Michelle Steinbeck «Eingesperrte Vögel singen mehr», Volant & Quist

2016 sorgte Michelle Steinbeck mit ihrem Debüt «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» für Aufregung, kam damit auf die Listen des Deutschen und Schweizer Buchpreises. Nun erscheint bei Volant und Quist ihr erster Lyrikband. Mit Sicherheit auch dies ein Buch, das aufmischen wird!

Vor längerer Zeit hörte ich Michelle Steinbeck an den Lyrikfestival «Neonfische» in Lenzburg aus ihren Gedichten vorlesen.

Deine Gedichte entsprechen gar nicht dem, was Gedichte sehr oft suggerieren, diesen verklärenden, romantisierenden Blick auf die Welt. Du bist erfrischend „hemmungslos“, ungewohnt direkt. Irgendwie ein Kontrast zu deinem Roman „Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch“, wo die Bilder sehr oft ins Surreale kippen. Willst du “aufmischen»?
Klar, immer aufmischen! Nein im Ernst: Ich habe ein anderes Bild von Lyrik, als du hier beschreibst. Von der zeitgenössischen Szene, aber auch sonst. Was ist denn z.B. mit einer Kaleko? Aber es stimmt: Ich habe mich in diesem Format sehr frei gefühlt. 

wie die grossmutter aufblüht
und rosig wird im Angesicht ihres
urenkels der rot und dünn und
ausgeliefert im licht
der wärmelampe seine unanständig
geschwollenen hoden
dem betrachter entgegenstreckt

fotografier ihn von der
anderen Seite sagt die mutter
die aufgeschnittene
von hier aus
lächelt er

Selbst der Verlag Volant & Quist spielt mit dem Entsetzen der Literaturkritikerin Elke Heidenreich auf deinen Roman und setzt den Satz „Wenn das die neue Generation ist, dann Gnade uns Gott“ auf den Buchdeckel deines Gedichtbands. Wie viel Provokation ist Programm?
Was soll daran provokativ sein? Das ist doch eine Traum-Kritik! Um diesen Satz würde ich jede andere Autorin beneiden. Er hat so was altmodisches, klassisches, als würde er auf einem vergilbten Schinken im Bücherbrocki stehen. Das mag ich daran. (Lustigerweise hat der englische Verlag auf die Übersetzung ohne Absprache dasselbe Zitat auf den Umschlag gedruckt.)

Sonntag

sie bringt das baby vorbei
es schreit krebsroter kopf
dann trinkt es – pappsatt
die zunge hängt ihm aus dem mund so satt

er surft im internet nach der fad und
er googelt sich selber und
er pult an seinem fusspilz

ich grüble an meiner hausaufgabe
kann man wissen was andere fühlen?

Mit Jahrgang 1990 bist du ganz bestimmt die neue Generation. Was soll Lyrik in der Gegenwart?
Ach was, es gibt immer Jüngere. Aber das ist auch gar nicht so wichtig. Lyrik ist meiner Meinung nach die freiste Form des Schreibens. Deshalb die interessanteste. Ich glaube, mit Lyrik kann man Dinge ausdrücken, die in einer prosaischen Sprache unmöglich wären. 

fotos die mir fehlen

du vor einem blinkenden paniniwagen
kramst im bauchtäschlein nach geld

//

strasse mit bestattungsunternehmen
dazwischen einzig ein frisör
wo eine alte unter der haube vergessen
vergilbte klatschhefte liest
während am boden sich zwei kinder winden
schreiend um einen waschkorb streiten

//

am quai
durch die absperrung aufs schiff zu geistert ein alter
dem scheisse das bein runterläuft und wc papier aus der kurzen
hose flattert
er trägt ein ausgewaschenes t shirt darauf steht

GOOD LOOK

Deine Lyrik ist nicht Naturbetrachtung, kein Absinken in Gefühlswelten. Du konfrontierst mich mit dem Blick einer jungen Frau. Manchmal schmerzt dieser Blick fast, machmal greifst du mit Absicht in „Peinlichkeiten“. Wie entstehen deine Gedichte?
Ich bin ein Stadtkind. Aber Gefühle sind doch jede Menge drin! Und auch ein paar Bäume. Und Peinlichkeiten… Ja? Gut! Mein alter Freund Michael Fehr hat mir mal doziert, ich solle in der Lyrik dahin, wo es wehtut. Wo es unangenehm wird. Das fand ich einen guten Rat, daran habe ich manchmal gedacht. Es gibt ja einen Text im Band, der heisst: «Wie ich Gedichte schreibe». Tatsächlich ist jedes anders entstanden. Es sind ganz alte und ganz neue Texte drin. Ich hab mich durch meine Material-Sammlung gewütet. Es war eine schöne Arbeit. 

Michelle Steinbeck, geboren 1990 in Lenzburg, aufgewachsen in Zürich, lebt in Basel. Sie ist leitende Redaktorin der Fabrikzeitung, Kuratorin von Babelsprech.International und Studentin der Philosophie und Soziologie. Sie schreibt Geschichten, Gedichte und Stücke, Kolumnen und Reportagen. Ihr Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» erschien 2016 im Lenos Verlag und war nominiert für den Deutschen sowie den Schweizer Buchpreis. Ihre literarischen wie journalistischen Texte werden in verschiedene Sprachen übersetzt.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Iason Depountis «Im Quantenland» von Alice Grünfelder

„Meine schriftstellerische Laufbahn begann mit einer Frage und endet mit derselben Frage wie am Anfang: Ob es wirklich auf dieser Welt einen Ort gibt für die Geplagten, die Armen, die Aussenseiter und armen Teufel?“ Tatsächlich dreht sich für den griechischen Lyriker Iason Depountis (1919-2008) alles um diese eine Frage, und er hat sie im Laufe seines schriftstellerischen Lebens variantenreich beantwortet.

In seinem Hauptwerk „Systema Naturae“ sucht er nach dem Zusammenhang zwischen Dichtung, Wirklichkeit und Wissenschaft, kombiniert Buchstaben, Formeln und Zahlen und reizt diese Kombination in so manch einem Poem aus bis an die Grenzen der Verständlichkeit. Ist die Hermetik seiner Lyrik womöglich der griechischen Diktatur geschuldet? Im Jahr 1969 setzte er zusammen mit 17 Schriftstellern seine Unterschrift unter eine Charta, die sich gegen Zensur verwehrte, kurz darauf floh er über England, Frankreich und gelangte in die Schweiz, wo er im Kinderdorf Pestalozzi Trogen 13 Jahre lang das griechische Haus leitete. Sein Sohn Dimitris Depountis übertrug das Werk des Vaters ins Deutsche, ihn fragte ich nach den Überlegungen, Abrechnungen und Ermahnungen des Iason Depountis`.

Leiser Beobachter, Sehn-Süchtiger und humorvoller Melancholiker – er selbst nannte sich „Bürger des Planeten“ und „Der aus dem Meer Geborene“. Welche dieser Bezeichnungen trifft wohl am ehesten auf Iason Depountis zu, frage ich Dich nicht als Sohn, sondern als Literaturwissenschaftler. Was hat ihn umgetrieben – im Leben und in der Literatur?

Eines seiner letzten Bücher veröffentlichte Iason Depountis unter dem Pseudonym „Odysseas Okeanos“. Das poetologische Essay trägt den Titel „Das Meer im TV“, der erste Satz darin lautet: „Dort liegt mein ganzer Reichtum, verstreut vor mir, am Horizont“. Bei jedem anderen Autor wäre ein Pseudonym wie „Odysseus Ozean“ wohl eine Anmassung, bei Depountis nicht: Fast die Hälfte seiner gut zwei Dutzend Werke hat unmittelbar mit dem Meer zu tun. Darunter fallen so unterschiedliche Texte wie solche über die Schwarmbildung von Fischen, in deren Verhalten er ähnliche Prinzipien wirken sah wie bei der Produktion von Sprache. Oder Gedichte über den Freiheitskampf auf den Inseln der Ägäis. Und zu erwähnen wären etwa Essays über ein angeblich unsterbliches prähistorisches Wesen Namens „Antixoos“, das im Meeresgrund gelebt haben soll und seinem Wesen nach einem Poeten gleichkam. Als einen „Bürger des Planeten“ bezeichnete er sich erst in den späten Jahren, als er von einer quasi universellen Warte aus auf das Leben blickte und sich in seiner Dichtung vermehrt der Mathematik und der Astronomie zuwandte. Beide Angaben zu seinem Ursprung (er vermied praktisch jede andere) verweisen natürlich auf die anti-regionalistische, anti-nationalistische Haltung, die ihn zeitlebens auszeichnete: Alle Menschen besassen ihm zufolge dieselbe, sie verbindende Herkunft.

Manche Gedichte sind nicht einfach zugänglich, was u.a. an der Kombination von Buchstaben, Ziffern und mathematischen Formeln liegt. Iason Depountis besuchte während seiner Zeit in Trogen mathematische Vorlesungen an der ETH Zürich, was faszinierte ihn daran? Und warum hat er Verquickung von Dichtung und Wissenschaft zu seinem lyrischen Prinzip erhoben?

In der Mathematik sah er so etwas wie die „verlorene Vernunft“ der Poesie, also das, was der zeitgenössischen Dichtung seiner Meinung nach fehlte, um Zusammenhänge als relevant zu erkennen und zu erschliessen: Wort und Zahl, Wissenschaft und Poesie bildeten für ihn ursprünglich eine Einheit, die es wiederherzustellen galt, und er erhoffte sich einen Wandel für die Welt durch eine von der Dichtung ausgehende Erneuerung der Wissenschaften. Sicher hing sein Interesse an der Mathematik auch mit seiner Freundschaft mit dem Architekten und Musiker Iannis Xenakis zusammen, der mathematische Verfahren in seinen musikalischen Kompositionen umsetzte. Jedenfalls war Iason Depountis der Meinung, dass die bisherigen Formen der Dichtung das substanziell Neue, das das 20. Jahrhundert mit sich brachte, nicht wiederzugeben vermochten. Einen Spaziergang im Wald als eine romantische Fussreise in der Art des 19. Jahrhunderts darzustellen, wäre für ihn ein Graus gewesen, ähnlich anachronistisch wie der Sheriff im Wildwestfilm, der auf seine Armbanduhr schielt (lacht). Liebende unter heutigen Bedingungen spazieren in einem Quantenwald; sie werden durchdrungen von elektromagnetischen Strahlen, von Satelliten beobachtet und, aus Schaltzentralen abrufbar, von Computern erfasst.

