Alex Capus «Susanna», Hanser

Alex Capus ist längst eine Institution. Mag sein, dass ihn der Erfolg seiner Bücher bei den einen suspekt macht. Vielleicht ist es die scheinbare Leichtigkeit seines Erzählens, vielleicht die Tatsache, dass in seiner Sprache die Lust und nicht der Kampf die Töne bestimmen. 

„Susanna“ ist Alex Capus nicht über den Weg gelaufen. Sie wurde ihm zugetragen bei einem der regelmässigen Treffen mit seinem Freund Patrick Tschan, mit dem sich Capus regelmässig zu Pizza und Wein trifft. Bei einer Lesung in St. Gallen erzählte Capus, dass es immer wieder vorkomme, dass ihm Geschichten zugetragen werden, von denen andere überzeugt sind, es verstecke sich eine Perle in der Schale. Dieses eine Mal aber blieb eine solche Geschichte hängen. Die Geschichte einer Frau, die aus dem starren Gefüge einer pietistischen Frömmigkeit ausbrechen musste, die schon im 19. Jahrhundert ihr Leben in ihre eigenen Hände nahm, die stets jene kleine Lücke zur Freiheit offen lassen wollte, die es braucht, um an Selbstbestimmung zu glauben. Die Geschichte einer Frau, die sich den meisten Konventionen ihrer Gegenwart widersetzte und die bis an die Ränder der damals bekannten Welt getragen wurde, genau dorthin, wo staatlich institutionalisierte Unmenschlichkeit einem ganzen Volk die Freiheit entriss, bis zur Begegnung mit dem grossen Häuptling Sitting Bull.

Vor ein paar Jahren flimmerte mit „Die Frau, die vorausgeht“ ein Film über Leinwände und Bildschirme, der die Geschichte einer Catherine Weldon erzählte, die 1889 ins Dakota-Territorium reiste, um dort den Lakota-Häuptling Sitting Bull zu treffen und zu malen, ein Film in romantisch verklärter Hollywoodmanier, der mehr ausklammert, als dass er erzählt. So wie es Sitting Bull gab, der nach dem Sieg der Indianer 1876 am Little Bighorn in Indianershows wie ein wildes Tier in der westlichen Welt vorgeführt und 1890 feige umgebracht wurde, so gab es auch jene Frau – Catherine Weldon, die als Susanna Faesch 1844 in Basel geboren wurde. Susanna Faeschs Mutter, die wie ihre Tochter jenen Stachel der Freiheitsliebe stets in sich trug, entfloh mit der Tochter der Enge einer Stadt, einer Gesellschaft, einer Ehe und trat eine Reise ins Ungewisse, in jenes Land der unbegrenzten Möglichkeiten auf der anderen Seite des Ozeans an. Dort heiratete sie erneut, begann eine leidlich erfolgreiche Karriere als Porträtmalerin, um wie Jahre zuvor ihre Mutter dereinst ihre Koffer zu packen, um erneut jene Reise ins Ungewisse anzutreten, zusammen mit ihrem Sohn und der Idee, dort im Westen des Kontinents jene Freiheit zu finden, nach der sie ein Leben lang suchte, für die sie sich ein Leben lang einsetzte.

Alex Capus «Susanna», Hanser, 2022, 288 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-446-27396-2

Zu Beginn des Romans wird uns von der fatalen Begegnung der kleinen Susanna mit dem Wilden Mann erzählt, einer Kultfigur, die in einem Basler Brauch vom Schiff ans Ufer springt, wilde Tänze aufführt und durch die Stadt zieht. Susanna gerät in den Griff des Wilden Mannes und wehrt sich, in dem sie durch die Maske des Mannes mit dem Finger in sein Auge sticht. Ganz am Schluss des Romans findet die stets Suchende Sitting Bull, die Verkörperung des Wilden Mannes, eine Begegnung, die das Herz der Malerin ein Leben lang nicht mehr loslassen sollte.

