«Literatur kann vieles näher bringen, nicht bloss ein mir fremdes Land»

Lieber Gallus

Ich war zwei Wochen im Land der Pharaonen unterwegs. Tief beeindruckt von den bis 4000 Jahre alten Kulturgüter, so gut erhalten und in frischen Farben und leuchtendem Gold zu bestaunen, habe ich die teils langen Fahrten durch die Wüsten genutzt, ägyptische Autoren zu lesen. Neben Nagib Machfus, dem ersten arabischen Literaturnobelpreisträger von 1988, las ich ein Buch von Wagiuh Ghali «Snooker in Kairo».

Waguhi Ghali «Snooker in Kairo», C. H. Beck, 2018, aus dem Englischen von Maria Hummitzsch, 256 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-406-71902-8

Es ist das einzige Buch dieses Autors aus Kairo, geschrieben bereits 1964, auf Deutsch erstmals erschienen 2018. Knapp 40jährig hat sich der Autor in der Wohnung seiner Lektorin und Freundin das Leben genommen. Im Kern seines Wesens war er überzeugt, keine Liebe verdient zu haben. So die Worte seiner Freundin.
Meines Erachtens ist ein Meisterwerk entstanden! Melancholie, Verzweiflung, Witz und Komik sind literarisch bestechend umgesetzt. Aus einer reichen koptischen Familie stammend, aber mausarm kämpft der Protagonist für ein weltoffenes Leben, blitzgescheit und hochsensibel, gefährdet durch Spielen in Snooker-Club und viel Alkoholgenuss. Die Liebe zu einer Jüdin der Oberschicht gibt ihm viel Kraft, er erlebt sie aber ambivalent und toxisch.

Sehr klug und authentisch geschrieben vor dem Hintergrund vom Ende der britischen Kolonisation und zur Zeit Präsident Nassers gibt es auch einen Einblick in die damalige desillusionierte Gesellschaft.

Für mich war es eine bereichernde Ergänzung und nachhaltige Vertiefung, die mir das Erlebnis der lauten, schmutzigen und überbevölkerten Städte Kairo und Alexandria ein klein wenig verständlicher zu machen schien.
Kann Literatur einem ein fremdes Land näher bringen? Täusche ich mich? Was denkst du darüber?

Mit bestem Gruss
Bär

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Lieber Bär

In einem Interview, das ich mit Iris Wolff über ihren Roman „Lichtungen“ führte, sagt sie: „Was Bücher auf einzigartige Weise können ist: Empathie erzeugen. Weil wir mit Büchern die Welt aus den Augen eines anderen Menschen sehen. Das gilt generell für Kunst: Wir weiten – für die Dauer eines Films, eines Buchs, eines Musikstücks – die Grenzen unseres fest gefügten Selbst und begreifen vielleicht, wie sehr alles miteinander verbunden ist.“ Kunst ist nicht nur für mich neben echter Bereitschaft zur Kommunikation zur einzigen Hoffnung geworden. Wie sonst sollte sonst das Verständnis dafür wachsen, dass wir nur eine einzige Welt zur Verfügung haben, dass es nicht das Privileg der gegenwärtigen BewohnerInnen sein kann, auf diesem Planeten wie Berserker zu wüten, ganz nach dem Prinzip „Nach mir die Sintflut“. Wie sonst sollte man dem Hass, all den Vorurteilen begegnen, die es scheinbar verunmöglichen, das Geschenk Erde miteinander zu teilen?

Juri Ritchëu «Traum im Polarnebel», Unionsverlag, 2005, aus dem Russischen von Arno Specht, 384 Seiten, CHF ca. 20.50, ISBN 978-3-293-20351-8

Ja, die Literatur kann mir ein Land, Menschen, eine mir fremde Kultur, eine mir fremde Religion näher bringen. Ich erinnere mich gut an die Bücher von Juri Rytchëu, eines tschuktschischen Schriftstellers, Sohn eines Jägers eines indigenen Volkes ganz im Norden Russlands. Ich tauchte regelrecht ein in eine Welt, die mir zuvor vollkommen unbekannt war, lernte, dass Russland aus viel mehr besteht, als aus dem, was ich zuvor wusste. Juri Rytchëu starb 2008 und scheute sich in seinen späten Jahren auch nicht, die Politik Russlands zu kritisieren. Ich lernte mit diesem Autor eine Kultur zu lieben, die mir viel Respekt einpflanzte. Nicht zuletzt macht es mir die Literatur unmöglich, ein Land zu dämonisieren, alle Russen in einen Topf zu schmeissen, was ganz offensichtlich in einer breiten Öffentlichkeit passiert. Nur schon weil ich viele russische SchriftstellerInnen, auch solche der Gegenwart wie Ljudmilla Ulitzkaja, Michail Schischkin viel zu sehr schätze und verehre, ist mir ein kollektives Urteil unmöglich. Putin ist nicht Russland.

Als ich letztes Jahr in die Heimat meines Schwiegersohns reiste, war es keine Reise in die Ferien. Ich wollte Vietnam begegnen. Ich wollte in den Wochen etwas lernen. Ich wollte eine Kultur, Menschen kennenlernen. Selbstverständlich las ich AutorInnen aus diesem Land, zB. Kim Thúy mit ihrem Roman «Der Klang der Fremde» oder den vorzüglichen Sammelband literarischer Kostbarkeiten aus Vietnam „Vietnam fürs Handgepäck“ von Alice Grünfelder. Ich sah, hörte und schmeckte mehr, als ich dieses fremde Land bereiste. Aber das klappte auch nur, weil ich mich nicht bloss auf den touristischen Trampelpfaden bewegte, sondern versuchte, möglichst offen zu sein, mich einliess, was sich mir zeigte. Wer All-inclusive zwei Wochen in Ägypten in einem Fünfsterneressort verbringt, lebt auf einem anderen Planeten, wattiert in Luxus, umgeben von allen Annehmlichkeiten.

Wenn Vermummte am Rand einer Demonstration gegen Hass stehen und den rechten Arm nach oben recken, wenn Propagandisten den Krieg gegen die Ukraine mit dem Dogma des grossrussischen Reiches erklären, wenn ein Parteichef in der Schweiz den menschengemachten Klimawandel leugnet und argumentiert, die Landwirtschaft könne von einem wärmeren Sommer doch nur profitieren, dann fehlt diesen Menschen Empathie. Es mag idealisierend klingen; aber ich bin davon überzeugt, dass Menschen, die sich wirklich auf Kunst einlassen, sich auch auf ihnen fremde Stimmen einlassen, dass sie sich unweigerlich öffnen und verstehen lernen. Literatur kann vieles näher bringen, nicht bloss ein mir fremdes Land.

