Simone Meier «Die Entflammten», Kein & Aber

Leidenschaft allein reicht nicht. Aber Genialität allein ebenso nicht. Gina, eine junge Frau, schreibt zwischen Lähmung und Selbstzerstörung, über Lebensentwürfe, die nach ihrer Erfüllung rufen. In „Die Entflammten“ prallen Welten aufeinander.

Sie kennen Vincent van Gogh mit Sicherheit. Wahrscheinlich kennen sie auch Theo van Gogh, seinen jüngeren Bruder, Kunsthändler und -sammler, ohne den sein genialer Bruder nie und nimmer jene Bilder hätte malen können, die ihn unsterblich machten. Aber wahrscheinlich lernen sie Jo van Gogh-Bonger, die Frau von Theo, erst durch den Roman von Simone Meier kennen. Eine Frau, die es sich nach dem frühen Tod der beiden Brüder zur Lebensaufgabe gemacht hatte, Vincent van Goghs Bilder dorthin zu bringen, wo sie hingehören; in die grossen Museen der Welt. Vincent van Gogh war einzig und allein an seiner Malerei interessiert, unkonventionell und mit totaler Hingabe. In einer Hingabe, die gekoppelt mit seiner desaströsen Lebensweise schon früh auf eine Katastrophe hinzielte und mit dem frühen Tod seines Bruders, der ihn in jeder noch so zerstörerischen Lebensphase unterstützte, leicht ins grosse Vergessen hätte münden können. Wenn nicht Johanna van Gogh-Bonger gewesen wäre.

Simone Meier erzählt aber nicht einfach die Geschichte jener Frau nach, die die Sehnsucht nach Liebe an die Seite der berühmten Brüder brachte, der die Kunstwelt verdankt, dass jenem Künstler, der viel mehr als einfach abbilden wollte, jener Platz an den Wänden der Welt sicherte.

Über hundert Jahre später stösst die junge Kunsthistorikerin Gina auf die Geschichte dieser Frau. Sie taucht immer tiefer ein in die Biografie dreier Leben, die in ihrer Radikalität und Besessenheit auch im stummen Untergang hätten enden können. Was wäre geschehen, hätte Vincent seinen Bruder Theo nicht gehabt? Was wäre geschehen, hätte Jo das Lebenswerk beider nicht weitergeführt? Was wäre geschehen, wenn das Selbstzerstörerische des Malers, die Syphilis seines Bruders die junge Witwe mit ihrem kleinen Sohn mitgerissen hätte? Gina folgt einem Leben, sucht nach dieser Stimme und findet sie.

Simone Meier «Die Entflammten», Kein & Aber, 2024, 272 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-0369-5029-7

Gina sucht aber auch nach den Rätseln in ihrer eigenen Familie. Warum scheiterte die Ehe ihrer Eltern? Warum schafft es ihr Vater in dem kleinen Haus am Meer nicht endlich, aus den vielen Anfängen einen zweiten Roman zu schreiben, nachdem der Ruhm des ersten schon seit Jahrzehnten verflogen ist? Gina zieht für eine begrenzte Zeit in das kleine Haus ihres Vaters, wohl nicht zuletzt darum, weil sie hofft, dass sie mit ihrem Schreiben die Fesseln ihres Vaters lösen kann.

Das Reizvolle an diesem Roman sind die  Prozesse der Begegnungen. Im Vordergrund steht jene zwischen Jo und Gina, zweier Frauen in ganz unterschiedlicher Zeit, obwohl doch eigentlich nur etwas mehr als ein Jahrhundert zwischen den beiden Frauenleben liegt. Gina rutscht mit Recherche und Schreiben immer tiefer in das Leben einer Frau, die ihr Dasein nach dem Tod der van Goghs immer entschiedener in den Dienst einer Sache stellt. Eine Kompromisslosigkeit, von der die Schreibversuche ihres Vaters diametral entfernt sind und wehleidig groteske Züge angenommen haben. Je tiefer Gina forscht und sich in das Leben Johannas hineinversetzt, desto mehr schwinden Barrieren, bis Jo und Gina im letzten Teil des Buches in einen Dialog treten, der die Grenzen schwinden lässt.