Ein historischer Stoff, vielleicht sogar eine Korrektur jenes schmächtigen Films. Aber Alex Capus Intension war es nicht, historischen Stoff nachzuerzählen, schon gar nicht die Begegnung zwischen einer Basler Malerin und eines Sioux Häuptlings, der zur Ikone eines drangsalierten Volkes wurde. „Susanna“ ist ein vielschichtiges Porträt einer Frau und ihrer Zeit. Mit der Freiheit eines Schriftstellers hätte Alex Capus von der Härte eines pietistischen Elternhauses erzählen können, vom leidvollen Kampf einer Frau, die ihren Weg gehen will, von den Mühen einer Porträtmalerin in einem Amerika, das von den Wellen des Fortschritts und der Technisierung überspült wird, vom Freiheitsdrang einer Frau, die sich nicht beugen lassen will. All das schien Alex Capus nur nebensächlich zu interessieren. „Susanna“ ist das feinsinnige Porträt einer suchenden Frau in einer Zeit, in der Frauen auf beiden Seiten des Ozeans nur wenig Spielraum gegeben wurde.

Und „Susanna“ ist ein Fest des Erzählens. Vielleicht ist Alex Capus jüngster Roman einer seiner stärksten. Capus muss nichts mehr beweisen. Er kann es. Es ist schlicht ein Genuss, wenn er sich mit grossem sprachlichem Gestus in eine Szenerie hineingibt, wenn er Blicke offenbart, wenn durch sein Erzählen jene Weisheit spricht, die aus all den Begegnungen von Mensch zu Mensch, seien es auch jene in seiner Bar, die Vielfarbigkeit des Menschseins zeigen. Da wird eine Geschichte erzählt, eine gute Geschichte. Aber was mich viel mehr überzeugt, ist die Art seines Erzählens. Da schreibt einer, dem ein vielstimmiges Orchester zur Verfügung steht, dem ich mit Verzückung lausche, sei es nun im Stillen bei der Lektüre mit den cineastischen Bildern, die aufsteigen oder wenn der Schriftsteller in seiner unnachahmlichen Art hinter einem Stehtischchen steht und vor Publikum erzählt.

„Susanna“ ist Genuss pur.

Alex Capus, geboren 1961 in der Normandie, studierte in Basel Geschichte und Philosophie und lebt heute als freier Autor in Olten. 1994 veröffentlichte er seinen ersten Erzählungsband «Diese verfluchte Schwerkraft», dem seitdem viele weitere Bücher, Kurzgeschichten, Romane und Reportagen folgten. Neben seiner Arbeit als Schriftsteller führt Alex Capus in Olten die Galicia-Bar, die längst zu einem überregionalen Kulturort wurde.

Beitragsbild © Beni Blaser

Alex Capus «Königskinder», Hanser

Tina und Max bleiben nach einem Ausflug auf dem Heimweg wider aller Vernunft eingeschneit auf dem Jaunpass in ihrem Toyota Corolla stecken. Dort in der Stille und Dunkelheit einer zugeschneiten Fahrerkabine beginnt Max die Geschichte der Königskinder zu erzählen, eine Liebesgeschichte, die im Greyerzerland beginnt, am Vorabend der Französischen Revolution, eine Geschichte, die an den Hof Ludwig XVI führt und wieder zurück in den Schoss der Berge.

Alex Capus wäre aber nicht Alex Camus, wenn er «bloss» eine rührende Liebesgeschichte erzählen würde, bei der die zuhörende Tina immer wieder einmal nachfragen muss, ob Max nicht zu dick auftrage und jener versichert, alles sei aktenverbürgt. Liebesgeschichten passieren, ob jene in und vor der Eisdiele damals mit Tina und Max oder jene zwischen Marie und Jacob vor fast 250 Jahren zwischen der Armut an den Hängen des Jaunpasses und der bröckelnden und stinkenden Feudalkultur am maroden Hof Ludwigs des XVI.

Jacob ist übriggebliebener Sohn einer Bauernfamilie. Er zieht sich auf der Alp seines Vaters zurück, lebt von dem, was die Alpwirtschaft abwirft und kehrt nur zur Übergabe des Viehs zurück ins Dorf, in dem er aufgewachsen war. Bis zu jenem Tag, als er Marie trifft, aus Blicken und einem Spaziergang in die Nüsse eine Liebe wird, die aber keine Chance hat. Maries Vater ist ein wohlhabender Bauer. Jacob ein «Halbwilder» ohne Familie, viel zu wenig für einen Bauer, der bei der Vermählung seiner Tochter strategisch denkt. Aber die Liebe lässt sich durch keine Strategie durchkreuzen. Marie und Jacob finden sich – aber Jacob muss das Land verlassen, um der Willkür des tobenden Bauern zu entkommen. Er wird Soldat am Ärmelkanal, später Kuhhirt am Hof Ludwig XVI, wo Élisabeth Philippe Marie Hélène de Bourbon, die Schwester des Königs vor den Toren Versailles ein «Landgut» betreibt, eine heile Welt direkt neben der zu Stein gewordenen Machtdemonstration des untergehenden Nachfolgers des einstigen Sonnenkönigs.