Liebe Grüsse

Gallus

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«Literatur kann vieles näher bringen, nicht bloss ein mir fremdes Land»

Lieber Gallus

Immer wieder denke ich an diesen Satz aus deiner letzten Mail bei der Lektüre von «Weisse Rentierflechte» von Anna Nerkagi. Dieses erste Buch in deutscher Sprache von einer nenzischen Frau ist von archaischer Kraft und sinnlicher Poesie, entführt uns in eine ganz andere Welt im Norden Sibiriens.

Anna Nerkagi «Weiße Rentierflechte», Unionsverlag, aus dem Russischen von Rolf Junghanns, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 18.00, ISBN 978-3-293-20999-2

Naturverbundenheit und Tradition beeinflussen das Leben dieser Menschen in unwirtlicher eisiger Tundra. In wunderbarer Sprache geschildert begleiten wir verschiedene, junge und alte Nenzen auf der Suche nach Liebe, nach Wahrheit, nach dem Sinn des Lebens. Der Autorin ist ein nachhaltiges Werk über Liebe, Verantwortung und Tod gelungen, das mich in der modernen Welt lebend zum Nachdenken herausfordert:

«Alte Bäume erscheinen uns als langlebige Menschen. Man möchte glauben, dass sie sich an so vieles erinnern, vielleicht sogar an das GOLDENE WORT DER WAHRHEIT, das die Menschen einst vergessen haben… Das GOLDENE WORT DER WAHRHEIT – was ist das? Ein Lied? Ein Gebet? Ein Gott?»

Ein Buch voller Fragen zum Kern unserer menschlichen Existenz. Unbedingt lesenswert!

Bär

Lieber Bär, Lieber Gallus 1:
«Die einen schwimmen auf, die andern versinken»

 

literaturblatt.ch gratuliert: Martina Clavadetscher ist Schweizer Buchpreisträgerin 2021 #SchweizerBuchpreis 21/12

Laudatio für Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams» (Lenos Verlag)

Wenn die «kleiderlosen Frauen» Werkstatt zwei verlassen und in den Hängeraum kommen, sind sie «genauso, wie sein sollen». Die Körper anatomisch korrekt, die «Haut haarlos, / die Finger- und Fußnägel weiß bemalt, / gewisse Körperstellen auffallend und ausgeprägt». Makellos, findet Ling, die Arbeiterin mit dem makellosen Punktestand.  

Wir sind im südöstlichen China, inmitten einer Art Frauen-Manufaktur, und damit ist nicht gemeint, dass Frauen am Fliessband stehen. «Lebensecht» sollen die Puppen sein, die hier fabriziert werden, und seit die Firma vor allem in die Köpfe investiert, seit die Puppen das Sprechen und Denken, ja sogar etwas menschliche Fehlbarkeit erlernen, werden die Maschinen immer authentischere Menschenimitate.

Wenn die Frauenkörper bei Ling eintreffen, streicht sie zur Kontrolle an Beinen und Rumpf entlang, «sauber und glatt» muss alles sein. Mit den Fingerkuppen tastet sie über die Schultern, den Halsansatz, entfernt überflüssige Fetzen. Sie fasst in den Anus, misst die «Länge der Öffnung mit dem Kontrollstock», «dreht das Objekt um, greift in die Vagina», und wenn sich, während wir all das lesen, in uns ein Unbehagen regt, eine Beklemmung, vielleicht sogar ein tiefes Unrechtsempfinden, dann hat unsere empathische Solidarität mit der Puppenfrau längst eingesetzt. Wir haben sie schon vermenschlicht, noch ehe sie zusammengebaut ist. Martina Clavadetschers Roman wird viele weitere Male unsere Gewissheit bei der Unterscheidung von Mensch und Maschine irritieren.

Das liegt auch an Iris. Denn sie ist es, die wir in Manhattan von ihrer «Halbschwester Ling» erzählen hören (und die sich im Erzählen Stück für Stück von ihrem Mann und den gesellschaftlichen Rollenerwartungen lossagt). Und am Kern, im Zentrum des Buches, stossen wir auf Ada im alten Europa: Ada Lovelace, die erste Programmiererin der Welt, der in der patriarchalen Gesellschaft der verdiente Ruhm verwehrt war. Clavadetscher also hat über Zeiten und Kontinente hinweg drei Geschichten von drei Frauen ineinander verschachtelt, die unterschwellig miteinander in Resonanz treten. 

Das Erzählen selbst gehört zu den grossen Themen dieses Buches. Gleich am Anfang steht ein Erzählerinnenwettstreit zwischen Iris und den beiden Damen mit den anspielungsreichen Namen Wollstone und Godwin (Mary Shelley lässt grüssen). Fortwährend beobachten wir die Figuren beim Verfertigen ihrer Geschichten. Und in welche Sprache und Form Clavadetscher das alles verpackt, ist das eigentliche Ereignis dieses Romans. Der aus Zeilenumbrüchen und sprachlichen Kippfiguren einen Lese-Thrill erzeugt. Der bis in kleinste Details von Klang und Rhythmus durchkomponiert ist. Der seine komplexe Architektur in eine durch und durch sinnliche Sprache hüllt. 

«Die Erfindung des Ungehorsams» ist ein kunstvoller Text über künstliche Intelligenz jenseits der handelsüblichen Anti-Technik-Dystopie. Ein feministischer Empowerment-Roman von grosser literarischer Originalität. Und eine Hommage an die urmenschliche Kraft des Erzählens und Erfindens.

Im Namen der Jury gratuliere ich Martina Clavadetscher zu so viel Ungehorsam gegenüber dem literarisch Konventionellen und zur Nomination für den Schweizer Buchpreis 2021.

Daniel Graf



Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams» #SchweizerBuchpreis 21/5

Vielleicht ist es die Sehnsucht des Menschen nach der perfekten Maschine, der perfekten Hilfskraft, des perfekten, bedürnislosen Dienens. Ganz sicher ist er der Reiz des Machbaren, Erschaffer:in zu werden. „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist eine Geschichte in der Geschichte in der Geschichte. Ein Roman, der den menschlichen Code zu knacken versucht, jenes Geheimnis, das uns zu Menschen macht.

Schon in ihrem letzten Roman „Knochenlieder“ spielte Martina Clavadetscher derart gekonnt und verblüffend mit ihrer Sprache, ihrem Sound, ihrer Konstruktion, ihrem ganz eigenen Instrumentarium, dass sie für mehr als „nur“ den Schweizer Buchpreis nominiert wurde. „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist die grosse Schwester ihres letzten Romans. Formal ähnlich gestaltet (im Flatter- nicht im Blocksatz), manchmal fast an Lyrik erinnernd, über weite Strecken geschrieben, als wäre die Autorin monologisierend auf einer schwarzen Bühne im Scheinwerferlicht, das Szenario in den Köpfen der Zuhörer:innen aufsteigen lassend. „Die Erfindung des Ungehorsams“ geht aber noch einen Schritt weiter, steht „Knochenlieder“ in nichts nach, überflügelt ihn.