Wo sind die Grenzen zwischen Eigensinn und Genialität? Wie schafft es Genialität an die Oberfläche, zwischen all die Banalitäten des Lebens? Simone Meier geht es um mehr als Aufklärung über eine Frau, die seit einem Jahrhundert im Schatten „ihrer“ beiden Männer steht. „Die Entflammten“ ist ein Buch über Entflammte, die in ihrem selbstzerstörerischen Tun alles mit sich reissen und über „Entflammte“, die das einst entfachte Feuer nie erlöschen lassen.

Interview

Was war zuerst; die Faszination für die Person Johanna Bonger, später van Gogh oder die Geschichte einer jungen Frau, die sich in ihrer Suche nach einer eigenen Stimme mit dem Scheitern ihres Vaters konfrontiert?
Keine von beiden. Zuerst war Ginas Vater da. Nach meinem letzten Buch war ich frustriert, ich hatte die Ausläufer des Corona-Tiefs schwer unterschätzt, besonders in Deutschland. Man kriegt nun mal keine Sichtbarkeit hin, wenn die Buchhandlungen ganz oder teilweise geschlossen sind. Die Zugänge zu Lesungen waren beschränkt und die Leute blieben vorsichtshalber lieber zuhause. Aus therapeutischen Gründen wollte ich zuerst eine Literaturbetriebssatire schreiben. Einfach um Wunden zu lecken. Das sollte man natürlich unterlassen, das habe ich relativ schnell gemerkt. Und dann kam Jo. Ganz plötzlich, aber sehr bestimmend, und ich wusste, wenn ich mich jetzt nicht ganz in den Dienst dieser Figur stelle, bin ich die blödste schreibende Person weit und breit. Gina kam erst danach, allerdings enorm selbstverständlich, und aus dem Vater wurde aus einer lächerlichen eine gute Figur.

Über ein Jahrzehnt nach dem Suizid des einen und dem Syphilistod des andern war Vincent van Goghs Kunst nur einem ganz kleinen Kreis ein Begriff. Heute werden, wenn ein Bild überhaupt zum Verkauf steht, exorbitante Summen bezahlt, die mit Kunstverstand oder Sammelleidenschaft nichts mehr zu tun haben. Doch eigentlich eine Watsche an Künstler, eine an die Kunstszene, profitiert doch die Kunst selbst nie von solchen Preisen und eine Watsche ins Gesicht all jener, deren Genialität nie an die Oberfläche gelangt.
So what? Im stillen Kämmerchen sind wir alle in irgendwas genial. Ich war mal eine geniale Blockflötistin. Aber braucht die Welt das? In den allermeisten Fällen nicht. In meinen 28 Jahren als Kulturjournalistin sind mir wohl erst zwei lebende Menschen untergekommen, von denen ich sagen würde, sie sind genial und ihre Kunst bringt uns wirklich was. Vorherrschend ist ja immer und überall solides, stabiles Mittelmass. Ich persönlich bin kein Van-Gogh-Fan, mir ist das zu aufdringlich, aber in der Beschäftigung mit ihm für das Buch habe ich verstehen gelernt, wie echt revolutionär er war und was die Menschen in ihm sehen konnten, was sie begeisterte. Tragisch für ihn, dass er das nicht erlebte, Picasso und Warhol hatten mehr von ihrem Ruhm. Aber wenn besonders Viele einen Einzelnen besonders grossartig finden, kommt es unweigerlich irgendwann zu diesen perversen monetären Exzessen, egal ob in der Kunst, im Fussball, in Hollywood oder in Chefetagen. Offenbar haben wir noch nicht gelernt, unsere Wertschätzung anders auszudrücken. 

Das Literaturhaus St. Gallen lädt ein!

Gina setzt sich einigem aus, nicht zuletzt dem Stolpern ihres Vaters, der, statt seinem einstigen Brotberuf nachzugehen, vom Leben eines erfolgreichen Schriftstellers „besessen“ ist. Muss man besessen, entflammt sein, um mit seiner Kunst eine Bühne zu finden?
Für seine Arbeit entflammt zu sein, garantiert noch lange keine Bühne, hilft aber sicher. Was ich jedoch weiss, ist, dass es kein Entkommen vor einer gewissen Besessenheit, einer Auslieferung gibt, wenn man es mit seiner Kunst wirklich ernst meint. 