«Königskinder» ist ein Buch der Gegensätze. Hier die Geschichte Jacobs, der über Jahre auf einer Alp lebt, den Sommer durch mit Kühen und Rindern, im Winter mit sich allein. Eine Welt, die auch heute schnell ins Licht einer Idylle getaucht wird. Dort die Szenerie am Hofe des französischen Königs, der mit seinem vieltausendgrossen Hofstaat in einem Schloss haust, das kaum eine funktionierende Toilette besitzt. Hier stinkt es allerhöchstens im Stall, dort auch die langen Gängen Versailles, in den verwilderten Gärten und feuchten Zimmern.

Während sich Marie und Jacob dann doch noch finden, zu Königskindern werden, wälzt sich der Pariser Mob auf Versailles zu, tausende von Frauen, denen die vergessenen Soldaten des Königs nichts entgegenhalten können. Während sich eine Liebesgeschichte in der durch Mauern geschützten Idylle eines «Musterhofs» entfaltet, tut dies auch die Unzufriedenheit eines ganzen Volkes, das in den Monaten vor der Französischen Revolution auf den Untergang einer Jahrhunderte alten Monarchie zusteuert.

Alex Capus giesst nicht Öl ins Feuer. Unaufgeregt schildert er die Geschehnisse, die sich ganz automatisch in der Vorstellung des Lesers zum Drama wandelt. Alex Capus braucht weder Brandbeschleuniger noch Tricks, keine überraschenden Wendungen und keine aufschäumende Romantik. Allein sein Erzählen schafft Bilder, die bleiben. Da ist nichts verkrampft, kein Recherchewissen, das mir verkauft werden will. Einfach Erzählfreude, die zu Lesefreude wird, unverdünnt, konzentriert und echt.

Ich las «Königskinder» zusammen mit meinem Literaturzirkel. Zum Austausch über das Buch trafen wir uns in der «Galicia-Bar» in Olten, jenem zur Kultbar gewordenen Treffpunkt, die der Autor von der galizischen Heimwehbar zum Kulturtreff mit Ausstrahlung weit über die Stadtgrenzen hinaus machte.

Alex Capus, geboren 1961 in der Normandie, lebt heute in Olten. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten und Reportagen. Bei Hanser erschienen «Léon und Louise» (2011), «Fast ein bisschen Frühling» (2012), «Skidoo» (Meine Reise durch die Geisterstädte des Wilden Westens, 2012), «Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer» (2013), «Mein Nachbar Urs» (Geschichten aus der Kleinstadt, 2014), «Seiltänzer» (Hanser Box, 2015), «Reisen im Licht der Sterne» (2015), «Das Leben ist gut» (2016) und «Königskinder».

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Alex Capus «Das Leben ist gut», Hanser

Alex Capus ist nicht nur Schriftsteller. Er besitzt und führt eine Bar, unweit der Aare, einen Katzensprung vom Bahnhof Olten weg. Die Galicia Bar. Eine Bar, die einst von galizischen Fabrikarbeitern gegründet wurde, um gemeinsam dem Heimweh zu frönen, und dieses mit dem Staub der Büez (Arbeit) runterzuspülen. Und weil Pedro Lenz, ein guter Gast in dieser Bar, einmal meinte: „Eine Bar? Das ist so etwas wie Facebook, einfach ohne Internet.“ wurde aus den Geschichten aus dieser Bar ein Roman.