„Ihr Leben verläuft nach Plan.“

Martina Clavadetscher will nicht einfach eine spannende Geschichte erzählen. Sie erzeugt während des Lesens das Bewusstsein, wie schmal der Grat zwischen Realität und Künstlichkeit ist, wie nah wir uns in unserer Gegenwart einer bedrohlich werdenden Zukunft nähern, wohin uns unsere Fantasielosigkeit gepaart mit Profitdenken führen kann, wie klein der Unterschied ist zwischen Menschlichkeit und Automatismus. Dabei rankt sich ihre Sprache in Sphären, die in der deutschsprachigen Literatur nur selten anzutreffen sind. Ihre Sprache, ihr Erzählen ist alles andere als künstlich und schafft einen erstaunlichen Kontrast zum fast blutleeren Geschehen in der Geschichte.

„Gesetzmässigkeiten tarnen sich bloss mit Willkür, damit das Logische nach aussen unlogisch wirkt.“

Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams», Unionsverlag, 2021, 288 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-293-00565-5

Iris lebt irgendwo in Manhattan in einem Penthouse. Sie erwartet Gäste, wartet mit Ungeduld. Es wird eine kleine Party sein, wie immer und jedes Mal, mit Godwin und Wollstone, zwei älteren Damen. Iris hat den Part der Erzählenden, während die Gäste lauschen. Iris erzählt aus dem Leben von Ada, Ada Lovelace, die es wirklich gab, die vor mehr als 200 Jahren in England lebte und die Tochter jenes berühmt, berüchtigten englische Dichters Lord Byron (1788–1824) war, den sie aber nie kennen lernte. Von ihrer gestrengen Mutter (im Buch Übermutter) erbte sie das überdurchschnittliche Geschick mit Zahlen, das sie schon in jungen Jahren mit dem Mathematiker Charles Babbage zusammen brachte, der eine Differenzmaschine entwickelte, etwas, das sich als Vorläufer der heutigen Computer entpuppte. Ada, einst ein kränkliches Kind, von der Mutter überbehütet, um es aus dem langen Schatten ihres unseligen Vaters zu zerren, entwickelte mit Charles Babbage die Idee einer Maschine, die weit mehr kann, als jene Spielmaschinen, mit denen man damals ein Publikum zu faszinieren vermochte.

In „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist die Geschichte eingebetet in jene der „Halbschwester“ Ling, die an einem andern Irgendwo irgendwann Arbeiterin in einer Produktionsstätte für Sexpuppen ist, alle identisch konzipiert nach dem Vorbild einer Schauspielerin, einer Fanny Lee, die die Hauptdarstellerin eines Film ist, den Ling längst zu ihrem Lebensbegleiter gemacht hat, den sie immer wieder in ihren dämmrigen Feierabenden sieht, nach Tagen, die zwischen Fabrik und Wohnsilo immer gleich aussehen. Lings Arbeit in der Fabrik ist es, die Körper nach dem Guss nach Silikonresten zu untersuchen, bevor sie noch ohne Kopf an einen Haken gehängt werden, um in einer nächsten Halle mit dem Haupt versehen zu werden, einem Modul, das interaktiv auf einen zukünftigen Besitzer regieren soll.

„Ling, das Programm hat gelernt zu lügen.“

Ling ist einsam. Bis sie einen der kopflosen Körper mit nach Hause nimmt, bis sie Jon B., einen der Wachmänner der Sexpuppenfabrik bei sich zuhause einlässt, bis der Wunsch nach Gemeinschaft aus den Treffen in Lings Wohnung Konspiration werden lassen und ein Wagnis daraus entstehen soll.

Martina Clavadetscher verwebt die verschachtelten Erzählstränge aber so, dass ich als Leser nie den Überblick verliere, gewisse Details und Feinheiten aber doch nur bei ganz genauer Lektüre zum Vorschein kommen. So wie etwa das Detail, dass hinter den Namen Godwin und Wollstone die Mutter der Schriftstellerin Mary Shelley, der Schöpferin Frankensteins, Mary Wollstonecraft-Godwin verbirgt. Frankenstein, ein Diener, ein Geschöpf aus der Hand eines Menschen, abgekoppelt von einer natürlichen Ordnung.

„Das Unzähmbare lebt. Es keimt. Und bringt etwas ganz Eigenständiges hervor.“

Martina Clavadetscher gelang mit ihrem Roman „Die Erfindung des Ungehorsams“ Erstaunliches und Verblüffendes! Der Roman bietet genau das, was sich Leser:innen wünschen, die mehr als nur unterhalten werden wollen. „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist vielschichtig, vieldeutig und poetisch zugleich!

Mein Fazit: Wenn Mut gewinnt, dann sie!

Martina Clavadetscher, geboren 1979, studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie. Seit 2009 arbeitet sie als Autorin, Dramatikerin und Radio-Kolumnistin. Ihr Prosadebüt «Sammler» erschien 2014. Für die Spielzeit 2013/2014 war sie Hausautorin am Luzerner Theater. Mit ihrem Theaterstück «Umständliche Rettung» gewann sie 2016 den Essener Autorenpreis und war im selben Jahr für den Heidelberger Stückemarkt nominiert. Für «Knochenlieder» erhielt sie 2016 den Preis der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung und wurde 2017 für den Schweizer Buchpreis nominiert.
Martina Clavadetscher lebt in der Schweiz.

Rezension und Interview zu «Knochenlieder» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Ingo Höhn 

5 Bücher, 5 Namen #SchweizerBuchpreis 21/1

Verfolgen sie das Rennen um den Schweizer Buchpreis? Beeinflusst dieses Rennen ihr «Literatur-Konsumverhalten»? Lesen sie eines oder mehrere der Bücher, die im Rennen sind? Alleweil gut ist der Preis für Überraschungen. Und immer wieder ist die Hoffnung da, dass sich all die Zwänge der Gegenwart nicht in die Auswahl einmischen?

Bis zur Verleihung des Schweizer Buchpreises in Basel am 7. November 2021 mische ich mich immer wieder in die Frage «Welches Buch muss es sein?». In der Menüleiste links finden sie einen Link, der Sie direkt zu den entsprechenden Artikeln führt!