Jo findet schlussendlich ihre Bestimmung in der Kunstvermittlung, mit ihrer Strategie, die Werke ihres Schwagers nicht einfach gewinnbringend zu verscherbeln, sondern den Bildern jenen Platz zu geben, der ihnen durch ihre Einzigartigkeit zusteht. Ein typisch «weibliches Prinzip»?
Ist diese Frage ernst gemeint? Ich hoffe nicht! Das Einzige, was Jo an Weiblichkeitsklischees wie diesem interessierte, war, sie aus der Welt zu schaffen. Zum Glück hatte sie dank Theo, aber auch dank ihrem späteren Umfeld ganz unweibliche Einblicke in den damals zu hundert Prozent von Männern beherrschten Kunstmarkt. Sie sah, wie man es eben nicht machen sollte. Und sie war ein totaler Kontrollfreak. SIE wollte das Narrativ bestimmen, niemand sonst. Das Praktische an Vincent van Gogh war ja nun mal, dass er schon tot war und nicht mehr von seiner Kunst zu leben brauchte, sie konnte die Nachlassverwaltung entsprechend gründlich und langfristig angehen. Und sie legte sich einen genialen Dreiphasenplan zurecht: Sichtbarkeit schaffen, Rarmachen auf dem Markt, am Mythos basteln. Die breitestmögliche Sichtbarkeit erreichte sie, indem sie Zeit ihres Lebens über 100 Ausstellungen organisierte und dabei immer darauf achtete, dass Leute, die wenig verdienten, weniger Eintritt zahlen mussten. Da war sie ganz Sozialistin, wie übrigens die meisten im Van-Gogh- und Bonger-Clan damals glühende Sozialisten waren, was in der Van-Gogh-Rezeption natürlich gerne unterschlagen wird. Am Mythos bastelte sie bei ihrer Herausgabe der Briefe der Brüder, zu der sie selbst den alles entscheidenden Essay schrieb, der das Bild von van Gogh nachhaltig prägte. Und mit dem Zurückhalten besonders beliebter Bilder vom Markt befriedigte sie einerseits die Museumsbesucherinnen und -besucher und schuf andererseits noch grössere Begehrlichkeiten bei den abgewiesenen Käufern. So kam der immer lautere «Buzz» um van Gogh zustande.

Im zweiten Teil ihres Buches mischen sich die Stimmen der beiden Protagonistinnen Jo und Gina zu einem Dialog über Zeit und Raum hinaus. Eigentlich eine virtuelle Begegnung. Ist das nicht genau das, was die Literatur kann? Warum muss die Grenze des Möglichen ausgerechnet auch für die Literatur gelten? 
Mich müssen Sie das nicht fragen, ich bin eh das Schmuddelkind, das sich nicht um die Genregrenzen und die albernen Reinheitsgebote der deutschsprachigen Literaturkritik kümmert. In jeder anderen Weltliteratur ist diese Art der Kunstfreiheit, des ’magischen Realismus’, des kreativen Ausserkraftsetzens von Zeit, Raum und Konventionen völlig normal und anerkannt. Bei uns nicht.

Simone Meier, geboren 1970, ist Autorin und Journalistin. Nach einem Studium der Germanistik, Amerikanistik und Kunstgeschichte arbeitet sie als Kulturredakteurin, erst bei der WochenZeitung, dann beim Tages-Anzeiger, seit 2014 bei watson. 2020 und 2022 wurde sie zur »Kulturjournalistin des Jahres« gewählt. Bei Kein & Aber erschienen ihre Romane «Fleisch«, «Kuss» und «Reiz». Simone Meier lebt und schreibt in Zürich.

Beitragsbild © Ayse Yavas

Julian Schmidli «Zeit der Mauersegler», Kein & Aber

Julian Schmidlis Debüt trägt alle Züge einer Roadstory, ganz in der Gegenwart verflochten mit den grossen Fragen der Zeit. Die Geschichte einer Freundschaft und der Suche nach Liebe ist eine universelle Geschichte und Julian Schmidlis Erzählweise dafür keine Suche nach Antworten, aber eine Aufforderung, sich dem wirklichen Leben zu stellen.