Entsprechend experimentierte er und suchte beständig nach adäquaten Weisen, das Brandneue, das er in seiner Umwelt entdeckte, auszudrücken. Seine letzten Werke zeichnen sich durch eine enorme Vielgestaltigkeit aus, der die Suche nach einer Antwort zugrunde liegt, wie sich das mörderische Jahrhundert ausdrücken und vielleicht sogar auch überwinden liesse. Interessant ist hier nicht zuletzt seine Haltung gegenüber den neuen Technologien: Obwohl er auch ihre Gefahren beschrieb, sah er in diesen vorab eine Chance und entwickelte für seine Dichtung die Vorstellung einer Art kybernetischer Lyrik an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine.

Sein Hauptwerk „Systema Naturae“ erschien 1969 während der Militärdiktatur der Obristen erstmals als illegaler Druck. In den Jahren 1984 und 1998 wurde die Gedichtsammlung ergänzt und neu aufgelegt. Diese Lyrik ist radikal in ihrem Versuch, Wurzeln und Zusammenhänge und die Gefahr der totalen, menschengemachten Zerstörung zu ergründen. Ist Iason Depountis ein engagierter, politischer Lyriker, ein Mahner? Vor allem, wenn ich an diese Zeilen denke? „die Flüsse Europa, die verrotten / die Flüsse sie verrotten sie verrotten und verrotten / zu einem Zeitpunkt des Grauens & Verbrechens / deine Flüsse deine Dichter, Europa, sie verrotten.“

Du hast mich vorhin nach der Mathematik in der Dichtung des Iason Depountis gefragt: Bei aller „Mathematisierung“ und Experimentierfreude vor allem des späten Dichters darf man nicht vergessen, dass sein Werk ursprünglich ganz direkt aus dem antifaschistischen Widerstand der 1940er Jahre hervorging. Er begann nach eigenem Bekunden Gedichte zu schreiben, um die angefangenen Gespräche mit den gefallenen Genossen des grossen Widerstands fortzuführen. Auch wenn er später von seiner frühen Produktion Abstand nahm, tat er dies nur bezüglich ihres künstlerischen Werts und nicht etwa bezüglich ihres Inhalts oder seines Engagements. Im Gegenteil: Das gesamte Werk des Dichters ist im Grunde hochpolitisch und referiert vorab auf die Themen Krieg und Zerstörung. Das heisst, auch dann, wenn von anderem die Rede ist, ist dieses Andere trotzdem nur vor diesem Hintergrund in seinen eigentlichen Dimensionen zu begreifen.

In der „Systema Naturae“ nun breitet er in einer Art Gesamtschau menschlicher, aber auch tierischer Lebenswelt seine ganz eigene Sicht auf das 20. Jahrhundert aus: Demnach habe der Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki die existenziellen Bedingungen auf der Erde grundlegend verändert. Leben und Tod, die bisherigen Dimensionen und Koordinaten: Alles wurde mit den Abwürfen durcheinandergewirbelt und vernichtet. Sogar der Tod, der bisher Teil einer Einheit von Werden und Vergehen, Sein oder Nichtsein gewesen ist, wurde pulverisiert. Die Bomben löschten alles aus, die Umwelt, die Mitmenschen, die Geschichte, als hätte es das alles nie gegeben. Eine neue Grösse entstand: das Nichts. Das vom Menschen erschaffene, jedoch von keiner Wissenschaft, Philosophie, Dichtung oder Religion prognostizierte Nichts.

In den siebziger Jahren kam noch das Thema der allgemeinen Umweltzerstörung hinzu. Das Gedicht mit dem Titel „Schall & Töne“ über die Flüsse Europas, das aus jener Zeit stammt und aus dem du die obigen Verse zitiert hast, besitzt allerdings eine weitere Komponente als jene der Umweltkatastrophen – denn hier werden die kontaminierten Flüsse mit den europäischen Dichtern und Intellektuellen gleichsetzt. Die ehemaligen Vordenker der Aufklärung und „Fuhrhalter des Reichtums“ Europas „hüten jetzt Schlamm“, heisst es an anderer Stelle. Noch deutlicher wollte Iason Depountis seine Haltung gegenüber festgefahrenen lyrischen Traditionen wohl nicht ausdrücken.

 

Düster seien die Gedichte, schreiben einige Literaturkritiker, Zeilen wie „Vor uns klafft der Abgrund Erde, der Abgrund Mensch“ versprechen in der Tat wenig Hoffnung. Schrieb Iason Depountis gegen den Untergang der Menschheit an?

Ja, ich glaube tatsächlich, dass Iason Depountis zumindest zeitweise gegen den Untergang der Menschheit anschrieb. Die Art, wie er dies tat, war singulär: Gerade das Spätwerk weist trotz seiner wahrlich düsteren Thematiken eine überraschende Verspieltheit auf, der man bis in die kleinsten Details begegnen kann. Auf den Spuren des Ganzen – des ganzen Lebens, des ganzen Todes, der ganzen Welt – wandte sich sein Blick zuletzt vermehrt nach aussen, ins Universum. In der Schönheit der Sterne, in ihren Formationen, ihren Namen fand er möglicherweise etwas, wonach er zeitlebens gesucht hatte. Zugleich sprengten seine Manuskripte, die er nun „Metatexte“ nannte, allmählich den Rahmen von simplen Textträgern, glichen mehr Bildern und Kollagen, trugen zunehmend Züge von Gesamtkunstwerken.

Andererseits hat es in seinem Werk immer auch „leichtere“ Gedichte gegeben – zum Beispiel jene über einzelne Schweizer Ortschaften, die während der Zeit im Kinderdorf Pestalozzi in den Jahren 1969–1982 entstanden. Hier legte er eine Heiterkeit und Gelassenheit an den Tag, wie sie sich sonst nur bei einzelnen seiner Meeresschilderungen manifestierte. Zu erwähnen wäre da unter anderem das ganz und gar untypische Gedicht über das Dorf Trogen, in dem das Leid der Welt vor lauter Staunen über das Naturphänomen Nebel zumindest vordergründig vergessen zu gehen scheint. Oder ein Gedicht über das Nietzsche-Haus in Sils Maria, in dem der Dichter wie ein schelmischer Tourist den Tisch des Philosophen mitnimmt, um ihn auf den See Silvaplana zu stellen. Ich denke, dass Iason Depountis trotz der Düsterkeit der meisten seiner Werke immer wieder zu einer Musse finden konnte, die ihn regenerierte. Unter anderem auf seinen Spaziergängen in der Nähe des Zürcher Zoos, unweit des Grabs seines geliebten James Joyce.

«Die ruhelose Dichtung eines ruhelosen Geistes», schreibt der Literaturhistoriker Alexandros Argyriou. Nach seinem 75. Geburtstag pendelte Iason Depountis zwischen Zürich und Athen und veröffentlichte fast jährlich ein neues Buch. Was führte zu dieser Schaffensexplosion?

Tatsächlich veröffentlichte er in den letzten zehn Jahren seines Lebens ein Drittel seiner gesamten literarischen Produktion. Neben acht Büchern auch so manche Beiträge in Zeitungen, Literaturzeitschriften und so fort. Das hatte wohl mehrere Gründe. Zum einen war er Griechenland auch nach dem Sturz der Junta während vieler Jahre ferngeblieben, und es hatten sich in dieser Zeit sehr viel Stoff und viele Manuskripte angesammelt, die er erst jetzt publizieren konnte. Der wichtigste Grund war jedoch meiner Meinung nach die Bekanntschaft und Freundschaft mit dem knapp 40 Jahre jüngeren Verlegerpaar Kostas Kremmydas und Tzela Asprogeraka nach etwa 1995, die sich als eine der glücklichsten Fügungen im Leben von Iason Depountis erwies. Kremmydas und Asprogeraka, die den Verlag und die renommierte Literaturzeitschrift „Mandragoras“ leiten und ein ganzes Team von jungen Leuten um sich scharen, hegten und hegen eine unumstössliche Bewunderung für das Werk von Depountis und haben damit auch die Personen um sich angesteckt. Das heisst: In den letzten zehn Jahren vor seinem Tod war Iason Depountis von einer ganzen Schar junger Menschen umgeben, die ihn auf Händen trugen und unterstützten – wofür er natürlich sehr dankbar war. So konnte der Dichter seine mathematischen Gedichte, seine Essays und „Metatexte“ laufend produzieren: Praktisch alles wurde sofort gesetzt und publiziert. Iason Depountis› schöpferische Leidenschaft befand sich in der letzten Schaffensperiode dank des Engagements der Leute um „Mandragoras“ quasi im Zustand eines permanenten Urknalls.

Das Interview führte Alice Grünfelder.

Das Dorf Trogen 

Der Nebel wird hier geboren er ist hier
zu Hause.
Ich sehe ihn aus den Tannen oder unter
den Brücken aufsteigen
oder er zieht über das dichte Gras das
immer grünt;
er kommt auch aus dem Fell der Tiere, der
Kühe, die östlich des Dorfes
Flusspferden gleichen;
der Nebel entsteht mitten auf der Strasse,
wie eine anmutige junge Bäuerin
die Sonne scheint ihr ins Haar, dann trägt
sie ihre, im Licht blendenden, Appenzeller
Stickereien
der Nebel kommt auch aus den feuchten
Kleidern der Kinder;
so wie er von den Dächern emporsteigt,
vergisst er sich,
wie eine Schweizer Grossmutter oder
wie jene trotzige alte Dame von Dürrenmatt
— von Friedrich Dürrenmatt —
und es dauert
eine Ewigkeit, bis er sich verzieht.

Ein Wanderlied für Sils-Maria
«Ein Zwei Drei …

Nietzsche achetait ce qu’on trouve
à la gare de Sils-Maria,
des livres de Gyp, de Paul Bourget.
Zarathoustra est un vieux guide suisse,
mais son diamant raye tout.» Jean Cocteau

ich möchte hier zuerst die Regel meiner Kunst
erklären ich stelle den Gegenstand:
«Nietzsches Tisch»
der vollkommen gleichgewichtig
in Raum und Zeit ruht so wie man
zum Beispiel sagt, etwas stehe von selbst
auf der Oberfläche des Wassers zudem stelle
ich ihn als mein eigenes Werk über die visuelle Phantasie.

zum Thema:

nach einem nachmittäglichen Besuch
im hübschen und gepflegten Haus von Sils-
Maria, wo Friedrich Nietzsche gelebt und
geschrieben, wo Friedrich Nietzsche gelitten
hat und geschrieben, konnte ich nicht anders
handeln (die Gründe sind im All verborgen)
vorsichtig zog ich also im Zimmer des Philo­-
sophen den Tisch, seinen Tisch, hob ihn
langsam von seiner Stelle und nahm ihn
ohne jede Heimlichkeit hinaus. Ich sah
ihn an, er war ein kleines aber
geschmackvolles Möbel, Nietzsches Tisch, er
hatte das Gewicht all der vielen und unruhigen
Gedanken des Dichters getragen.

ich nahm ihn so wie er war
mit der antiken Lampe als Dekor
und stellte ihn dorthin, wo er
auch heute noch steht: mitten auf die Wasser-
­fläche des Sees Silvaplana.

ein Tisch auf dem Wasser,
wie ein Zeitspiel
wie eine Epiphanie;

die Lampe spendet ein mystisches Licht.