Sie kennen Christian Kracht nicht? Er war schon einmal Träger des Schweizer Buchpreises und ist mit jedem seiner Bücher im Gespräch, sei es unter Rezensent:innen, Feuilletonist:innen oder engagierten Leser:innen. Ein Mann, der einem förmlich zur Auseinandersetzung zwingt. Dass er das auch mit seinem neuen Roman «Eurotrash», ja sogar mit dem Titel alleine schafft, lässt einem staunen. Für die einen ist Christian Kracht eine Lichtgestalt im helvetischen Literaturhimmel, auch wenn an ihm und seinem Schreiben so gar nichts Helvetisches ist. Wäre Christian Kracht nicht für den Schweizer Buchpreis nominiert, hätte ich sein Buch wohl nicht gelesen. Denn eines braucht sein Buch mit Sicherheit nicht: meinen Senf.
(Christian Kracht «Eurotrash», Kiepenheuer & Witsch)

Schon ein bisschen anders verhält es sich mit Martina Clavadetscher und Michael Hugentobler Schon alleine deshalb, weil beide schon meine Gäste waren, sei es in einer moderierten Lesung oder bei «Literatur am Tisch», einer ganz intimen Veranstaltung. 
Martina Clavadetschers erster Roman «Knochenlieder», mit dem sie schon einmal für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde, schlug bei mir ein wie eine Bombe. Nicht weil die Geschichte in einer möglichen Zukunft spielt, nicht weil ich gerne Dystopien lese, sondern weil Martina Clavadetscher schon damals formal ein Experiment wagte. Ihre Romane sind schon alleine visuell anders, mäandern zwischen Prosa, Theater und Lyrik, versuchen eigene Wege zu gehen. Ihr neuester Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» verfeinert das, was die Schriftstellerin schon im Roman davor begonnen hat. Ihr Roman ist ein vielstimmiges und vielschichtiges Epos, wieder in einer nicht allzu fernen Zukunft.
(Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams», Unionsverlag)

Michael Hugentobler ist ein Reisender. Dass er, der nun sesshaft geworden ist und Familie hat, 13 Jahre auf Reisen war, das spürt man seinem Schreiben an. Wahrscheinlich ist sein Reservoir an Bildern und Geschichten unerschöpflich, was seinen Lesern nur recht sein kann, denn Michael Hugentobler macht Türen auf. Als Reisender nach Innen und nach Aussen, nach unzähligen Reportagen für namhafte Magazine nimmt mich Michael Hugentobler mit auf eine Reise nach Südamerika, spürt einem Indianerstamm nach, von dem nur ein Buch mit Wörtern übrig geblieben ist. Schon sein erster Roman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» riss mich mit ins 19. Jahrhundert, zuerst ins Wallis, dann zu den Aborigines in Australien und am Ende zum Finale nach London. Dorthin, wo auch sein zweiter, nun nominierter Roman «Feuerland» seinen Ursprung hat. Bilderstarke Literatur!
(Micheal Hugentobler «Feuerland», dtv)

Überraschend, zumindest für mich, sind die Nominierten Veronika Sutter und Thomas Duarte. Veronika Sutter erschien bisher gar nicht auf meinem Schirm (was nichts heissen soll) und von Thomas Duarte hörte ich nur, weil sein literarisches Debüt 2020 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Debüt ausgezeichnet würde (was noch kein Grund gewesen war, das Buch zu besorgen). Da sind also ganz offensichtlich Versäumnisse meinerseits nachzuholen.
Veronika Sutters Erzählband «Grösser als du» zeichnet Menschen, «die mit einem Geheimnis leben, weil Scham oder Verleugnung sie daran hindern, über das zu sprechen, was hinter ihren Wohnungstüren passiert. Ohne es zu wissen, teilen sie die Erfahrung von Abhängigkeit, Gewalt und Unterdrückung. Sie stehen aber auch in Beziehung zueinander, ob als (Ex)Partner, Freundinnen, Nachbarn oder Verwandte. Sie biegen sich ihre Realität zurecht, um ihr Verhalten zu rechtfertigen, sei es despotisch, übergriffig oder duldsam.»
Veronika Sutter «Grösser als du», edition 8)

Und von Thomas Duarte’s Debüt «Was der Fall ist» heisst es: «Ein Mann erscheint mitten in der Nacht auf einem Polizeiposten und erzählt, wie sein bislang eintöniges Leben aus den Fugen geraten ist. Jahrzehntelang hat er für einen wohltätigen Verein gearbeitet, jetzt wird er plötzlich wegen Unregelmässigkeiten bei der Geldvergabe verdächtigt. Und nicht nur das: Im Hinterzimmer seines Büros, in dem er zeitweise selbst hauste, lässt er neuerdings die illegal arbeitende Putzfrau Mira wohnen. In seinem wahnwitzigen Bericht, dessen Charme und Menschlichkeit aber selbst den Polizisten nicht kaltlassen, entsteht das Portrait eines modernen Antihelden, der einen überraschend fröhlichen Nihilismus zum Besten gibt.»
(Thomas Duarte «Was der Fall ist», Lenos)

Spannend! Ich freue mich auf die Lektüre. Spannend, weil die fünf Finalist:innen unterschiedlicher nicht sein könnten; ein Schwergewicht, zwei Perlen und zwei Debüts! Vielleicht auch ein ungleicher «Kampf».

Illustrationen © leafrei.com

Mit Martina Clavadetscher am Tisch

«Martina Clavadetscher zählt zu den originellsten und wagemutigsten Stimmen ihrer Generation», schreibt Manfred Papst in der NZZ am Sonntag. Mit Sicherheit. Und nicht erst seit ihrem Roman «Die Erfindung des Ungehorsams». Dass die Schriftstellerin einem ausgesuchten Kreis von Leser:innen so viel Nähe zuliess, war ein ganz besonderer Genuss.

«Literatur am Tisch» soll nicht nur für die Leser:innen zu einer besonderen Begegnung werden, sondern auch für die eingeladenen Schriftsteller:innen. Weil alle Gäste das Buch gelesen haben, weil man im kleinen Kreis darüber spricht und das Buch, den Roman deshalb ganz besonders genau und aufmerksam las, vielleicht sogar mehrmals, werden Gespräche über den Inhalt, über Leseeindrücke, Gewichtungen, die Sprache zu ganz besonderen Gesprächen, vertiefen sich immer weiter und erreichen Schichten, die bei Lesungen der üblichen Art nie erreicht werden können.

