Karl Rühmann «Glasmurmeln, ziegelrot», rüffer & rub

Eine Kindheit im Jugoslawien Titos. Ein kleiner Junge, der seine Welt zu verstehen versucht und mit seinem kindlichen Blick mehr entlarvt als die abgeklärten Blicke der Erwachsenen. Der Junge versteht vieles nicht. Aber im Gegensatz zu den Erwachsenen geht dieser mit seinem Unverständnis  kreativ um, macht seine Geschichten zu einer Welt, die ihn zu tragen vermag.

Karl Rühmann ist mit seinem Roman «Glasmurmeln, ziegelrot» ein ungeheuer poetisches Geschichtenbuch gelungen, das in seiner mosaikartigen Erzählweise, den schimmernden Miniaturen, die sich zu einem wunderbaren Ganzen fügen, ein überaus beeindruckender Wurf ist. Ein Buch, dem ich von Herzen jene Aufmerksamkeit wünsche, die es verdient. Ein Verlag, dem mit diesem Roman Türen geöffnet werden sollen. Und ein Autor, der zwar schon lange schreibt, aber nun endlich mit jenem Wurf, der ihm Ehre gebührt.

Karl Rühmann erzählt vom Kind, manchmal in der ersten, manchmal in der dritten Person, oft im gleichen Abschnitt wechselnd, was dem Text etwas Flimmerndes gibt und ihn wegträgt von den Gefahren einer reinen Selbstreflexion. Mama ist eine Oberfee und das kleine Haus auf der Anhöhe eine schwebende Feenburg. Und die Grossmutter erzählt in Geschichten eingepackte Weisheiten, die der Junge mit sich trägt, die wirken, auch wenn er sie mit den erzählten Bildern kombiniert.

«Wenn man klein ist, hat man grosse Träume, viel grösser als man selbst und als der grösste Baum, auf den man je geklettert ist. Wenn man wächst, werden die Träume kleiner, und dann rutschen sie hinter die Kommode oder unters Bett, oder sie rollen ins Mauseloch, oder jemand steht darauf, ohne es tu bemerken.»

Das Kind versteht die Welt der Erwachsenen nicht, schon gar nicht die Bedeutung von Wörtern, die immer wieder gebraucht werden; Pflicht, Asyl, Zugeständnisse, zwecklos. Die Lehrerin wird zu einer Piratenfrau mit Goldzahn und ein Zug, den der Junge «Kennedy-Lok» nennt, nach dem amerikanischen Ritter, was ihn in der Schule nicht das einzige Mal vor den Direktor bringt.

Ein Kind, das seine Welt nicht versteht, das nicht verstanden wird, dem die Hauswartin, der Drache, nachschreit: «Was glotzt du! Du bist der Schlimmste von allen, du verfluchter Schwabe!» Der kleine Junge ficht Kämpfe aus, die man nur als Kind bestehen muss, in einer Welt, die für Erwachsene unsichtbar geworden ist. Die Schule eine Burg mit vielen Soldaten und wenigen Offizieren! Ein ganzes Land, ein ganzer Staat, jenes Tito-Jugoslawien, ein «sozialistischer» Vielvölker- und Einmannstaat, der in seiner restriktiven, staatlichen Paranoia gefangen ist.

«Glasmurmeln, ziegelrot» ist bezaubernd. So wie man die Welt durch eine Glasmurmel betrachten kann. Durch all die Verzerrungen einer kindlichen Wahrnehmung, durch die ungebrochene, naive Betrachtungsweise werden gar dunkle Seiten, bedrohliche Situationen und explosive Momente in ein schillerndes, letztlich leuchtendes Licht getaucht. Ein Blick, den sich der Autor bewahren musste, um so schreiben zu können. Uneingeschränkt empfehlenswert!

Rüffer und Rub? Ja, Rüffer und Rub, auch wenn der Verlag bis vor Kurzem ein reiner Sachbuchverlag war. Mutig und gut in Zeiten, in denen es Kleinverlagen, die sich auf das dünne Eis der Literaturveröffentlichungen wagen, immer schwerer fällt, sich neben Grossverlagen und in Grossbuchhandlungen zu behaupten. Ich wünsche dem Verlag mehr als Glück. Mit «Glasmurmeln, ziegelrot» ist ein vielversprechender Titel da!

Karl Rühmann (1959) verbrachte seine Kindheit in Jugoslawien und studierte Germanistik, Hispanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft in Zagreb und Münster. An der Story Academy der SAL in Zürich leitet er die Lehrgänge Literarisches Schreiben und Drehbuchautor/-in und arbeitet als Literaturübersetzer und freier Autor.

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Beitragsbild © Sandra Kottonau