(Das Gedicht „Ein Wanderlied für Sils-Maria“ aus dem Jahr 1973 findet sich auf einer Tafel zu Iason Depountis, die im Nietzsche-Haus in Sils-Maria vis-à-vis vom Schlafzimmer des Philosophen hängt.)

Fee Katrin Kanzler «Mächtige Männer warten lassen»

I tried and failed to be a character in a story somebody else had written for me.– Laurie Penny

Krishna war ein kleiner, zu dünner Säugling mit schwarzem Haarflaum. Dass Krishna der Name eines Hindugottes ist, eines blütengeschmückten Flötenspielers, um den sich weiße Kühe scharen, hatte die Mutter nicht geschert. Sie wusste nicht, dass hinter dem Wort eine der zehn Inkarnationen Vishnus steckt, ein blauhäutiger Weiberheld. Sie nannte ihre Tochter Krishna, weil sie den Namen bei George Harrison aufgeschnappt hatte, seine ausgefallene Schreibweise, seinen Klang mochte. Einzig dem betreuenden Arzt fiel der Zusammenhang zwischen dem Namen und der leicht bläulichen Haut des Mädchens auf.

Vom Turm herab schlägt es fünf Uhr, ein spröder, hungriger Ton. Die Marktleute klappen ihre Buden zu, sammeln das restliche Gemüse ein. Ein paar letzte Tüten werden hastig an den Mann gebracht, bevor ein Verkaufswagen nach dem anderen davonrollt. Ein leichter Nieselregen setzt ein.
Die Künstlerin geht über den Platz, das Haar unter ihrer Kapuze verborgen. Schon von Weitem sieht sie den geschwungenen Schriftzug, die rote Eingangstür, die Lichter des Bistros. Drinnen baumeln Kronleuchter wie silberne Spinnen von der Decke. Unter einer der Glitzertaranteln sitzt der Mann mit dem Geld.
Er lümmelt mit dem Rücken zum Fenster, sie kann seine Halbglatze ausmachen, das immergleiche Grau seiner Schultern. Sie weiß, wie es abläuft, sie wird ihm gegenüber Platz nehmen, in dem engen Gang zwischen den Cafétischen, durch den wieder und wieder die Bedienung flitzt. Wenn andere Gäste die Tür öffnen, wird sie den kühlen Zug der Abendluft spüren, während der Mann mit dem Geld auf sie einredet, ihr sagt, was geht, was nicht geht und was er will. Manchmal wird der Ellenbogen der Kellnerin ihren Hinterkopf streifen, so dass sie ständig befürchtet, über ihr könnte ein Tablett voll Kaffeetassen ausgekippt werden. Schon vier solcher Treffen hat sie hinter sich, ohne dass die großen Versprechungen wahr geworden wären.
Etwas Pinkfarbenes leuchtet ihr auf dem nieselnassen Boden entgegen. Ihre Schritte verlangsamen sich. Eine liegengebliebene Nelke. Die Künstlerin macht ein Foto von der Blüte, blinzelt noch einmal zu den Silberarachniden hinüber und macht auf dem Absatz kehrt.

Über dem Sofa ein Vasarelyquadrat in Schwarz und Weiß, der Kaffeeautomat knirscht eine Portion Bohnen zu Pulver. Die junge Witwe steht barfuß vor der Maschine. Im Hintergrund schrillt ein Telefon. Eine Überwachungskamera wirft ein blindes Auge in den Garten, zeichnet Schatten auf, die niemand sieht.
Der Espresso schnurrt in eine silbern glasierte Tasse. Das Telefon verstummt und eine Raucherstimme knarzt zwei, drei Sätze auf den Anrufbeantworter. Das Spiegelbild der jungen Witwe ist mehrfach in den hohen Glasscheiben zu sehen. Sie träufelt Chiliöl in ihren Espresso, rührt. Es ist spät am Abend, eine stabförmige Designerlampe ist die einzige Lichtquelle im Raum.
Plötzlich springt einer der Bewegungsmelder draußen an, lässt die Fluter im Hof aufstrahlen. Die Frau hebt den Blick von ihrer Tasse. Hatte das Telefon so gar keine Anziehungskraft auf sie, durchfährt sie jetzt ein Anflug von Neugier. Sie eilt ins Schlafzimmer, holt die Walther aus dem Nachtkästchen und schleicht nach unten. Instinktiv weiß sie, dass jemand auf dem Grundstück ist, dass es diesmal kein Waschbär ist.
Als sie eine der Glastüren zum Garten aufgeschoben hat, hört sie aus einiger Entfernung ein Tappen und Kratzen, dann Schritte im Kies. Die Geräusche kommen von der straßenzugewandten Seite des Hauses, irgendwo beim Garagenanbau. Sie lauscht, ein hastiges Schlurfen, das Sirren eines Reißverschlusses, Klebebandratschen, ein leises Ächzen. Sie tritt ins Licht, durchquert den Garten und geht die Auffahrt hinunter. Ein Klackern, ein Zischen, die junge Witwe geht an dem Rolltor vorbei, hinter dem ihr Sportwagen steht, biegt um die Ecke. Sie sieht eine menschliche Silhouette, die von oben von der Garage hängt, Kapuze, ein Arm, der in Zickzackbewegungen Farbe an die Wand sprüht. So vertieft ist die Gestalt in ihr Werk, dass die Witwe erst ihre Pistole heben und ein halblautes Hey rufen muss.
Die Person zuckt zusammen, zieht rasch ihre Gliedmaßen auf das Dach zurück. Kurz ragt noch einmal die Kapuze über den Gebäuderand, dann knackt der Kies, ein Schlittern, ein Straucheln auf der Rückseite der Garage. Die dunkle Silhouette kämpft sich durch Eibenbüsche zurück auf die Straße, der Rhythmus von Turnschuhen hallt auf dem Asphalt, verschwindet in der Nacht. Erst jetzt sieht die Witwe sich selbst, ihren Schatten, groß und verzerrt auf den Hof projiziert. Der Hausmantel lässt sie breit und bedrohlich aussehen, sie ist ein gigantischer Umriss mit ausgestreckter Waffe.

Da Krishna an Arbeitslehre und Textilgestaltung keinen Spaß, dafür aber einen schönen Körper hatte, begann sie, für Fotografen Modell zu stehen. Mit siebzehn hatte sie genug zusammengespart, um bei der Mutter auszuziehen, wohnte in einem schmuddeligen Loch. Sie ging zu Modelcastings. Weil die Bezahlung stimmte, beteiligte sie sich auch an Pornoproduktionen. Der unterkühlte Sex langweilte sie jedoch genauso sehr wie der Unterricht in Rechnungswesen.
Beim zwölften, vierzehnten oder achtzehnten Casting klappte es dann, und in den folgenden zwei Jahren war Krishna immer wieder in den Katalogen von Billigkleidermarken zu sehen. Sie zog in einen anderen Stadtteil und arbeitete als Messehostess. Ihr Englisch war nicht das allerbeste, aber weil sie die erwarteten Umgangsformen aus dem Effeff beherrschte, stieg sie trotzdem bald zur VIP-Hostess auf. Sie lernte jede Menge reiche und wichtige Männer kennen. Genoss, wie die Schlipsträger und Scheichs um ihre Blicke buhlten, im Messerummel danach dürsteten, sich von ihr Champagner reichen zu lassen. Manchmal umgarnte sie die Kunden, zog sich anschließend mit dem Versprechen auf baldige Wiederkehr und Tramezzini zurück und ließ die Männer absichtlich eine geraume Zeit warten. Immer nur gerade so lang, dass sie keinen Ärger bekam. Lang genug jedoch, um aus einem Versteck heraus die suchenden Blicke, die gerunzelten Stirnen und die aufkeimende Verwirrung, vielleicht doch vergessen worden zu sein, beobachten zu können. Very important persons beim Schwitzen zusehen, mächtige Männer warten lassen, das war ihr heimliches Vergnügen.

Die junge Witwe wird vom Telefon geweckt. Das Morgenlicht frisst einen rötlichen Schlitz in die Samtwand vor dem Fenster. Der Geruch des Gatten driftet noch durch die Wohnung, sie atmet das Gespenst ein, wartet, bis das Klingeln aufhört, atmet erst dann wieder aus. Von draußen ist ein melodisches Wispern zu hören, Vogelstimmen, die gedämpft durch die Vorhänge dringen.
Eine halbe Stunde später zieht die junge Frau den Samt beiseite, hört den Anrufbeantworter ab. Der Finanzchef von Little Lamb Baby Foods bittet um dringenden Rückruf. Sie sucht, während die Kaffeemaschine kreischend Bohnen mahlt, die Telefonnummer von Olga Sonowska heraus. Nimmt sich vor, sie, die Assistentin ihres Mannes für über zehn Jahre, gleich morgen zum Abendessen einzuladen. Niemand weiß so gut über das Unternehmen bescheid wie Sonowska, hatte er immer gesagt. Als die Witwe ihre Finger um den Kaffeebecher legt, klingelt erneut das Telefon. Sie schließt die Augen, zählt bis zehn, hat nicht mehr dieselbe Freude daran wie früher, einen Geldsack sitzen zu lassen.

