain Claude Sulzers Roman, der nicht nur seinen Protagonisten nahe kommt, auch ihrem Tun, ihrem Wirken, ihrem Leiden, ist ein beeindruckendes Fenster in eine Zeit, in der die Stadt Paris absolute Kulturmetropole der westlichen Hemisphäre war.

Rezension von «Doppelleben» auf literaturblatt.ch

Alain Claude Sulzer «Doppelleben», Galiani

«Doppelleben» ist ein Doppelroman. Zum einen über das Brüderpaar Edmond und Jules Goncourt, die im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle in der Kulturmetropole Paris spielten, aber auch ein Roman über ihre Magd Rose, der sie nach ihrem Tod mit dem Roman „Germinie Lacerteux“ ein Denkmal setzten.

Wer liest, kennt den Prix Goncourt. Ein Preis, der seit 1903 vergeben wird und trotz des nur noch symbolischen Preisgeldes als Preis mit grosser Wirkung entgegengenommen wird. Edmond de Goncourt, der ältere der beiden Goncourt-Brüder initiierte den Preis in seinem Testament durch die Gründung einer Akademie und einer Stiftung. Edmond und sein acht Jahre jüngerer Bruder Jules verfassten als Brüderpaar Romane und Biographien und waren schon zu Lebzeiten Dreh- und Angelpunkt französischer Kultur. Sie hätten wohl durchaus auch das Zeug gehabt, sich der Malerei zuzuwenden. Aber irgendwann, noch im Elternhaus und wohlbehütet in wirtschaftlicher Sicherheit, von Bediensteten umsorgt, wendeten sich die beiden als Tandem der Literatur zu.

Alain Claude Sulzer erzählt vom damals sehr urbanen und selbstbewussten Leben eines Bruderpaars, dass sich mit grossem Selbstverständnis nicht nur in der damaligen Kulturszene, sondern auch in der politischen Upper Class bewegte. Aber das Paar, das sich wie ein Zwillingspaar gebärdete, stets gemeinsam unter dem gleichen Dach lebte und auch gegen aussen als „Einheit“ auftrat, dass sehr gut vernetzt war, hatte gegen Feinde zu kämpfen, die unsichtbar blieben. 

Eine der grossen Plagen der damaligen Zeit war Syphilis, eine ansteckende Geschlechtskrankheit, die bis zur Entdeckung von Penizillin unheilbar war. Jules, der jüngere der beiden Goncourt-Brüder, litt an dieser Krankheit, ohne dass sich die beiden Brüder den immer schlimmer werdenden Symptomen entgegenstellen wollten. Ein Wesenszug, der im Roman von Alain Claude Sulzer symptomatisch für die Zeit, die Gesellschaftsschicht und das moralische Verständnis jener Zeit war. Leben war das Resultat einer Idee. Schriftstellerei „göttliche“ Berufung und Selbstverständlichkeit. Dass das Unternehmen Goncourt nicht ohne Beihilfe funktionieren könnte, übersah man geflissentlich. Auch die Tatsache, dass jene, die unter dem Dach der Schriftstellerbrüder das Schiff auf Kurs hielten als blosses Mobiliar wahrgenommen wurden.

Alain Claude Sulzer «Doppelleben», Galiani, 2022, 304 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-86971-249-9

Alain Claude Sulzer spiegelt die Geschichte der Brüder Goncourt mit dem stillen Leben ihrer Bediensteten. Während die Brüder ihr Dasein als Künstler zelebrieren, sich mit den Wichtigen ihrer Zeit treffen, rauschende Feste feiern und die Exklusivität ihres Daseins als Normalität und Notwendigkeit hinnehmen, arbeiten Bedienstete fast rund um die Uhr im Dienst der Reichen und Privilegierten. Eine dieser Stillen war ihre Magd Rose, die unbemerkt von den Brüdern ein „Doppelleben“ führte. 

Rose, die Haushälterin, die zwar eine schlechte Köchin ist, was man angesichts ihrer Ergebenheit, Diskretion und Zuverlässigkeit über all die Jahre in Kauf nimmt, führt im Haus der Brüder ein unauffälliges Leben, scheinbar ohne Wünsche. Aber dem ist nicht so. Sie verzehrt sich nach Liebe, nach Wärme, will nichts mehr als eine Familie. Von der Liebe immer wieder enttäuscht lernt sie in ihrer Nachbarschaft einen jungen Schuster kennen, verliebt sich und stürzt sich in ein gnadenloses Abhängigkeitsverhältnis, das die Unglückliche an den Rand des Ruins bringt. Ein Unglück allein scheint nicht genug. Rose wird mehrfach schwanger. Aber keines dieser Kinder überlebt. Das, wovon Rose träumt, bleibt ihr verwehrt. Nicht einmal die Schwangerschaften bemerken Edmond und Jules. Die beiden sind zu sehr mit ihrem eigenen Kampf beschäftigt. Aber als Rose sich immer weiter in einer Spirale aus Schulden, Krankheit, Alkohol verliert und stirbt, reiben sich die beiden die Augen und versuchen sich durch einen Roman über eine junge Frau wie Rose ihrer Schuld freizuschreiben. 

Dieser Roman „Germinie Lacerteux“ erschien 1865, 5 Jahre vor dem Tod des jüngeren Bruders Jules. Ein Roman, der in der Literaturgeschichte als Schlüsselroman bezeichnet werden kann, weil zum ersten Mal eine Frau aus unteren Gesellschaftsschichten zur tragenden Protagonisten wird.

„Doppelleben“ ist ein packend geschriebenes Sittengemälde, nicht zuletzt über das Leben in der absoluten Kulturmetropole Europas. Die Spiegelung zweier Existenzen, jener der Brüder Goncourt und der Magd Rose. Letztlich müssen sich beide dem Leben geschlagen geben. Man lebt auf engstem Raum zusammen und berührt sich nie. Alain Claude Sulzer zeichnet genau und mit grosser Geste, hält sich nahe an die Tagebüchern der Brüder Goncourt und schreibt doch in seinem ganz eigenen Stil das erschütternde Doppelporträt zweier völlig gegensätzlich eingebetteter Existenzen. „Doppelleben“ beschreibt einen kurzen Moment des Erwachens einer Gesellschaft, die fast ein Jahrhundert nach der Französischen Revolution die Privilegien einer Oberklasse noch immer als absolute und unumstössliche Selbstverständlichkeit hinnimmt. Ein Erwachen, das bis in die Gegenwart reicht.

© Galiani

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. «Ein perfekter Kellner», «Zur falschen Zeit», «Aus den Fugen» und zuletzt «Unhaltbare Zustände». Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel

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Januar bis April 2023 – das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

«Das schöne Gottlieben und eure liebe Gesellschaft geht mir nicht aus dem Kopf – überall schwärme ich davon.» Norbert Scheuer

«Danke für Wortraum und Seewind und Weitsicht und Wein, danke fürs Klangexperiment und einen Ort zum Wiederkehren. Schönste Bühne weitumher.» Simone Lappert

«Besonders schön war es, im Bodmanhaus aus dem Buch zu lesen, das zu guten Teilen auch dort entstanden war. Geschrieben im leeren Haus, vorgelesen vor vollen Rängen, vor Menschen, die seit langer Zeit wieder einmal ihre Gesichter zeigen durften.» Peter Stamm

Literaturhaus Thurgau