«Was für ein zauberhafter Abend mit zauberhaften Menschen: das Essen, der Wein, das spannende Gespräch zu meinem Buch, interessant, inspirierend, wir haben die Zeit vergessen und fast den Zug verpasst – danke für dieses «Literatur am Tisch»; genau so soll es sein! Herzlich M. Clavadetscher»

Aber auch die Autor:innen schwärmen nach solchen Veranstaltungen. Sie erfahren Wirkung, erleben direkt, was die Lesenden bewegt, befremdet, welche Fragen sie sich stellen, was sie beeindruckt oder verunsichert. Dass Martina Clavadetscher mit ihrem Roman viel mehr als blosse Unterhaltung liefern will, wird einem schon nach wenigen Seiten in ihrem Roman klar. «Die Erfindung des Ungehorsams» zwingt Leser:innen, sich ganz hineinzugeben. Und wer sich dann auf eine Begegnung mit der Autorin, auf eine Veranstaltung wie «Literatur am Tisch» einlässt, wird mit Perspektiven und Einsichten belohnt, die sonst verborgen bleiben.

© Janine Schranz

«Ihre natürliche, unkomplizierte, authentische Art hat mich gleich von Beginn weg begeistert. So ehrlich und spontan und auf Augenhöhe mit ihr über ihr Werk zu plaudern, hat mir sehr gut gefallen.  
Dank dem engagierten Austausch in unserer tollen und aufmerksamen Runde, durfte ich wieder viele neue Facetten in diesem Roman entdecken.» T. Hanselmann

«Es war ein sehr schöner Abend mit einer sehr klugen und ebenso sympathischen Martina Clavadetscher. Einmal mehr habe ich erfahren, wie bereichernd es ist, sich an eurem Tisch auszutauschen. Wunderbar auch, dass sich alle trauen ihre Leseerfahrungen mitzuteilen und dass die Autorin interessiert ist an den Feedbacks.» E. Berger

«Ein anspruchvolles Buch, das fasziniert, verwirrt und sprachlich begeistert! Martina Clavadetscher schaffte es auf eine sehr sympatische Weise auf unsere Fragen einzugehen, Hintergrundinformationen zu geben, unseren Gedankengängen zu folgen und sich darüber zu freuen! Dass sie zum Schluss eine meiner Lieblingsstellen vorlas, freute mich sehr!» D. Lötscher

«Zusammen mit der erfolgreichen Autorin, Martina Clavadetscher, durften wir bei Speis und Trank einen geselligen, lehrreichen Abend bei Gallus und Irmgard erleben. Bei den interessanten Ausführungen der Autorin und der Diskussion mit meinen Kolleginnen und Kollegen vom Lesekreis wurde mir wieder einmal mehr bewusst, wie wertvoll solche Begegnungen sind. Sie tragen wesentlich zum besseren, vertieften Verständnis des Gelesenen bei. «Die Erfindung des Ungehorsams» von Martina Clavadetscher wurde so von verschiedenen Seiten her beleuchtet und wohl jedem von uns nähergebracht. Ich danke der Autorin und den Gastgebern, Gallus und Irmgard, herzlich für den bereichernden literarischen Abend.» C. Blumer

«Das gelesene Buch hat sich mir – im hautnahen Austausch mit der Autorin – noch einmal ganz anders erschlossen. Was für ein Glück für jede Leserin und jeden Leser, mit einer Autor:in direkt ins Gespräch kommen zu können.» M. Sachweh

Das nächste «Literatur am Tisch» findet am 29. Juli, um 18 Uhr mit der Schriftstellerin Zora del Buono in der Kartause Ittingen statt. Die Anzahl der Gäste ist limitiert, damit ein Gespräch, bei dem man sich einbringen kann, auch wirklich stattfinden kann. Im Anschluss an «Literatur am Tisch» liest Zora del Buono um 20 Uhr aus ihrem Roman «Die Marschallin» im Museumskeller oder bei schönem Wetter im Klostergarten.

Anmeldung zu «Literatur am Tisch» mit Zora del Buono hier.

Beitragsbilder © Janine Schranz

Einlandung zu «Literatur am Tisch» mit Martina Clavadetscher und ihrem Roman «Die Erfindung des Ungehorsams»

Am 7. Juli lädt Literaturport Amriswil zu «Literatur am Tisch» ein. Ein ganz besonderes Format mit einer ganz besonderen Autorin.

Hitze, Regen, beissender Gestank. Iris tigert in Manhattan durch ihr Penthouse und wartet voller Ungeduld auf die nächste Dinnerparty, die ihr wieder ein wenig Leben einhaucht. Ling, angestellt in einer Sexpuppenfabrik im Südosten Chinas, kontrolliert künstliche Frauenkörper auf Herstellungsfehler, bevor sie sich abends bei Filmklassikern in ihre Einsamkeit zurückzieht. Und im alten, düsteren Europa folgt Ada ihren mathematischen Obsessionen, träumt von Berechnungen und neuartigen Maschinen, das Ungeheuerliche stets im Kopf.

Drei Frauen in drei Welten: Sie alle sind auf der Suche nach einer Antwort – nach dem Kern der Dinge. Und sie alle sind, ohne es zu ahnen, miteinander verbunden.

Alle Teilnehmenden sollten das Buch gelesen haben. Das Treffen beginnt um 19 Uhr und dauert in der Regel bis 21 Uhr. Für 50 CHF bekommen Sie einen Abend in Literatur eingetaucht, Speis und Trank und eine unvergessliche Erinnerung!

Eine Anmeldung ist unerlässlich, die Platzzahl sehr beschränkt! info@literaturblatt.ch

Literatur am Tisch bei Gallus und Irmgard Frei-Tomic – das ist ein bisschen wie fliegen. Wenn ein knappes halbes Dutzend Leserinnen und Leser über ein Buch reden, unverkopft und unverkrampft, ehrlich und auf Augenhöhe, dann stellt sich ein Gefühl ein, als setze die Schwerkraft aus. Für zwei, drei Stunden. Eine wunderbare Leichtigkeit, die man gerade als Autor selten empfindet.
Ich wünsche Gallus und Irmgard, dass Sie noch lange die Kraft haben, Menschen auf diese Art und Weise das Gefühl vom Fliegen zu ermöglichen!“ Andreas Neeser

Patrícia Melo «Gestapelte Frauen», Unionsverlag, eine Gartenlesung in Leukerbad

Als ich das Buch zu Ende gelesen hatte, war die Einsicht: Es herrscht Krieg. Überall. Sei es gegen die Natur und den Planeten, auf dem wir leben, zwischen Arm und Reich, zwischen von Ideologien aufgepumpten Nationen – und zwischen Mann und Frau. Patrícia Melo erzählt zwar von Brasilien, aber was dort geschieht, geschieht überall. Und es muss nicht immer Blut fliessen.