Manche von den Messekunden versuchten, Krishna auf ein Wochenende in die Alpen zu entführen, auf einen Segeltörn auf den Bodensee, zu einer Modenschau nach Milano. Die Hostess nahm nur ein Viertel der Einladungen an und war trotzdem mindestens einmal im Monat mit einem Verehrer unterwegs.
Helgo Zättervall, der Besitzer von Little Lamb Baby Foods, war besonders kreativ in der Auswahl seiner Ausflugsziele. Mit ihm ging Krishna zum Fallschirmspringen, badete in geothermischen Quellen, unter seiner Aufsicht lernte sie reiten, erwarb ihre Fahrerlaubnis und machte den Waffenschein. Der Mann hatte schütteres, rotes Haar, zusammengewachsene Zehen und aß leidenschaftlich gern Kümmelkäse. Auf einem Hausboot in einem norwegischen Fjord machte Zättervall der jungen Frau schließlich einen Heiratsantrag.
Krishna, gerade vierundzwanzig geworden, erbat sich Bedenkzeit. Sie flog zurück nach Deutschland, lag vier Nächte lang wach und grübelte. Sie kam auf keine bessere Idee. Jeder Weg, den sie sich ausmalte, führte irgendwann in die Wüste. Die Hostessenagentur zog Jahr für Jahr neues Personal an Land, junge Schönheiten aus aller Herren Länder, Krishna war sich ihrer Ersetzlichkeit bewusst. Sie hatte keinen Berufsabschluss und als Model würde sie maximal vier oder fünf weitere Jahre arbeiten können. Sich wie ihre Mutter als Kellnerin, Kindermädchen oder Kurierfahrerin über Wasser zu halten, kam für die junge Frau nicht in Frage. Früher oder später musste sie also diese Karte spielen, früher oder später musste sie einen Antrag annehmen. Ob es nun Zättervall oder einer der anderen Männer war, spielte im Grunde keine Rolle.
Nach knapp einer Woche hielt der Babynahrungsmagnat es nicht mehr aus. Er kam Krishna in ihrer kleinen Innenstadtwohnung besuchen, der Strauß aus hundert roten Rosen passte kaum durch die Tür. Zättervall warf sich vor der jungen Frau auf den Boden, wiederholte seinen Antrag und fügte hinzu, wenn sie nicht sofort zusage, würde er sich jetzt und hier aus dem fünften Stock stürzen. Sie sagte ja.

Gegen neun Uhr verlässt die Witwe das Haus, sieht sich das Graffiti, das der nächtliche Besucher hinterlassen hat, zum ersten Mal genauer an. Es ist ein Schemen, so schwarz wie der Schatten, den sie selbst in der Nacht auf den Hof warf. Eine finstere Wolke, horizontal hingestreckt auf dem Eierschalenbeige der Garagenwand.
Erst beim zweiten Hinsehen fallen der jungen Witwe die Unebenheiten auf, der große schwarze Fleck hat Kiemen. Sie tritt näher. Ein weißes Rechteck hebt sich rings um die düstere Wolke ab. Erst dann begreift sie. Eilt in die Garage, bugsiert eine Klappleiter hinaus und steigt zu dem Graffiti hoch. Das anderthalb mal zwei Meter messende Stück Pappe ist notdürftig mit Klebeband am oberen Garagenrand befestigt, der Sprayer hatte keine Zeit mehr, es abzuziehen. Sie greift nach der Schablone, die sich beim Lösen in sich zusammmenfaltet und das darunterliegende Wesen offenbart. Eine gestreifte Katze, schleichend. Erst denkt die Witwe an einen Tiger. Aber ihr fällt auf, wie hart und unorganisch die eierschalefarbenen Streifen den Katzenkörper in Segmente teilen. Als hätte jemand das Raubtier mit einem Laserstrahl in Scheiben geschnitten. Es hält den Kopf gesenkt, sein weicher, geduckter Gang wirkt niedergeschlagen. Es ist ein Panther hinter Gitterstäben.
Die Umrisse seiner Vorderpfoten und sein Kopf sind nur spärlich mit Farbe gefüllt. Auch im Leib gibt es dünn besprenkelte Stellen, unter dem Tier einige formlose Hauche von Schwarz, in denen sich Buchstaben andeuten. Die Witwe klettert von der Leiter, stößt mit der Ferse gegen eine Sprühdose, hebt sie auf, ein grelles Pink. Sie entfaltet die Schablone und entziffert den Schriftzug, der als Bildunterschrift gedacht war. Hinter tausend Stäben keine Welt, steht da. Die Phrase kommt der Frau bekannt vor, sie starrt die Worte an und fragt sich, warum gerade jetzt die Tränen über ihre Wangen rinnen, die seit dem Tod ihres Mannes nicht fließen wollten.

Kurz nach Mitternacht schickt der Mann mit dem Geld eine besorgte Nachricht an die Künstlerin. Als diese sich auch den ganzen nächsten Tag über nicht meldet, ruft er sie an. Lässt es wieder um Mitternacht klingeln, als wäre sie eine heimliche Geliebte, als hätte sie sich noch nicht weit genug hochgearbeitet, damit er wie ein normaler Geschäftspartner am Tag mit ihr telefoniert.
Sie hätte das Säuseln des Handys beim Klackern der Spraydosen fast nicht gehört. An der Mauer über ihr klebt eine Schablone, bäumt sich ein Nilpferd mit Stierhörnern, ein Behemoth mit weit aufgerissenem Maul, der einen Flamingo verschlingt. Die Künstlerin flucht und sprüht weiter. Drei Minuten später hört sie erneut das leise Wimmern des Telefons. Das Graffiti ist fertig, sie reißt die Schablone ab, kickt ihren Rucksack ein Stück zur Seite und duckt sich ins Gebüsch. Sie schaut aufs Display, nimmt das Gespräch an. Früher oder später wird sie dem Mann mit dem Geld erklären müssen, dass sie kein Interesse mehr an seiner Vermittlung hat.
»Du veräppelst mich doch? Ich habe Treffen mit den drei einflussreichsten Galeristen in der Region für dich arrangiert.«
»Und alle drei haben auf meine Bilder reagiert wie auf vergammelte Spiegeleier.«
»Gib der Sache Zeit. Arbeite an deinem Stil.«
Die Lichtkegel eines Autos wandern im Schneckentempo vorüber. Die Sprayerin rückt tiefer in die Blätter, stößt mit dem Rücken gegen einen Maschendrahtzaun.
»Ich will nicht mehr. Keine Lust, denen zu gefallen.«
»Überrasch sie doch beim nächsten Mal. Sei frech. Mach was Neues.«
»Nein. Wirklich. Ich bin raus. Keine Zeit zu diskutieren jetzt.«
Es herrscht eine kurze Stille. Das Auto ist vorbeigefahren, hat angehalten. Ein Streifenwagen. Die Künstlerin hört, wie der Fahrer den Rückwärtsgang einlegt.
»Du bist das dümmste und undankbarste Wesen, das mir je begegnet ist. Und dir habe ich Bilder abgekauft! Ja also: Schmeiß dein Talent eben weg. Ich wünschte, ich hätte dich wenigstens vorher noch gefickt. Tschüss.«
Die Autotüren springen auf, die Sprayerin erstarrt. Die Strahlen zweier Stablampen tasten das Nilpferdmonster ab und beginnen anschließend, das spärliche Gebüsch zu durchkämmen.
»Würden Sie bitte aufstehen und sich zeigen?«
Die Künstlerin erwägt, dass sie gerade die Miete für den nächsten Monat in den Wind geschlagen hat, und zieht die Flucht über den Zaun in Betracht. Sie reckt ihren Hals, verdreht die Augen nach oben, der Maschendraht ist etwa zwei Meter hoch. Bis sie sich hinübergehangelt hätte, würden die Beamten sie längst an den Hosenbeinen wieder herunterziehen. Sie bleibt hocken. Zwanzig Sekunden vergehen, ohne dass etwas geschieht.
»Kommen Sie raus, wir sehen Sie doch!«
Ein Blatt fällt lautlos durch das Geäst und streift die Wange der Sprayerin. Ein paar Bäume weiter flötet ein Nachtvogel eine fragende Melodie. Die junge Frau atmet tief ein und kriecht schließlich aus ihrem Versteck.

[…]

(Auszug aus einer Kurzgeschichte, «eine Werkstattschau», ein Einblick in etwas Werdendes)

Fee Katrin Kanzler, 1981 geboren, studierte Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, erhielt den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm und das Jahresstipendium für Literatur vom Land Baden-Württemberg. 
Ihr Roman »Die Schüchternheit der Pflaume« (FVA 2012) war für den »aspekte«-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Debüt des ZDF nominiert. Im Herbst 2016 erschien ihr Roman »Sterben lernen«.

Rezension von «Sterben lernen» auf literaturblatt.ch

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«Menschenrechte. Weiterschreiben», herausgegeben von Svenja Herrmann und Ulrike Ulrich, Salis Verlag

Die Menschenrechte werden 70, erreichen das Greisenalter, drohen zu sterben, auch wenn die hohen Hallen der UNO Ewigkeiten ausstrahlen. Svenja Hermann und Ulrike Ulrich, zwei Schriftstellerinnen, die sich vor zehn Jahren schon einmal daran machten, als Herausgeberinnen den Menschenrechten zu einem Jubiläum eine literarische Stimme zu geben, luden zusammen mit Amnesty International und dem Literaturhaus Zürich zur Buchtaufe von „Menschenrechte. Weiterschreiben“ ein.

Art. 1
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Vor 70 Jahren, von den Schrecken eines Weltkriegs gebrannt, im Wissen darum, dass nur Toleranz und Völkerverständnis, gleiche Rechte für alle und ein einigermassen verbindliches Gefühl für Sicherheit eine weitere kriegerische Katastrophe verhindern kann, formulierte man 30 Artikel allgemein gültiger Menschenrechte. Die UNO machte sich zum Hüter des Grals, baute hohe Häuser, hisste viele Fahnen, schützte sich mit blauen Helmen und glaubte daran, dass Dialog der einzige Weg sein müsste, die Welt vor einem erneuten Aufflammen globalen Krieges zu schützen.

Art. 5
Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.

Statt dessen sind Politik und Wirtschaft der Welt der Arroganz wie niemals zuvor ausgeliefert. Wer die 30 Artikel der Menschenrechte liest, schüttelt den Kopf. Nicht über deren Inhalt, sondern über ihre Bedeutungslosigkeit angesichts selbstverliebter Potentaten und allmächtiger Konzerne. Wer sie wirklich liest und sich auf sie einlässt, spürt die Hoffnung, die darin steckt, den Glauben an die Menschheit, den ungebrochenen Glauben an eine menschenwürdige Zukunft, dass Wissen, dass einzig Toleranz und Respekt einer drohenden Katastrophe entgegenwirken können. Das Lesen der 30 Artikel der Menschenrechte schmerzt, tut weh, dieser selbstverständliche, gradlinige Ton, diese Sätze, die offensichtlich und überall mit Füssen getreten werden, sei es von den eigenen Politikern im Land, den umsatz- und wachstumsgeilen Wirtschaftskäpitänen oder selbstverliebten Staatsoberhäuptern diesseits und jenseits der grossen Wasser. Die Distanz und Diskrepanz zwischen formuliertem Recht und globaler Wirklichkeit sind hanebüchen.