Nino und Tschügge wachsen als Aussenseiter in einem kleinen Ort in der Provinz auf, Nino mit Hasenscharte und schmächtig, Tschügge riesig und rund, mit kullernden Hundeaugen, ein bisschen wie Terence Hill und Bud Spencer, nur fehlt ihnen die entsprechende Schlagkraft. Tschügge ist der Sohn des örtlichen Metzgers, Nino der Sohn von eingewanderten Italienern. Gründe genug, dass sich die beiden in ihrer Freudschaft zurückziehen, auch wenn in der Jugend, Tschügge bleibt im Dorf und Nino besucht das Gymnasium im Nachbarort, nicht nur durch die sich trennenden Lebenswege, sondern auch wegen eines Mädchens, die Bande zwischen den beiden brüchig wird.

Auch Leila ist nicht wie die anderen Mädchen im Dorf. Als sie eines Tages in der Schule auftaucht, als Flüchlingsmädchen aus Bosnien, versteht sie kein Wort und schliesst sich ganz selbstverständlich den beiden Aussenseitern in der Klasse an. Aber die Freundschaft zwischen den beiden Jungs wird mit Leila auf eine harte Probe gestellt, nicht nur wegen ihrer grünen Augen. Nino, dessen Grossvater ihm den Spitznamen Belmondo gibt, ein Name, der der geprügelten Existenz des Jungen eine Richtung geben soll, fühlt, dass die Freundschaft bedroht ist. Erst recht, als es Nino immer mehr aus dem Dorf wegzieht und ihm die Streitereien mit dem geknickten Vater Gründe genug liefern, dem Kaff den Rücken zu kehren. Während Nino in der Stadt eine Karriere als Filmemacher und Fotograf zu etablieren versucht, bleibt Tschügge im Dorf, in der Metzgerei, die er dereinst übernehmen wird.

Nino spürt, dass ein Alp auf der Familie lastet, ein Trauma, dass nicht erst seit dem Tod von Salvi, Ninos Paten, über der Familie hängt. Ein Trauma, das den Vater verstummen und die Mutter resignieren liess, auch wenn Nonno, Ninos Grossvater, der die meiste Zeit in der Werkstatt unter seinem Fiat 500 Giardinera verbringt, dem Leben im Haus wenigstens dort einen Hauch Zuhause schenkt.

Julian Schmidli «Zeit der Mauersegler», Kein & Aber, 2023, 272 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-0369-5024-2

Bis Nino ins Dorf zurückgerufen wird. Bis Nonno beerdigt wird und es für Nino keinen Grund mehr zu geben scheint, noch einmal in das „Nest“ zurückzukehren. Bis Tschügge ihn bittet, eine Reise mit ihm zu unternehmen, einen Roadtripp nach Bosnien, eine letzte Reise zu zweit, zur Hochzeit von Leila und ihm. Bis Tschügge ihm verrät, dass Leila schwanger ist und Nino ahnt, dass die Vaterschaft alles andere als klar ist. Nino lässt dich überreden, nicht zuletzt darum, weil die Reise Klarheit in die lasch gewordene Freundschaft bringen soll, weil Nino spürt, dass etwas geschehen muss. Eine Reise in den Kosovo mit dem Fiat 500 Giardinera seines verstorbenen Grossvaters.

Was eine Reise zurück in die Freundschaft werden sollte, wird zu einem Roadtripp voller Überraschungen. Ein wilder Ritt durch Gefühle, Gegenden und Begegnungen, eine Reise, die nicht nur die beiden auf harte Proben stellt, sondern Nino bewusst macht, dass er seinen Belmondo, den Spitz- oder Schutznamen, den ihm einst sein Grossvater gegeben hatte, ablegen muss, um Nino zu werden.

Dass Belmondo und Tschügge eine Reise mit einem viel zu kleinen Auto unter die Räder nehmen, ist sypmtomatisch für zwei Leben, die nicht in ihre eigentliche Form passen. Auch wenn wie im Märchen zwei eine Reise wagen und allerhand Prüfungen ausgesetzt sind, auch wenn zum Schluss die Korken knallen und man geneigt ist „und wenn sie nicht gestorben sind“ anzuhängen, überzeugt dieses Debüt durch seinen Drive, seinen Sprachwitz und den Mut eines Geschichtenerzählers, dem die Reise zu sich selbst zur zentralen Reise wird. Dieser manchmal fast überbordende Roadtripp ist ein Roman eines Mannes, der endlich zu sich selbst aufbricht. Und dabei wird das Aufbrechen gleich mehrfach in Handlung umgesetzt.