„Gestapelte Frauen“ einen Kriminalroman zu nennen, damit wird man dem neuen Roman der Brasilianerin nicht gerecht. Es geht der Autorin nicht darum, eine spannende, schockierende, gut erzählte Geschichte zu verkaufen. Patrícia Melo öffnet mit dem Brecheisen verschlossene Türen, stemmt sich gegen Ignoranz und Blindheit und legt offen, dass die Gewalt, die sich zwischen den Geschlechtern abspielt, kein Phänomen der Gegenwart ist. Was sich dort abspielt, wo es passiert, ist Reaktion und Folge einer Entwicklung, die sich mit dem Willen zur Eroberung und Unterwerfung in die Genetik des Menschen einfrass.

„Gestapelte Frauen“ erzählt von einer jungen Anwältin, die sich all jener Frauen annimmt, die Opfer männlicher Gewalt werden, sie nicht einfach in einer Statistik vergessen lassen will oder der Willkür eines korrupten Justizapparats. Getötet nicht in irgendwelchen dunklen Gassen, von Fremden und Unbekannten, sondern von ihren eigenen Männern, von Vätern, angesehenen Mitgliedern der Gesellschaft. Die mit dem Leben bezahlen, weil sie im falschen Moment am falschen Ort zu sein schienen – oder einfach mit ihrem Leben für all den latent vorhandenen Frust des männlichen Geschlechts zu bezahlen hatten, weil sie den Schlüssel ihrem Ex zurückgeben wollten, weil der Mann die Nerven verlor, vor den Augen von Söhnen und Töchtern, weil der Ton des Fernsehers zu laut war, weil die Frauen die Befehle ihrer Männer missachteten.

Patrícia Melo «Gestapelte Frauen», Unionsverlag, 2021, 256 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-293-00568-6

Die Anwältin sammelt nicht aus blosser Pedanterie, sondern weil sie selbst davon betroffen ist und es nicht schafft, aus den langen Schatten dieser Ereignisse herauszutreten. Als Mädchen musste sie erleben, wie ihr Vater die tote Mutter in Tücher wickelte, sie in ein Auto steckte und dem Wagen an einer Klippe einen Stoss versetzte, um den Mord als Unfall aussehen zu lassen. Die Mutter umgebracht, der Vater im Gefängnis. Eine Kindheit bei den Grosseltern, denen das Trauma genauso im Nacken sitzt. Als Frau und Anwältin von Amir begehrt und umschwärmt, um dann wie aus dem Nichts während einer Party als Schlampe beschimpft und ins Gesicht geschlagen zu werden, um dann später festzustellen, dass der einstmals Geliebte Szenen ihres Liebeslebens ins Internet stellte, als wäre der Schlag ins Gesicht nicht genug.

Und weil sie sich als Anwältin mit anderen Frauen den Opfern ihren Platz zu geben versucht, weil sie für Recht und Wahrheit kämpft, manövriert auch sie sich ins Kreuzfeuer konzentrierter Hetze und offener Gewalt. Es sterben Kolleginnen, Freundinnen, Mitstreiterinnen. Eine tödliche Schlinge zieht sich zu.

Warum soll ich dieses Buch lesen? Weil Patrícia Melo von den Opfern und den Tätern erzählt. Von Tätern, die sich in die Rolle der Opfer zu verteidigen versuchen, von Opfern, die zu Kollateralschaden werden. Von Frauen, die übereinandergestapelt turmhoch ein Mahnmal dessen sind, was vor hunderten von Jahren mit der gewaltsamen Eroberung und Kolonialisierung begonnen hat. Von Frauen, die bezahlen, was elitäre Macht, ein korrupter Staatsapparat und die Willkür des Geldes anrichten. 

Patrícia Melo (1962 in São Paulo) zählt zu den wichtigsten Stimmen der brasilianischen Gegenwartsliteratur. Nach ihrem Studium in São Paulo arbeitete sie beim Fernsehen. In ihrem sozialkritischen Werk, bestehend aus Kriminalromanen, Hörspielen, Theaterstücken und Drehbüchern, beschäftigt sie sich mit der Gewalt und Kriminalität in Brasiliens Grossstädten. Melo wurde u. a. mit dem Deutschen Krimipreis und dem LiBeraturpreis ausgezeichnet, die Times kürte sie zur »führenden Schriftstellerin des Millenniums« in Lateinamerika. Sie lebt in Lugano.

Barbara Mesquita, geboren in Bremen, arbeitet u. a. als Literaturübersetzerin für Portugiesisch und Spanisch mit Schwerpunkt auf den lusofonen Ländern Afrikas. Sie hat Patrícia Melo, Luís Fernando Veríssimo, Pepetela, Luandino Vieira, Arménio Vieira, Ricardo Adolfo, Pedro Rosa Mendes, João Tordo und Juan Manuel de Prada übersetzt. Barbara Mesquita lebt in Hamburg und zeitweilig in Lissabon.

«Meine Wut passt nicht zwischen zwei Buchdeckel.» Interview mit Partícia Melo

«Literatur ist ein Risiko, ein Tauchgang, ein Abenteuer.» Gespräch mit der Patrícia Melo

Beitragsbild © Literaturfestival Leukerbad

Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams», Unionsverlag

Vielleicht ist es die Sehnsucht des Menschen nach der perfekten Maschine, der perfekten Hilfskraft, des perfekten, bedürnislosen Dienens. Ganz sicher ist er der Reiz des Machbaren, Erschaffer:in zu werden. „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist eine Geschichte in der Geschichte in der Geschichte. Ein Roman, der den menschlichen Code zu knacken versucht, jenes Geheimnis, das uns zu Menschen macht.

Schon in ihrem letzten Roman „Knochenlieder“ spielte Martina Clavadetscher derart gekonnt und verblüffend mit ihrer Sprache, ihrem Sound, ihrer Konstruktion, ihrem ganz eigenen Instrumentarium, dass sie für mehr als „nur“ den Schweizer Buchpreis nominiert wurde. „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist die grosse Schwester ihres letzten Romans. Formal ähnlich gestaltet (im Flatter- nicht im Blocksatz), manchmal fast an Lyrik erinnernd, über weite Strecken geschrieben, als wäre die Autorin monologisierend auf einer schwarzen Bühne im Scheinwerferlicht, das Szenario in den Köpfen der Zuhörer:innen aufsteigen lassend. „Die Erfindung des Ungehorsams“ geht aber noch einen Schritt weiter, steht „Knochenlieder“ in nichts nach, überflügelt ihn.