Art. 12
Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Jeder hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen.

30 Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus allen Landesteilen der Schweiz wurden von den Herausgeberinnen angefragt und durch das Los an einen der 30 Artikel der allgemeinen Menschenrechte zugeteilt. Entstanden sind 30 unterschiedlichste Texte, Geschichten, Gedichte, Gedanken, Essays. Literatur als Trägerin universeller Werte, die durch die Menschenrechtserklärungen verdeutlicht werden. Ein Zeugnis davon, wie weit diese Erklärungen gefasst werden können, wie leidenschaftlich sich die und der Schreibende dazu äussert.

Art. 23
Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit. Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen. Jeder hat das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten.

Das Buch soll zum Nach- und Weiterdenken anregen, beweisen, dass nicht gezweifelt wird an ihrer Relevanz und Stärke. In einer Zeit, in der es 70 Jahre nach der Verschriftlichung nicht mehr um Forderung, sondern um bitternotwendige Verteidigung geht. Menschenrechtskriege, Menschenrechtsverletzungen geschehen nicht nur in der Ukraine, in der Türkei, in den Strassenschluchten amerikanischer Grossstädte und staatlich organisiert an Völkern wie den Uiguren in China. Wer die Menschenrechte liest, und dazu braucht es keiner besonderen Interpretationen, stellt fest, dass es vor der Haustüre brennt, dass man uns selbst in der Schweiz fast jedes Jahr dazu zwingt, an der Urne gegen die gesetzlich verankerte Verletzung anzukämpfen.

„Das Gewissen ist ein Gefäss mit Löchern.“ Gianna Molinari

Autorinnen und Autoren:
(D) Amina Abdulkadir, Sacha Batthyany, Urs Faes, Catalin Dorian Florescu, Lea Gottheil, Petra Ivanov, Daniel Mezger, Gianna Molinari, Werner Rohner, Ruth Schweikert, Monique Schwitter, Eva Seck, Henriette Vásárhelyi, Benjamin von Wyl, Julia Weber, Yusuf Yeşilöz
(F) Odile Cornuz, Isabelle Capron, Daniel De Roulet, Heike Fiedler, Max Lobe, Noëlle Revaz, Sylvain Thévoz
(I) Laura Accerboni, Vanni Bianconi, Francesco Micieli, Alberto Nessi, Fabio Pusterla
(R) Göri Klainguti, Leo Tuor
Svenja Herrmann, 1973 in Frankfurt a. M. geboren, Schriftstellerin, Studium der Germanistik und Rechtsgeschichte, Schriftstellerin (Lyrik), seit vielen Jahren als Begabungsförderin im Bereich Literatur tätig, vor mehr als zehn Jahren hat sie »Schreibstrom« ins Leben gerufen: Ein Projekt für kreatives und literarisches Schreiben für Kinder und Jugendliche in und um Zürich, Lerntherapeutin i.A.  Jüngstes genreübergreifendes Vermittlungsprojekt in Zusammenarbeit mit der Regisseurin Bettina Eberhard: Video Poem für Jugendliche. Für ihre literarischen Arbeiten wurde Svenja Herrmann mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit einem Atelierstipendium der Landis & Gyr Stiftung (2015) und mit einem Werkbeitrag des Kantons Zürich Herbst 2015.
Ulrike Ulrich, 1968 in Düsseldorf geboren, Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Publizistik. Seit 2002 lebt und arbeitet sie in der Schweiz. 2010 erschien ihr Romandebüt »fern bleiben« im Luftschacht Verlag in Wien. 2008 erschien die Anthologie »60 Jahre Menschenrechte – 30 literarische Texte« im Salis Verlag. Sie ist Mitglied der Literaturgruppe index (www.wortundwirkung.ch). Ihre Texte wurden mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie 2010 den Walter Serner-Preis und einen Anerkennungspreis der Stadt Zürich, 2011 den Lilly-Ronchetti-Preis.

Karl Rühmann «Glasmurmeln, ziegelrot», rüffer & rub

Eine Kindheit im Jugoslawien Titos. Ein kleiner Junge, der seine Welt zu verstehen versucht und mit seinem kindlichen Blick mehr entlarvt als die abgeklärten Blicke der Erwachsenen. Der Junge versteht vieles nicht. Aber im Gegensatz zu den Erwachsenen geht dieser mit seinem Unverständnis  kreativ um, macht seine Geschichten zu einer Welt, die ihn zu tragen vermag.

Karl Rühmann ist mit seinem Roman «Glasmurmeln, ziegelrot» ein ungeheuer poetisches Geschichtenbuch gelungen, das in seiner mosaikartigen Erzählweise, den schimmernden Miniaturen, die sich zu einem wunderbaren Ganzen fügen, ein überaus beeindruckender Wurf ist. Ein Buch, dem ich von Herzen jene Aufmerksamkeit wünsche, die es verdient. Ein Verlag, dem mit diesem Roman Türen geöffnet werden sollen. Und ein Autor, der zwar schon lange schreibt, aber nun endlich mit jenem Wurf, der ihm Ehre gebührt.

Karl Rühmann erzählt vom Kind, manchmal in der ersten, manchmal in der dritten Person, oft im gleichen Abschnitt wechselnd, was dem Text etwas Flimmerndes gibt und ihn wegträgt von den Gefahren einer reinen Selbstreflexion. Mama ist eine Oberfee und das kleine Haus auf der Anhöhe eine schwebende Feenburg. Und die Grossmutter erzählt in Geschichten eingepackte Weisheiten, die der Junge mit sich trägt, die wirken, auch wenn er sie mit den erzählten Bildern kombiniert.

«Wenn man klein ist, hat man grosse Träume, viel grösser als man selbst und als der grösste Baum, auf den man je geklettert ist. Wenn man wächst, werden die Träume kleiner, und dann rutschen sie hinter die Kommode oder unters Bett, oder sie rollen ins Mauseloch, oder jemand steht darauf, ohne es tu bemerken.»

Das Kind versteht die Welt der Erwachsenen nicht, schon gar nicht die Bedeutung von Wörtern, die immer wieder gebraucht werden; Pflicht, Asyl, Zugeständnisse, zwecklos. Die Lehrerin wird zu einer Piratenfrau mit Goldzahn und ein Zug, den der Junge «Kennedy-Lok» nennt, nach dem amerikanischen Ritter, was ihn in der Schule nicht das einzige Mal vor den Direktor bringt.

Ein Kind, das seine Welt nicht versteht, das nicht verstanden wird, dem die Hauswartin, der Drache, nachschreit: «Was glotzt du! Du bist der Schlimmste von allen, du verfluchter Schwabe!» Der kleine Junge ficht Kämpfe aus, die man nur als Kind bestehen muss, in einer Welt, die für Erwachsene unsichtbar geworden ist. Die Schule eine Burg mit vielen Soldaten und wenigen Offizieren! Ein ganzes Land, ein ganzer Staat, jenes Tito-Jugoslawien, ein «sozialistischer» Vielvölker- und Einmannstaat, der in seiner restriktiven, staatlichen Paranoia gefangen ist.

«Glasmurmeln, ziegelrot» ist bezaubernd. So wie man die Welt durch eine Glasmurmel betrachten kann. Durch all die Verzerrungen einer kindlichen Wahrnehmung, durch die ungebrochene, naive Betrachtungsweise werden gar dunkle Seiten, bedrohliche Situationen und explosive Momente in ein schillerndes, letztlich leuchtendes Licht getaucht. Ein Blick, den sich der Autor bewahren musste, um so schreiben zu können. Uneingeschränkt empfehlenswert!

Rüffer und Rub? Ja, Rüffer und Rub, auch wenn der Verlag bis vor Kurzem ein reiner Sachbuchverlag war. Mutig und gut in Zeiten, in denen es Kleinverlagen, die sich auf das dünne Eis der Literaturveröffentlichungen wagen, immer schwerer fällt, sich neben Grossverlagen und in Grossbuchhandlungen zu behaupten. Ich wünsche dem Verlag mehr als Glück. Mit «Glasmurmeln, ziegelrot» ist ein vielversprechender Titel da!

Karl Rühmann (1959) verbrachte seine Kindheit in Jugoslawien und studierte Germanistik, Hispanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft in Zagreb und Münster. An der Story Academy der SAL in Zürich leitet er die Lehrgänge Literarisches Schreiben und Drehbuchautor/-in und arbeitet als Literaturübersetzer und freier Autor.

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Buchtrailer

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Alex Capus «Königskinder», Hanser

Tina und Max bleiben nach einem Ausflug auf dem Heimweg wider aller Vernunft eingeschneit auf dem Jaunpass in ihrem Toyota Corolla stecken. Dort in der Stille und Dunkelheit einer zugeschneiten Fahrerkabine beginnt Max die Geschichte der Königskinder zu erzählen, eine Liebesgeschichte, die im Greyerzerland beginnt, am Vorabend der Französischen Revolution, eine Geschichte, die an den Hof Ludwig XVI führt und wieder zurück in den Schoss der Berge.

Alex Capus wäre aber nicht Alex Camus, wenn er «bloss» eine rührende Liebesgeschichte erzählen würde, bei der die zuhörende Tina immer wieder einmal nachfragen muss, ob Max nicht zu dick auftrage und jener versichert, alles sei aktenverbürgt. Liebesgeschichten passieren, ob jene in und vor der Eisdiele damals mit Tina und Max oder jene zwischen Marie und Jacob vor fast 250 Jahren zwischen der Armut an den Hängen des Jaunpasses und der bröckelnden und stinkenden Feudalkultur am maroden Hof Ludwigs des XVI.