Mostar © Julian Schmidli

Ein Buch, das köstlich amüsiert!

Interview

Obwohl sie als Investegativjournalist und Reporter schon lange schreiben, ist ihr literarisches Debüt ein sehr persönlich angehauchtes Buch, dass mit Sicherheit vieles aus ihrem eigenen Leben in sich trägt. Mit Ihrem Lebenslauf hätte ich fast eher einen „enthüllenden“ Roman aus der Welt der Medien erwartet, so wie es manch einer ihrer Kollegen mit viel Schall und Rauch tut. Nino und Tschügge werden auf ihrem Tripp in den Kosovo durchaus mit den grossen Themen der Zeit konfrontiert. Aber die eigentliche Konfrontation ist jene mit sich selbst. Ist das literarische Schreiben ein Kontrapunkt in ihrem Leben als Autor?
Für mich war das Schreiben immer schon eine Suchbewegung. Von mir ausgehend in verschiedenste Richtungen, nur um am Ende Neues über mich zu lernen. Insofern ist es genau der Kontrapunkt zum Journalismus, den ich betreibe. Gleichzeitig sind es zwei komplett unterschiedliche Gehirnhälften und Herzkammern, die sie bei mir benötigen. Beide gemein haben: eine gewisse Neugierde; das Wissen um die Vielschichtigkeit der Welt; eine warme Schonungslosigkeit.

Wir machen uns unser Bild von uns selbst mit den Erlebnissen in Kindheit und Jugend, schleppen manchmal ein ganzes Leben mit uns herum, was wir uns selbst mit „gütiger“ Unterstützung unserer Umgebung an unser Selbstbild klatschen. Wir füllen tunlichst unseren ganz persönlichen Rucksack, bis er uns niederzudrücken droht und wir bewegungslos hocken bleiben. Ihr Roman schildert die Geschichte einer Befreiung, eine Emanzipation. Aus Nino, der sich hinter Belmondo zu verstecken versuchte, wird wieder Nino. Macht die Tatsache, dass Büchertische voll von Ratgebern sind und alle Formen von Therapie uns von unseren prallvollen Rucksäcken befreien wollen, ihr Buch zu einer Aufforderung?
Ich will mit meinem Roman niemanden zu etwas auffordern — wer bin ich schon? Aber vielleicht regt die Geschichte und die darunterliegenden eigenen Geschichten zum Nachdenken und, ja, Handeln an. Vielleicht fallen einem eigene Merksätze ein, die man als Kind gehört hat, und die eigentlich aus etwas Gutem kamen: Von der elterlichen Fürsorge, dass einem selbst möglichst nichts passieren soll. Bloss wandelt sich dieser fromme Wunsch eher in einen Fluch, wenn er eintrifft. 

Sarajevo © Julian Schmidli

Nino begegnet unterwegs Jovana, einer jungen, rebellischen Frau mit kurzen Haaren, die so gar nicht dem Idealbild Leila entspricht, dem Nino zu lange in seinem Leben nachtrauert – und glaubt, deren Liebe würde doch eigentlich ihm zustehen. Jovana hat sich befreit. Sie lebt ein kompromisloses Leben abseits aller Konventionen. Erzählen sie mit Jovana auch von eigenen Träumen und Sehnsüchten, erlebe ich doch immer wieder den inneren Vorwurf an meine Sattheit und Mutlosigkeit?
Jovana verkörpert ein paar Tugenden, die, wenn man sich ihnen voll widmen will, nicht gerade lebenstauglich sind. Auch wenn sie sich mit Haut und Haar dem Guten verschreibt. Gleichzeitig strahlt sie die beneidenswerte Leichtigkeit von jemandem aus, der genau weiss, was seine Rolle auf dieser Erde ist. Ich kenne ein paar solche Menschen und kenne den Neid auf dieses Gefühl aus früheren Zeiten – aber ich verstehe inzwischen auch, dass solche grossen Aufgaben einsam machen können, wenn man sie, wie Jovana, nicht wirklich teilen kann. Wie viele Männer macht sie sich zur Insel.