„Ihr Leben verläuft nach Plan.“

Martina Clavadetscher will nicht einfach eine spannende Geschichte erzählen. Sie erzeugt während des Lesens das Bewusstsein, wie schmal der Grat zwischen Realität und Künstlichkeit ist, wie nah wir uns in unserer Gegenwart einer bedrohlich werdenden Zukunft nähern, wohin uns unsere Fantasielosigkeit gepaart mit Profitdenken führen kann, wie klein der Unterschied ist zwischen Menschlichkeit und Automatismus. Dabei rankt sich ihre Sprache in Sphären, die in der deutschsprachigen Literatur nur selten anzutreffen sind. Ihre Sprache, ihr Erzählen ist alles andere als künstlich und schafft einen erstaunlichen Kontrast zum fast blutleeren Geschehen in der Geschichte.

„Gesetzmässigkeiten tarnen sich bloss mit Willkür, damit das Logische nach aussen unlogisch wirkt.“

Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams», Unionsverlag, 2021, 288 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-293-00565-5

Iris lebt irgendwo in Manhattan in einem Penthouse. Sie erwartet Gäste, wartet mit Ungeduld. Es wird eine kleine Party sein, wie immer und jedes Mal, mit Godwin und Wollstone, zwei älteren Damen. Iris hat den Part der Erzählenden, während die Gäste lauschen. Iris erzählt aus dem Leben von Ada, Ada Lovelace, die es wirklich gab, die vor mehr als 200 Jahren in England lebte und die Tochter jenes berühmt, berüchtigten englische Dichters Lord Byron (1788–1824) war, den sie aber nie kennen lernte. Von ihrer gestrengen Mutter (im Buch Übermutter) erbte sie das überdurchschnittliche Geschick mit Zahlen, das sie schon in jungen Jahren mit dem Mathematiker Charles Babbage zusammen brachte, der eine Differenzmaschine entwickelte, etwas, das sich als Vorläufer der heutigen Computer entpuppte. Ada, einst ein kränkliches Kind, von der Mutter überbehütet, um es aus dem langen Schatten ihres unseligen Vaters zu zerren, entwickelte mit Charles Babbage die Idee einer Maschine, die weit mehr kann, als jene Spielmaschinen, mit denen man damals ein Publikum zu faszinieren vermochte.

In „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist die Geschichte eingebetet in jene der „Halbschwester“ Ling, die an einem andern Irgendwo irgendwann Arbeiterin in einer Produktionsstätte für Sexpuppen ist, alle identisch konzipiert nach dem Vorbild einer Schauspielerin, einer Fanny Lee, die die Hauptdarstellerin eines Film ist, den Ling längst zu ihrem Lebensbegleiter gemacht hat, den sie immer wieder in ihren dämmrigen Feierabenden sieht, nach Tagen, die zwischen Fabrik und Wohnsilo immer gleich aussehen. Lings Arbeit in der Fabrik ist es, die Körper nach dem Guss nach Silikonresten zu untersuchen, bevor sie noch ohne Kopf an einen Haken gehängt werden, um in einer nächsten Halle mit dem Haupt versehen zu werden, einem Modul, das interaktiv auf einen zukünftigen Besitzer regieren soll.

„Ling, das Programm hat gelernt zu lügen.“

Ling ist einsam. Bis sie einen der kopflosen Körper mit nach Hause nimmt, bis sie Jon B., einen der Wachmänner der Sexpuppenfabrik bei sich zuhause einlässt, bis der Wunsch nach Gemeinschaft aus den Treffen in Lings Wohnung Konspiration werden lassen und ein Wagnis daraus entstehen soll.

Martina Clavadetscher verwebt die verschachtelten Erzählstränge aber so, dass ich als Leser nie den Überblick verliere, gewisse Details und Feinheiten aber doch nur bei ganz genauer Lektüre zum Vorschein kommen. So wie etwa das Detail, dass hinter den Namen Godwin und Wollstone die Mutter der Schriftstellerin Mary Shelley, der Schöpferin Frankensteins, Mary Wollstonecraft-Godwin verbirgt. Frankenstein, ein Diener, ein Geschöpf aus der Hand eines Menschen, abgekoppelt von einer natürlichen Ordnung.

„Das Unzähmbare lebt. Es keimt. Und bringt etwas ganz Eigenständiges hervor.“

Martina Clavadetscher gelang mit ihrem Roman „Die Erfindung des Ungehorsams“ Erstaunliches und Verblüffendes! Der Roman bietet genau das, was sich Leser:innen wünschen, die mehr als nur unterhalten werden wollen. „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist vielschichtig, vieldeutig und poetisch zugleich!

© Ingo Höhn

Martina Clavadetscher, geboren 1979, studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie. Seit 2009 arbeitet sie als Autorin, Dramatikerin und Radio-Kolumnistin. Ihr Prosadebüt «Sammler» erschien 2014. Für die Spielzeit 2013/2014 war sie Hausautorin am Luzerner Theater. Mit ihrem Theaterstück «Umständliche Rettung» gewann sie 2016 den Essener Autorenpreis und war im selben Jahr für den Heidelberger Stückemarkt nominiert. Für «Knochenlieder» erhielt sie 2016 den Preis der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung und wurde 2017 für den Schweizer Buchpreis nominiert.
Martina Clavadetscher lebt in der Schweiz.

Rezension und Interview zu «Knochenlieder» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Ingo Höhn 

Einladung zu «Literatur am Tisch» mit Martina Clavadetscher

Hitze, Regen, beissender Gestank. Iris tigert in Manhattan durch ihr Penthouse und wartet voller Ungeduld auf die nächste Dinnerparty, die ihr wieder ein wenig Leben einhaucht. Ling, angestellt in einer Sexpuppenfabrik im Südosten Chinas, kontrolliert künstliche Frauenkörper auf Herstellungsfehler, bevor sie sich abends bei Filmklassikern in ihre Einsamkeit zurückzieht. Und im alten, düsteren Europa folgt Ada ihren mathematischen Obsessionen, träumt von Berechnungen und neuartigen Maschinen, das Ungeheuerliche stets im Kopf.

Drei Frauen in drei Welten: Sie alle sind auf der Suche nach einer Antwort – nach dem Kern der Dinge. Und sie alle sind, ohne es zu ahnen, miteinander verbunden.

Am 7. Juli liest und diskutiert Martina Clavadetscher in ausgewählter Runde aus und über ihren Roman, ihr Schreiben, die Gegenwart und die Zukunft.

Alle Teilnehmenden sollten das Buch gelesen haben. Das Treffen beginnt um 19 Uhr und dauert in der Regel bis 21 Uhr. Für 50 CHF bekommen Sie einen Abend in Literatur eingetaucht, Speis und Trank und eine unvergessliche Erinnerung!

Eine Anmeldung ist unerlässlich, die Platzzahl sehr beschränkt! info@literaturblatt.ch

Drei Perlen aus dem 22. Literaturfestival Leukerbad

Die Literatur riss in Leukerbad den Himmel auf!