Jacob ist übriggebliebener Sohn einer Bauernfamilie. Er zieht sich auf der Alp seines Vaters zurück, lebt von dem, was die Alpwirtschaft abwirft und kehrt nur zur Übergabe des Viehs zurück ins Dorf, in dem er aufgewachsen war. Bis zu jenem Tag, als er Marie trifft, aus Blicken und einem Spaziergang in die Nüsse eine Liebe wird, die aber keine Chance hat. Maries Vater ist ein wohlhabender Bauer. Jacob ein «Halbwilder» ohne Familie, viel zu wenig für einen Bauer, der bei der Vermählung seiner Tochter strategisch denkt. Aber die Liebe lässt sich durch keine Strategie durchkreuzen. Marie und Jacob finden sich – aber Jacob muss das Land verlassen, um der Willkür des tobenden Bauern zu entkommen. Er wird Soldat am Ärmelkanal, später Kuhhirt am Hof Ludwig XVI, wo Élisabeth Philippe Marie Hélène de Bourbon, die Schwester des Königs vor den Toren Versailles ein «Landgut» betreibt, eine heile Welt direkt neben der zu Stein gewordenen Machtdemonstration des untergehenden Nachfolgers des einstigen Sonnenkönigs.

«Königskinder» ist ein Buch der Gegensätze. Hier die Geschichte Jacobs, der über Jahre auf einer Alp lebt, den Sommer durch mit Kühen und Rindern, im Winter mit sich allein. Eine Welt, die auch heute schnell ins Licht einer Idylle getaucht wird. Dort die Szenerie am Hofe des französischen Königs, der mit seinem vieltausendgrossen Hofstaat in einem Schloss haust, das kaum eine funktionierende Toilette besitzt. Hier stinkt es allerhöchstens im Stall, dort auch die langen Gängen Versailles, in den verwilderten Gärten und feuchten Zimmern.

Während sich Marie und Jacob dann doch noch finden, zu Königskindern werden, wälzt sich der Pariser Mob auf Versailles zu, tausende von Frauen, denen die vergessenen Soldaten des Königs nichts entgegenhalten können. Während sich eine Liebesgeschichte in der durch Mauern geschützten Idylle eines «Musterhofs» entfaltet, tut dies auch die Unzufriedenheit eines ganzen Volkes, das in den Monaten vor der Französischen Revolution auf den Untergang einer Jahrhunderte alten Monarchie zusteuert.

Alex Capus giesst nicht Öl ins Feuer. Unaufgeregt schildert er die Geschehnisse, die sich ganz automatisch in der Vorstellung des Lesers zum Drama wandelt. Alex Capus braucht weder Brandbeschleuniger noch Tricks, keine überraschenden Wendungen und keine aufschäumende Romantik. Allein sein Erzählen schafft Bilder, die bleiben. Da ist nichts verkrampft, kein Recherchewissen, das mir verkauft werden will. Einfach Erzählfreude, die zu Lesefreude wird, unverdünnt, konzentriert und echt.

Ich las «Königskinder» zusammen mit meinem Literaturzirkel. Zum Austausch über das Buch trafen wir uns in der «Galicia-Bar» in Olten, jenem zur Kultbar gewordenen Treffpunkt, die der Autor von der galizischen Heimwehbar zum Kulturtreff mit Ausstrahlung weit über die Stadtgrenzen hinaus machte.

Alex Capus, geboren 1961 in der Normandie, lebt heute in Olten. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten und Reportagen. Bei Hanser erschienen «Léon und Louise» (2011), «Fast ein bisschen Frühling» (2012), «Skidoo» (Meine Reise durch die Geisterstädte des Wilden Westens, 2012), «Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer» (2013), «Mein Nachbar Urs» (Geschichten aus der Kleinstadt, 2014), «Seiltänzer» (Hanser Box, 2015), «Reisen im Licht der Sterne» (2015), «Das Leben ist gut» (2016) und «Königskinder».

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Beitragsbild © Sandra Kottonau

Lukas Linder «Der Letzte meiner Art», Kein und Aber

Auch wenn man bei der Lektüre von «Der Letzte meiner Art» versucht sein kann, der Geschichte nur die schrägen Seiten abzugewinnen, die Überzeichnungen, die Konzentration an schrägen Typen, in Schieflache geratenen Akteure, die Geschichte im Theatralischen beinahe zu kippen droht, man geneigt ist, dem Roman seine Ernsthaftigkeit abzuerkennen. Zugegeben, «Der Letzte seiner Art» ist Groteske, aber vor glasklar realem Hintergrund – und herrlich zu lesen. 

Alfred von Ärmel ist von durchaus seriöser Erscheinung. Auch seine Familie, sein begabter grosser Bruder, sein Fabrikantenvater und die selbst im Alter blendend aussehende Mutter, die bis zu ihrem «Schluss» ein Dolde Verehrer zu mobilisieren vermag. Auch Alfreds bemerkenswerter Stammbaum geht zurück bis zur Schlacht von Marignano, als einer seiner Vorfahren mit gleichem Namen zum Held mit Helebarde wurde. Alfred von Ärmel würde sich liebend gerne in die Reihe heldenhafter von Ärmels stellen, aber alles in seinem Leben legt sich dieser Absicht quer: Ein steifer Vater, dem der Nachfolger in seiner Wimpelfabrik fehlt, eine hyperaktive, ruhelose Mutter, die ihn mit Verachtung straft und ein Bruder, der alles Wohlwollen bindet, dem man von Kindesbeinen eine grosse Zukunft voraussagt, der aber im entscheidenden Moment von der Bildfläche verschwindet, für immer.

Alfred von Ärmel ist ein Einsamer. War es schon als Kind, ohne Freunde in der Schule, ohne Liebe in der Familie, ohne Wirkung auf das weibliche Geschlecht, ohne Kraft, sich endlich als der Held zu zeigen, der er eigentlich sein möchte. Alfred ist ein aus der Zeit Gefallener, ein Überbleibsel aus der grossbürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts, mit Etikett und überheblicher Nobles im 21. Jahrhundert gestrandet. Auf der letzten Seite des Romans lässt Lukas Linder ihn sagen: «Ich war eine Witzfigur, eine Karikatur. Ich war der Letzte meiner Art.» Ein Don Quichot, ein Münchhausen, ein Ritter der traurigen Gestalt.

Als Leser folge ich dem armen Tropf von Niederlage zu Niederlage, auf der Suche nach jenem Moment, der ihn zum Helden macht, der den Vorhang fallen lässt, hinter den ihn die Zeit und seine Familie verbannt hat.

Der Reiz der Lektüre ist das Absonderliche, das Groteske. Dass ich als Leser das Gefühl habe, schon das Entstehen des Buches muss ein Vergnügen gewesen sein. Als hätte sich Lukas Linder von Logik und Stringenz befreit, um bei jeder Wendung der Geschichte eine Überraschung mehr zu kreieren. Als wolle sich der Autor bei diesem Buch auf jeder Seite, bei jeder Wendung dagegen stellen, dass dereinst die in diesem Fall abstruse Frage auftreten könnte, was denn nun an der Geschichte autobiographisch sei. Alles steht geschrieben und ist somit jene geschriebene Wahrheit zwischen zwei Buchdeckeln. Gekonnt inszeniert von einem preisgekrönten Theaterautor. So erfrischend erzählt, wie man es auf der kleinen Bühne dar Schweizer Literatur sonst nie antrifft.

Lukas Linder, geboren 1984 im Kanton Zürich, studierte Germanistik und Philosophie in Basel. Er ist Dramatiker, schrieb unter anderem für das Theater Basel und wurde mit mehreren Preisen, darunter dem Kleist-Förderpreis und dem Publikumspreis des Heidelberger Stückemarkts, ausgezeichnet. »Der Letzte meiner Art« ist sein Romandebüt.

Simone Regina Adams «Usambaraveilchen, Schrankpapier»