Wer weiss, wie ein Fiat 500 Giardiniera aussieht, versteht die Nostalgie, die sich in einer Fahrt über die Alpen, dem Meer entlang bis in den Kosovo offenbaren kann. Eine Fahrt, die jede Unebenheit mitmacht, bei der man den Fahrtwind, das Wetter spürt, die Hitze und die Kälte. Keine Autofahrt im klimatisierten SUV-Panzer mit E-Antrieb und dem irrigen Gefühl, auch noch etwas für die Umwelt zu tun. Nino setzt sich dem Leben aus, einem Leben, das ihn auch mit Prügel nicht verschont. Ist Prügel die letzte Hoffnung für uns Menschen?
Für Prügel kann ich ja unmöglich plädieren, aber vielleicht für mehr Narben! Für weniger Schutz und Wattierung und Planbarkeit, für mehr Erleben im Leben. Und gleichzeitig auch für mehr Durchlässigkeit, mehr Teilhabe, mehr Offenheit, mehr Zusammen. Führt automatisch zu mehr Narben.

Olympiabobbahn in Sarajeva © Julian Schmidli

Ich hatte während des Lesens immer wieder das Gefühl, ein Märchen zu lesen. Nicht „Märchen“ im Sinn von Unwahrheit oder Realitätsferne, sondern wegen der Konstruktion: Eine Hauptperson, die sich aus der Heimat vertrieben auf eine Suchwanderung macht, sich durch vielerlei Prüfungen „schlägt“ und am Schluss den „Schatz“ findet, den Lohn, die Befreiung. Wie im Märchen tauchen Figuren auf, die aus einer ganz fremden Welt zu sein scheinen. Ich mag Märchen sehr und bedauere zutiefst, dass sie in vielerlei Hinsicht in Ungnade gefallen sind. Selbst Mauersegler scheinen als Vögel nicht ganz von dieser Welt. Mit dem Satz „Erzähl doch keine Geschichten“ wird doch deutlich, was man von Geschichten hält. Muss doch überall der Zusatz stehen „Aus dem wahren Leben“, „Nach einer wahren Begebenheit“.
Interessant, ihr Gedanke zum Märchen. Ich hatte mehr klassische Antiheldenreisen im Kopf: Don Quijote de la Mancha, Huckleberry Finn. Aber natürlich bedienten sich auch diese Altmeister an den Märchen. Ich denke, formal ist das Buch ein sehr klassisches Roadmovie mit nostalgischen Zügen, aber thematisch hoffentlich eine Emanzipation davon. Und, wer ein wenig am Lack des Giardiniera kratzt, findet da hoffentlich auch sehr zeitgemässe Diskussionen, die im Buch verhandelt werden. Ich bin sehr froh, dass Sie vieles davon aufgreifen mit Ihren schönen Fragen.

Julian Schmidli, geboren 1985 in Pasadena (Kalifornien) und aufgewachsen in Luzern, ist ein preisgekrönter Journalist und Filmemacher. «Zeit der Mauersegler» ist sein Debütroman und basiert auf den Erfahrungen und Reisen, die er in den letzten zehn Jahren gemacht hat. Er lebt in Zürich.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Anne Morgenstern

Franziska Gänsler «Ewig Sommer», Kein & Aber, an den Weinfelder Buchtagen

„Ewig Sommer“ ist nicht einfach ein Sommerbuch. Dafür ist der Stoff zu heiss, die Geschichte zu brenzlig, die Atmosphäre zu fiebrig. Franziska Gänslers Roman in die Ecke der düsteren Dystopien zu schieben, ist ebenso falsch. Der Bandgeruch hängt schon zu lange in der Luft.

Liest man einen Romane, in dem Endzeithitze flimmert in einem Sommer wie heuer, dann kann die Lektüre eines Romans doppelt beklemmend werden. „Ewig Sommer“, das Debüt von Franziska Gänsler ist so ein Buch. Endzeithitze darum, weil ein nicht enden wollender Sommer wie eine starre Glocke über dem Land hängt, Brandgeruch von den nahen Wäldern in der Luft, Durchsagen der Polizei, die Häuser nur in Ausnahmesituationen zu verlassen. Endzeithitze darum, weil nicht nur Deutschland unter den immer heisser und trockener werdenden Sommern ächzt und unleugbar ist, dass flockig-locker-heitere Sommer endgültig Vergangenheit sind.