Literaturfestival Leukerbad, ein literarisches Gipfeltreffen inmitten der Walliser Steilwände und Felszähne. 3’800 Eintritte während drei Tagen! Das Programm aus Lesungen und der «Perspektiven»-Gesprächsreihe war dicht und sehr international: Aus Europa, Asien, Nord- und Südamerika reisten 37 Autoren und Protagonisten ins Bäderdorf.

Liao Yiwu, einer der bedeutendsten chinesischen Avantgarde-Dichter, 1987 in politische Ungnade gefallen, veruteilt, für Jahre ins Gefängnis gesteckt, gefoltert und von seiner Frau zwangsgeschieden, weil die Familie nichts mehr von ihm wissen wollte, spielte Tsiao, eine chinesische Flöte. Ein Instrument, das er während seiner Haft von einem ebenfalls eingesperrten Mönch erlernte. Er spielte, sang und las aus seinem neuen und ersten Roman «Die Wiedergeburt der Ameisen», in dem er die Geschichte seiner Familie mit der seines Heimatlandes verknüpft, das ihn verstossen hat. Er, der kaum je wieder einen Fuss in sein Heimatland setzen wird, las, während auf dem Platz draussen chinesische Touristen vorbeiflanieren.
Robert Menasse, der grosse Europäer, der sich nicht scheut, bei einer Rede an das Europäische Parlament den Anwesenden die Leviten zu lesen und man gespannt auf seinen im September erscheinenden grossen Roman «Die Hauptstadt» wartet. Er bannt mit seinem Erzählen über Europa, während die Pizza im Dorf von Ukrainerinnen serviert wird.
Oder der irakisch-kurdische Schriftsteller und Dichter Bachtyar Ali, der 20 Jahre unentdeckt in Deutschland lebte und in seinem Roman «Der letzte Granatapfel» die gefährliche Reise auf einem Flüchtlingsboot übers Mittelmeer erzählt, eine bildgewaltige Parabel über Unterdrückung und Bruderzwist. Abends dann geniesst man im Restaurant mit Aussicht mediterrane Küche. International – auf jeden Fall.

Drei ganz besondere Perlen möchte ich vorstellen. Drei Bücher, eine Autorin und zwei Autoren, die es zu entdecken gilt, wenn man nicht längst auf sie gestossen ist:

100 Jahre Geschichte eines Landes, das kaum je in den Fokus Europas gerät. Ein Epos über die Folgen der Teilung der koreanischen Halbinsel, eine Spionagegeschichte und gleichzeitig ein politischer und historischer Roman multipliziert mit einer ménage à trois, die zwischen die Fronten gerät. Ein Roman mit gewaltiger und überzeugender Sogkraft. Ein Soziogramm der Lügen und Illusionen. Anna Kim ist in Südkorea geboren, dort aber weder zuhause noch beheimatet. Erstaunlich genug, dass sie immer und immer wieder als Südkoreanerin genannt wird, obwohl sie sich dezidiert gegen eine verortete Heimat ausspricht. Trotzdem beschäftigt sich die Autorin mit der Geschichte ihres Herkunftslandes, den Auswüchsen des kalten Krieges in Südostasien im Willen, diesen Konflikt zu verstehen. «Wie schreibe ich über Vergangenes und Geschichte? Reine Beschreibung reicht mir nicht aus, auch wenn ich mit Recherche tief ins Geschehen eingedrungen bin.» Eine mitreissende Geschichte um Freundschaft, Loyalität, Verrat und das unmögliche Leben in der Diktatur.

Georgi Gospodinov ist der grosse Autor der bulgarischen Literatur. Sein viertes bei Droschl auf deutsch erschienene Buch ist eine Sammlung von Erzählungen. «8 Minuten und 19 Sekunden», die Erzählung die dem Buch den Titel gibt, dauert es, bis das Licht von der Sonne die Erde trifft. Genau so viel Zeit, wie Gerogi Gospodinov dem Leser der Geschichte einräumt, um sich mit seinen gleichsam spielerischen wie apokalyptischen Spielereien auseinanderzusetzen. Vielleicht ein Markenzeichen des Autors, der sich gerne der Faszination der Apokalypse hingibt, ohne literarisch der in Mode geratenen Dystopie zu verfallen. Seine Geschichten entspringen einer Mischung aus Melancholie und Humor, Absurdem und den Erfahrungen aus der bulgarischen Diktatur. Georgi Gospodinov verknüpft Wahrnehmungen, Empfindungen auf seine ganz eigene Art. Für mich eine grosse Entdeckung und ein Versprechen: Höchster Lesegenuss!

John Wray. Ein durch und durch amerikanischer Autor, der 2007 vom Literaturmagazin «Granta» unter die 20 besten jungen US-Autoren gewählt wurde. Aber er spricht deutsch und wird in diesem Sommer in der Arena des Bachmann-Preisschreibens in Klagenfurt mit einem deutschen Text antreten. Ein Amerikaner mit österreichischen Wurzeln und kärntner Akzent. So verzwickt seine Herkunft, so verzahnt sein Roman; eine historisch eingebettete Familiengeschichte über ein ganzes Jahrhundert, wissenschaftliche Einsprengsel über Physik und die Produktion eingelegter Gurken bis hin zum bewusst «schlechten» Science- Fiction und kruden, sektiererischen Verschwörungstheorien. Ein Erzähler, der sich in einer Zeitblase wiederfindet, in der Wohnung seiner schrägen Zwillingstanten, die Tonnen von Zeitungen und anderem Strandgut sammeln. Grotesk, skurril und kompliziert, aber nie unübersichtlich, wabernd in einem natürlichen Chaos, mit Absicht weit weg aller unnatürlichen Chronologie. Ein Buch, dem ich den Spass des Autors auf jeder Seite «anhöre». John Wray, ein ausserordentlich begnadeter Geschichtenerzähler mit cineastischem Blick und liebevollem, schrulligem Witz. Und wenn er liest, wünscht man dem fabulierenden Erzähler, dass die Verpflichtung des Vorlesens nie endet würde.

Wie jedes Jahr war das Literaturfestival Leukerbad ein Ort der Begegnungen. Nicht nur mit Büchern, mit Literatur, mit Lyrik und Romanen, sondern in faszinierenden Gesprächen, solchen auf der Bühne, solchen unterwegs und den vielen vor Ort. Ganz besonders freute ich mich über die Gelegenheit, ein Interview mit der Schriftstellerin Kathy Zarnegin zu führen, über ihren gelungenen Roman «Chaya». In drei Tagen auf literaturblatt.ch!