Oma stirbt. Als Kind hielt ich sie für unsterblich. Noch einmal betrete ich ihr düsteres kleines Haus durch die Hintertür. Ich setze den Fuß auf die Steinstufe, die so abgetreten ist, dass sie müde in der Mitte durchzuhängen scheint; diese eine Stufe geht es hinauf, dann hinter der Schwelle zwei gekachelte Stufen hinab und ich stehe in der Waschküche.
Gleich neben der Tür hängen Küchenschürzen, links steht der Holztisch, ein Wachstuch darauf, vom vielen Schrubben farblos geworden; vor mir der grauweiße Spülstein, mit dunklen, abgeschlagenen Kanten, der Boiler darüber.
Dann die frühere Küche, ein Durchgangsraum mit gefliestem Boden und einem dünn gewordenen Webteppich. Der Kühlschrank brummt vor sich hin. Der Gasherd steht daneben, abgedeckt, ein kariertes Tuch ist darüber gelegt. Hier ist es kalt; seit ein paar Jahren kocht Oma ihr Essen auf den zwei Elektroplatten im angrenzenden Zimmer. Ich schaue hinein.
Über der Eckbank hängt an der Wand eines dieser Holzscheibchen mit dem aufgeklebten Erinnerungsbild eines Ortes, mit Geranien, See und knallblauem Himmel; auf dem Beistelltisch steht ein Trockenstrauß, ein Engelsfigürchen, ein Jesusbild. Auf dem Tisch ein Korb mit Orangen und welken Delicious, eine Tüte mit altem Rosinenbrot, die Brotmaschine, von Hand zu kurbeln. Dahinter der Wandschrank, den ich als Kind mit Schrankpapier auszulegen hatte, und in dem sich immer eine Dose mit Mandarinen befand; auch ohne ihn zu öffnen, sehe ich das Besteck darin mit den bunten Griffen und das blumige Porzellan.
Fast alle Schränke in diesem Haus sind in die Wand eingelassen, in die Mauern des Hauses hineingedrückt, wie der Schrank mit dem Putzzeug unter der Treppenschräge, auch die Garderobe im Flur; sie scheint in der Wand verschwinden zu wollen, mitsamt dem dunklen Mantel, den Schals, dem schwarzen Schirm und dem Pelzkragen mit dem Fuchskopf an einem Ende. Hier stand ich als Kind, wenn die Glocken zur Messe riefen; ich wartete, bis Oma das Gebetbuch aus der Schublade genommen, den Mantel angezogen und den Pelz umgehängt hatte, so, dass der Fuchs mich mit seinen gläsernen Augen anstarren konnte, wenn Oma mich an der Hand nahm und mit mir zur Kirche ging.
Und da ist die Tür zur Stube. Dort liegt Oma. Nicht mehr auf dem Sofa, auf dem sie sonst ihren Mittagsschlaf hielt, sondern in einem Krankenbett. Das Sofa war immer das Herz, das Zentrum des ganzen Hauses gewesen; das Sofa, von dem aus ich kaum den Tisch überblicken konnte als Kind, auch wenn ich auf einem der rot bestickten Kissen saß oder auf der Wolldecke aus den vielen verschiedenen bunten Flecken, von den Pfarrfrauen gestrickt und zusammengenäht; der Hauptgewinn der Verlosung beim Kirchenbasar.
Jeden Samstag, wenn ich dort in der Stube saß mit Oma und Mama, begann nach dem Essen das Putzen und Abstauben, angefangen mit der Kommode und dem holzverkleideten Radio: diesem großen Kasten mit den geheimnisvollen Wörtern in goldener Schrift: HILVERSUM, MILANO, HELSINKI; mit den vielen perlmuttweißen Knöpfen zum Drücken und den braunen zum Drehen, dem stoffbezogenen Lautsprecher, aus dem immer erst ein Knacken und Rauschen und dann eine dröhnende Stimme kam. In der oberen Klappe versteckt ist ein kleiner Plattenspieler, mit Heintje und Froschkönig; wenn der Tonarm über der schwarze Scheibe zitterte, quakte heiser und kläglich der Frosch: „Königstochterjüngste, mach mir auf! Weißt du nicht mehr, was du mir versprochen hast? Am Brunnen, als ich dir die goldene Kugel holen musste …“
Doch beim Samstagnachmittagsputz blieb der Plattenspieler versenkt, nur die Madonna in der Muschelwand und die gerahmten Fotos auf den Spitzendeckchen wurden abgestaubt; auch beim Tisch mit dem Fernseher wurde alles hochgehoben, abgewischt und zurückgestellt, die dicke Kerze im Messingständer und sogar die zwei Brillenmäppchen auf dem Papierstapel von Zeitungen, Prospekten, dem Kirchenblatt.
Dort in der Stube saß ich als Kind auf dem Teppichboden, sortierte die Gummibärchen der Farbe nach, malte die Osterhasen in meinem selbstgebastelten Kalender bunt und baute Männchen aus Weinflaschenkorken. Oder lag auf dem Sofa, wartete auf das Essen und langweilte mich, betrachtete den Christus im goldenen Rahmen über mir mit seinen leidvollen Augen und dem lieblichen Lächeln. Opa auf dem Foto daneben schaute streng auf den Tisch herab, an dem Oma vor jeder Mahlzeit betete, kommherrjesus, seiunsergast; ich faltete die Hände wie sie und murmelte dazu; dann gab es Suppe mit Rindfleisch und Mayonnaise, und zum Kaffee Marmorkuchen und Obstkuchen vom Blech.
Ich stehe im Flur, neben dem Kippschalter für das Licht im Keller; eine Holztür führt dorthin, um sie zu öffnen, muss der Eisenhaken angehoben und zur Seite gedreht werden. Ich erinnere mich an das Kellergewölbe, den Kartoffelgeruch, die Äpfel auf den Holzstellagen. Später traute ich mich allein hinunter, doch auch dann noch war ich erleichtert, wenn ich wieder oben war.
Im ersten Stock ist Omas Schlafzimmer, das große Ehebett, in dem sie seit den Sechziger Jahren, seit Opas Tod, alleine schlief, wenn ich nicht gerade neben ihr lag. Es hat Matratzen wie für die Erbsenprinzessin; Matratzen, in denen ich einsank als Kind; die dicke, abgegriffene Kordel hielt ich fest in der Hand; wenn ich daran zog, ging das Licht wieder an. Dann sah ich die weißen Styroporplatten an der Decke und den Lampenschirm, hell, mit Blüten bemalt wie ein Lampion. Der Nachttopf unterm Bett und an der Wand die ewig tickende Uhr; immer schlief ich dort, neben Oma, nie in dem Zimmer nebenan, in dem Mama groß wurde; es ist ein kleines Zimmer, mit Kommunionsbildchen an der Wand. Und dahinter gibt es noch einen kaum benutzten Raum, mit wurmstichigen dunklen Holzmöbeln; auch da ein Wandschrank, den Oma feierlich öffnete; ihre Schätze darin: eingemachte Kirschen, Birnen, Zwetschgen und Marmelade. Sie übergab mir andächtig ein Glas, das ich mit beiden Händen halten sollte, wenn ich es zur Stube hinunter trug.
Später dann half ich beim wöchentlichen Putz, ich schrubbte die Treppe mit der Bürste, wischte jede Stufe mit dem Lappen nach, und den Gehweg draußen musste ich kehren; die immer gleichen Aufgaben an jedem Samstagnachmittag; danach fühlte ich mich befreit und froh, wenn Mama mit mir nach Hause fuhr.
Aber vorher ging Oma mit mir zum Schrank in der Stube, dort lag der Geldbeutel neben der Suppenterrine; eine Münze oder einen Schein bekam ich zur Belohnung, sie bekam ein Küsschen; und dann stand sie an der hinteren Türe und winkte uns nach, mit einer kleinen verstohlenen Handbewegung, eher so, als würde man einen Popo tätscheln.
Noch immer stehe ich im Flur. Oma wird sterben, man wird sie aus dem Haus tragen, nicht weit hat sie es bis zum Friedhof hin.
Soll ich hinein gehen?
Was werde ich sehen?
Die fast blinden Augen, den schmalen Mund, das Gesicht, das so ernst und bitter aussehen konnte. Angst hatte ich manchmal vor ihr, als Kind, wenn sie mit mir schimpfte; Angst vor dieser Härte, die kurz, unerwartet hervorblitzte und mich dann erschreckte, so wie der Jesus, der
verrenkt am Mahagonikreuz hing, so wie das Bild der Madonna mit den blutenden Augen. Den zarten Kopf mit dem edlen Gesicht hatte sie zur Seite geneigt, in den Augenwinkeln glänzten dicke Tropfen, leuchtend rot wie Nagellack.
„Oma, warum hat die Madonna so rote Augen?“
„Sie hat so viel weinen müssen, Kind, bis sie keine Tränen mehr hatte. Da hat sie Tränen geweint aus Blut.“
„Aber warum?“
„Weil die Menschen so böse sind. Darüber weint sie.“
Ich fragte nichts mehr.
All ihre Gebete, Vaterunser und Mariamitdemkindelieb, immerzu; jedes Gebet eine Münze, um sich einzukaufen, um sich einen Platz zu sichern im Paradies. Aber hat sie nicht manchmal in sich hineingelacht, mich auch gelobt und Verständnis gezeigt? Oma eine Insel, Zuflucht und ein
böser, gefährlicher Drache; nachts schnarchte sie laut und ich träumte vom bösen Wolf, der mich fraß.
Ich öffne die Tür zur Stube. Ich gehe hinein.
Auf diese Leute war ich nicht gefasst. Was tun sie hier? Nachbarn, entfernte Verwandte, die ich nicht kenne, sie sitzen schweigend auf Stühlen wie vor einer Bühne, starren auf ihre Hände oder das stille Schauspiel vor ihnen; langsam nicken sie mir zu.
Und da liegt Oma. Ich erschrecke. Ihr Gesicht ist eingefallen, sie trägt kein Gebiss. Sie braucht es nicht mehr.
Die Wangenknochen sind immer noch breit und markant, doch die Haut darüber ist dünn geworden. Ihr Mund ist weit geöffnet, die Augen hat sie geschlossen. In diesem Gesicht ist der Schmerz so unverhohlen zu sehen, dadurch wirkt sie so fremd. Sie ist beinahe schön.
Ihr langes, weißes Haar ist offen und weich wie bei einem Mädchen; nur von einem Haarband aus der Stirn gehalten, fließt es seitlich über die Kissen. Ein goldenes Kettchen trägt sie um den Hals. Sie hat hohes Fieber, ihre Brust hebt und senkt sich angestrengt. Ich halte ihre Hand, die trockenen Finger biegen sich nach innen. Sie ist nur noch Atem, Wärme und Körper; krank riecht sie, intensiv.
Nach und nach sind alle gegangen. Ich habe Angst davor, dass Oma stirbt, während ich ihre Hand festhalte; Angst davor, mit ihr und dem Tod alleine zu sein. Ich sollte mit ihr reden, ich müsste laut mit ihr sprechen, es fällt mir schwer. Eine Kerze habe ich angezündet und das grelle Licht ausgeschaltet, nur das sage ich ihr: Oma, ich hab eine Kerze für dich angemacht. Dann bin ich wieder stumm. Ich habe nichts zu sagen. Es gibt nichts zu sagen, nichts, das wichtig wäre; außer, dass ich da bin.
Noch einmal zusammen Kaffee trinken, denke ich, noch einmal das alte Ritual. Ich gehe in die Küche, stelle den Kessel auf die Herdplatte, schütte das Kaffeepulver in den Filter, so wie früher.
Die große Standuhr in der Stube schlägt schon lange nicht mehr. Ich öffne die Tür des Gehäuses und versuche, sie aufzuziehen. Es tönt in ihr, doch die alte Melodie fehlt, es ist nur noch ein leiser, zitternder Hall. Die Messingstäbe, die ich mit den Fingern berühre, klingen nach, aber die Tonfolge kriege ich nicht hin, dabei ist sie in mein Inneres gebrannt. Diese Uhr würde ich niemals haben wollen, bloß die Töne, die aus ihr kamen, alle Viertelstunde.
Der Kessel pfeift.
Ich trinke den Kaffee, und auch von dem Kuchen esse ich, der in der Küche stand; ich staune über mich selbst. Der leichte Ekel, den ich gespürt hatte, als ich hereinkam, hatte mich erst daran gehindert, zu essen. Und jetzt tue ich es doch. Marmorkuchen, trocken und krümelig, schwer zu schlucken. Ich trinke den Kaffee dazu. Es ist ein letztes gemeinsames Kaffeetrinken, auch wenn Oma nicht mehr neben mir sitzt, erzählt und mir zuhört, sondern dort liegt und mit dem Tod kämpft.
Inzwischen ist es dunkel geworden. Ich warte auf meine Ablösung und bin erleichtert, als endlich jemand kommt. Ich rufe Oma und sage ihr, sie soll mich noch einmal anschauen.
Tatsächlich öffnet sie die Augen und blickt mich an; ich komme ihr näher, damit sie mich genauer sieht. Eine Träne läuft über ihre Wange.
Ich bin nicht mehr alleine mit ihr. Ich verabschiede mich.
Hätte sie gesprochen, wenn sie es gekonnt hätte? Was hätte sie sagen wollen? Was hätte ich sagen wollen, wo mir doch die Worte fehlten?
In der Nacht werde ich wach. Der Kaffee ist mir auf den Magen geschlagen; ich bin unruhig und denke, dass Oma vielleicht in diesem Moment stirbt. Aber sie ist erst später gestorben, am Abend darauf.
Ein Leben, fast so lang wie ein Jahrhundert, ist zuende. Sie, die sonst alles im Griff hatte, meistens kühl und gefasst war und mir so unbezwingbar erschien; nur einmal habe ich sie anders gesehen, aufgelöst, kämpfend – und schließlich ergeben.
Zehn Jahre ist das her. Manchmal träume ich, weniger von Oma als von ihrem Haus. Nachts, in meinen Träumen ist alles noch da, steht alles am alten Platz. Dabei ist das Haus längst abgerissen, verschwunden.
Bei Tage ist es eine versunkene Welt; nur einzelne Dinge und Worte bleiben sichtbar trotz der Tiefe, in der sie liegen. Sie schimmern geheimnisvoll unter Wasser, vermooste, verrostete Wracks; Begriffe wie: Spülstein, Boiler und Bettumrandung, Usambaraveilchen und Schrankpapier.