Es braucht keinen Mord, nicht einmal einen Einschlag welcher Art auch immer, um einen Roman zu schreiben. Aber muss man ein Buch über Alltägliches lesen, «wenn der eine oder andere genug mit dem eigenen Alltag hadert»?
Für einmal schreibt und erzählt Capus «bloss» Geschichten, kein grosser Plot zieht durch den neuen Roman. Was mit «Mein Nachbar Urs» und «Der König von Olten» über einen schwarzweissen, Oltner Kater namens «Toulouse» seinen Anfang nahm, spinnt Capus weiter. Er setzt dem Alltag und all den kleinen und grossen Geschichten, die sonst versteckt und verborgen bleiben, ein Denkmal. Capus erzählt von Max, der seit 25 Jahren Ehe erstmals für ein paar Tage allein im Bett schläft. Tina, seine Frau, fährt beruflich weg und lässt ihn mit den drei Jungs allein in der kleinen Stadt, in der er sich wohl fühlt wie «ein Eber im Schweinekoben». Morgens, nachdem alle Jungs unterwegs sind, macht sich Max mit dem Rad auf zu seiner Bar, der Sevilla Capus Das Leben ist gut Final_MR3.inddBar, nicht weit vom Bahnof, eingeklemmt zwischen kubische Glaspaläste der Neuzeit. Eigentlich ist Max Schriftsteller, aber so gern er manchmal schreibt, so gerne tut er das, was im alten Gemäuer seiner Bar an Arbeit anfällt, sei es auch nur der Gang mit zum Altglas auf dem Handwagen zur Sammelstelle. Seine Bar ist der Ort seiner Geschichten, wie jene, die der Bar den Namen gibt oder jene, die erzählt, warum an der einen Wand ein Stierkopf hängt, der einmal in der Not gar ersetzt werden musste. Geschichten von Menschen, die Stammkunden in der Sevilla Bar sind und über deren Leben Max als Barbesitzer und -betreiber unweigerlich vielmehr erfährt, als sässe er zuhause allein hinter seinem Schreibtisch: Von Ismail, der nie zur Ruhe kommt, von Miguel Fernando Morales Delavilla Miguelanes, dessen Frau Max einen Korinthenkacker und Hochtonfurzer schimpft. Oder von seinem ehemaligen Lehrer Toni Kuster und seinem Cowboy-Freund aus den Everglades.

Bei einer Lesung im Gewölbekeller der Buchhandlung zur Rose in St. Gallen meinte Alex Capus, viele Autoren würden sich beim Schreiben eines neuen Buches vornehmen, nun endlich ein ganz anderes Buch zu schreiben, um dann, während des Schreibens festzustellen, dass es doch wieder ein ähnliches werden würde. Aber Capus hat seinen Vorsatz verschriftlicht. «Das Leben ist gut» ist ein Buch über einen Mann, der mit 55 Bilanz zieht, was viele tun, wenn sie soweit sind. Eine Geschichte über «fast nicht», genau das, was er beabsichtigte. Und er müsse festhalten, dass Ich-Erzähler und Autor nicht zwingend deckungsgleich sein müssen, selbst dann nicht, wenn fast alles dafür spreche.

Alex Capus erzählt, schwadroniert, driftet ab, zeigt sich selbstgefällig, selbstzufrieden, ohne dick aufzutragen. Erfrischend dabei ist, dass er durchaus mit spitzer Zunge auf die Welt schaut, um festzustellen, dass sein Leben «dereinst auf dem Sterbebett im Zeitraffer abgespielt, ein Standbild sein wird». Capus, ein Streiter für das Wahrhafte, ein Leben ohne künstlich erzeugten Kick, ein Loblied auf die Kneipe, wo Langweiler und Wahnsinnige eine Heimat finden. Ein Buch fürs Nachttischchen.

Capus_hf_i[1]Alex Capus, geboren 1961 in der Normandie, lebt heute in Olten. 1994 veröffentlichte er seinen ersten Erzählungsband «Diese verfluchte Schwerkraft», dem seitdem weitere Romane, Bücher mit Kurzgeschichten und Reportagen folgten. Alex Capus verbindet sorgfältig recherchierte Fakten mit fiktiven Erzählebenen, in denen er die persönlichen Schicksale seiner Protagonisten einfühlsam beschreibt. Bei Hanser erschienen zuletzt die Romane «Léon und Louise» (2011) sowie der Western «Skidoo» (2012).

Webseite des Autors

(Bild: Sandra Kottonau, Güttingen, CH)