Simone Regina Adams, 1967 im Saarland geboren, lebt in Freiburg im Breisgau. Studium der Literaturwissenschaft und Psychologie, seit 1995 Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Sie war mehrfach Stipendiatin des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg (2006-2013), Stipendiatin des Stuttgarter Schriftstellerhauses (2014) sowie Stipendiatin in Friedrichskoog an der Nordsee (2016). Ihr Roman «Die Halbruhigen» wurde 2011 mit dem Werner-Bräunig-Preis ausgezeichnet.

Rezension von «Flugfedern» auf literaturblatt.ch

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Literatur ist Musik, Musik sind Geschichten! Julia Weber mit Sound!

Wortklang – Klangwort will Literatur und Musik zueinanderführen. Zwei Künste, die sich um Bilder und Geschichten bemühen, die Emotionen wecken. Eine ganz besondere Eventreihe mit junger CH-Literatur!

„Was für ein wunderbarer Abend im Theater 111 in St. Gallen! Mit Musik zu lesen, war für mich eine neue Erfahrung.“ Dana Grigorcea, Schriftstellerin

Im ehemaligen Kinok, einem Kleintheater mit Kinobestuhlung, verschmelzen Text und Musik, entsteht Kopfkino der besonderen Art. Bisher traten Yael Inokai (Trägerin des Schweizer Literaturpreises), Arja Lobsiger und Dana Grigorcea zusammen mit dem Musikerduo Stories auf.

„Es war ein einzigartiges, unvergessliches Erlebnis, mit Dominic Doppler und Christian Berger auf der Bühne zu stehen und meine Worte in ihren Klangteppich zu weben.“ Arja Lobsiger, Schriftstellerin

Zusammen mit den Musikern Christian Berger (Saiteninstrumente) und Dominic Doppler (Drums) wächst eine ganz besondere Lesereihe im Theater 111 in St. Gallen. Eine Lesereihe mit jungen Schweizer Autorinnen in Verbindung mit improvisierter Musik.

„Hier gegangen und gesessen, ein ganzes Filmuniversum durchschritten, ich hab einen Abend hier verbracht oder ein komplettes Romanleben.“ Yael Inokai, Schriftstellerin

Am Samstag, den 8. Dezember, um 20 Uhr, im Theater 111 in St. Gallen ist der nächste Gast Julia Weber (Franz Tumler Literaturpreis, Alfred-Döblin- Medaille). Sie liest aus ihrem Roman „Immer ist alles schön“.

Julia Weber, 1983 in Tansania geboren, gründete 2012 den „Literaturdienst“ und 2015 die Kunstaktionsgruppe „Literatur für das, was passiert“, die sich mit weiteren Autoren zusammengetan hat, um mit ihrem Schreiben Menschen auf der Flucht zu helfen. 2017 erschien ihr Debütroman „Immer ist alles schön“. Der Roman erhielt viele Preise und stand unter den Nominierten des Schweizer Buchpreises 2017. Anais und Bruno versuchen sich und die Mutter zu schützen vor der Aussenwelt, die in Gestalt von Mutters Männern mit Haaren auf der Brust in der Küche steht. Oder in der Gestalt von Peter, der ihre Wohnung seltsam findet und nichts anfangen kann mit den tausend, auf der Strasse zusammen gesammelten Dingen. In Gestalt eines Mannes vom Jugendamt, der viele Fragen stellt, sich Notizen macht, der Anais und Bruno betrachtet wie zu erforschendes Material, und in Gestalt einer Nachbarin, die im Treppenhaus lauscht. Je mehr diese Aussenwelt in ihre eigene eindringt, desto mehr ziehen sich die Kinder in ihre Fantasie zurück.

Ausblick: Am Samstag, 12. Januar, 2019, liest Noëmi Lerch aus ihrem Roman „Grit“.

Infos unter theater111.ch, christianberger.ch oder literaturblatt.ch!

José Eduardo Agualusa, ein Geschichtenzauberer in Zürich

José Eduardo Agualusa, der zu den bedeutendsten afrikanischen Schriftstellern der Gegenwart zählt, las im Literaturhaus Zürich zusammen mit seinem Übersetzer Michael Kegler aus seinem 2017 erschienenen Roman „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ (C. H. Beck).

„Überwinden wir unverdauliche Geschichte durch obsessives Vergessen oder obsessives Erinnern?“

Warum reist man vom Rand der Schweiz nach Zürich, um einem Autor aus Angola zu lauschen? Weil in jenem Urlaub vor ein paar Monaten im Ruheraum des Hotels beim Lesen etwas geschah, was bei der Lektüre von Büchern nur ganz selten geschieht; das Gefühl gänzlichen Durchdrungenseins. Als ob beim Lesen Resonanzräume ins Schwingen kommen, die von Sprache sonst kaum je bewegt werden. Ein Gefühl des Erkennens.

Eine Frau will nicht mehr aus einer Wohnung, einem Haus. Unter dem Schutz ihrer Schwester lebt sie, von Panikattacken (Agoraphobie) geplagt, in Luanda in Angola, in einer turbulenten, gewaltigen Zeit, während und lange nach dem Bürgerkrieg. Sie mauert sich buchstäblich ein, nachdem sie das Schicksal, die Zeit, die Schwester und der Schwager alleine gelassen hatten. 30 Jahre in einer Wohnung ganz oben unter dem Dach, weit über dem Geschehen, eingeschlossen in einen vergessenen Hohlraum zwischen den Welten.

José Eduardo Agualusa lebte langen selbst in der Stadt Luanda, in Zeiten grosser Intoleranz. Die Hauptrolle in seinem Roman spielt nicht die Frau, die der Realität entflieht, die sich 30 Jahre eingemauert versteckt, sondern das Haus mitten in einer Stadt, einem Land, das auseinanderbricht. Auf Grund von Drohungen, die gegen José Eduardo Agualusa ausgesprochen wurden, dachte er immer mehr darüber nach, wie es wäre, wenn er seine Wohnung für lange nicht mehr verlassen würde, um sich vor allen Unbill zu verstecken.

Auch Ludo im Roman ist eine Frau, die sich versteckt, sich vollkommen zurückzieht, sich nicht nur mit Ziegeln zumauert, sondern mit Angst und Vorurteilen. Am meisten interessierte Agualusa die Frage nach der Angst, einer Schattierung von Vorurteilen. Ludo verändert sich in ihrer jahrzehntelangen Verborgenheit, bis ausgerechnet ein Kind, kindlicher Entdeckergeist, der Hunger, die alt gewordene Frau befreit.

Ein vielschichtiges Buch über Abgrenzung, das Errichten von Mauern, aktueller denn je. „Das Haus der Beneideten“ steht mitten in einer Stadt. In der Wohnung unter dem Dach schiesst Ludo in ihrer Verzweiflung durch die Wohnungstür, weil Männer sich daran machen, die Tür mit Gewalt zu öffnen. Ludo schiesst, trifft einen der Männer, während der andere flieht. Sie zieht den Toten in die Wohnung, verscharrt ihn in einem der Gartenbeete auf dem Dach und mauert die Türe zu mit Ziegeln, die für einen Pool bereitliegen. „Jetzt sind nur noch wir da“, sagt sie zu Fantasma, ihrem Hund.
 Sie bleibt 30 Jahre hinter ihrer selbst gebauten Mauer, auf einer Insel über der Realität.

Das Haus widerspiegelt die Geschichte Angolas seit der Unabhängigkeit, hinein in den Marxismus und mit dem fast gleichen Personal weiter in den Kapitalismus hinein. Der Reichtum des Präsidenten José Eduardo dos Santos, das gutbürgerliche Leben im „Haus der Beneideten“, wurde vom Marxismus eingenommen und später von der angolanischen Bourgeoisie zurückerobert, beobachtet von Ludo, von Fenster zu Fenster, von Stockwerk zu Stockwerk. Das Buch ist voller Figuren, voller Geschichten, durchsetzt von der magischen Erzählkraft des Autors und seiner Herkunft, ein Buch, das jedem Protagonisten „eine zweite Chance geben soll“. Ein Buch über die absurdesten Momente, die man sich nur vorstellen kann, über Absurditäten, auf die der Mensch ganz lapidar reagiert. Je absurder, desto wahrscheinlicher.

José Eduardo Agualusa interessiert das Böse, was in Menschen und Räumen geschieht, wenn alle Regeln, Gesetze und Konventionen ausser Kraft gesetzt werden. „Ich will verstehen.“

Der Abend im Literaturhaus Zürich mit José Eduardo Agualusa, seinem Übersetzer Michael Kegler und dem Schauspieler Armin Berger war eine Offenbarung!

José Eduardo Agualusa, 1960 in Huambo/Angola geboren, studierte Agrarwissenschaft und Forstwirtschaft in Lissabon. Seine Gedichte, Erzählungen und Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, für seinen Roman „Ein Stein unter Wasser“ (1999) erhielt er den Grande Prémio de Literatura da RTP. Auf Deutsch erschienen die Romane „Die Frauen meines Vaters“, „Barroco Tropical“ und „Das Lachen des Geckos“, für den er 2007 den britischen Independent Foreign Fiction Prize erhielt. „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ stand auf der Shortlist des Man Booker International Prize 2016 und erhält 2017 den hochdotierten International Dublin Literary Award für „A General Theory of Oblivion“.
Agualusa lebt als Schriftsteller und Journalist in Portugal, Angola und Brasilien.

Rezension von «Eine allgemeine Theorie des Vergessens» auf literaturblatt.ch

José Eduardo Agualusa studiert das Literaturblatt mit der Rezension zu seinem Roman «Eine allgemeine Theorie des Vergessens». Foto: Michael Kegler