In einem einsam gewordenen Hotel im einstigen Kurort, in dem Messen stattfanden und eine ganze Reihe von Hotels ihre Gäste empfingen, steigt völlig unerwartet eine junge Frau mit ihrer kleinen Tochter ab. Für Iris, die Besitzerin des letzten noch offenen Hotels, eine Überraschung. Nicht nur, weil sich der Ring der grossflächigen, nicht mehr zu zähmenden Waldbränden immer enger um den Ort schnürt, Niederschläge nicht in Sicht und Evakuierungen geplant sind, sondern weil die beiden Gäste fast lautlos in ihrem Zimmer verschwinden und Iris Raum lassen für Spekulationen. Was tut eine Frau mit ihrem Kind an einem Ort, von dem andere nur noch weg wollen, von wo die letzten Kinder schon längst abgezogen wurden und es nur noch eine Frage der Zeit sein kann, bis die Glut überspringt?

Iris ist geblieben, weil das Hotel das einzige ist, was sie von ihrem Leben behalten konnte, ihrer Familie, ihrer Vergangenheit. Iris ist alleine geblieben. Und dass nun alle wegziehen, evakuiert werden, passt zu ihrem Leben, in dem Leerräume immer grösser werden. Nur Baby ist geblieben, mittlerweile alt geworden, im Haus neben dem Hotel. Manchmal sitzen sie zusammen, rauchen, trinken, erzählen gegen die Hitze, die in Schwaden durch den Ort zieht. Franziska Gänsler schreibt sich förmlich in die Hitze hinein, dieses Heisse, dem alle Zukunft genommen, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint.

Franziska Gänsler «Ewig Sommer», Kein & Aber, 2022, 208 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-0369-5881-1

In diese Hitze taucht die junge Frau mit ihrem Kind auf, Dori und Ilya. Erst mit der Zeit offenbaren sich kleine Einsichten in das Leben der jungen Frau, lassen sich Zeichen lesen, Hinweise interpretieren. Dori ist auf der Flucht vor ihrem Mann. Dori ist auf der Flucht vor ihrem Leben. Dori versteckt sich, will um keinen Preis, dass das alte Leben sie einholt. Iris und Dori kommen sich näher, weil die Hitze sie immer näher aneinander drängt, weil Dori irgendwann mit ihrer Tochter in den Gemeinschaftraum zieht, ihr Schlaflager dort einrichtet, zwischen feuchten Laken, mit Sicht auf den Wald, der im orangen Licht flimmert.

Später stranden auch noch zwei junge Frauen im Hotel, Verirrte, die nach einem Unterschlupf suchen, Cleo und Lou. Sechs Frauen und ein Mädchen. Während draussen die Luft kaum mehr zum Atmen ist, hören sie drinnen die Musik alter Schallplatten, tanzen und trinken, während sich die Zeichen häufen, dass bei Dori mehr als nur der Rückweg verbaut ist. Iris’ Auto wird ungefragt gebraucht, Dori verschwindet zeitweise, ihr Mann ruft an, weil er erfahren hat, dass Dori im Ort sein muss, im letzten Hotel. Und als auch die kleine Ilya verschwindet, wird das heisse Inferno zur drohenden Katastrophe.

Franziska Gänslers Debüt ist atemraubend. Nicht nur, weil sie sich meisterhaft in die Szenerie dieser Sommergluthitze hineinschreibt, sondern weil sie einerseits subtil mit den verschiedenen Dramen ihrer Konstellation spielt und andererseits klug konstruiert, was sich wie ein Thriller liest. Die Temperatur steigt auch während des Lesens. Sechs Frauen und ein Kind schnappen nach Luft, ich als begeisterter Leser schnappe nach Luft. Ich verfange mich selbst in Vermutungen und Interpretationen, ganz und gar nicht die Autorin, die mit absoluter Souveränität erzählt.

Franziska Gänsler, geboren 1987 in Augsburg, hat in Berlin, Wien und Augsburg Kunst und Anglistik studiert. 2020 stand sie auf der Shortlist des Blogbuster-Preises und war Finalistin des 28. open mike. «Ewig Sommer» ist ihr Debütroman. Sie lebt in Augsburg.

Beitragsbild © Linda Rosa Saal

Richard Wright «Der Mann im Untergrund», Kein & Aber

Die Welt besteht aus vielen Welten. Manchmal sind diese Welten nur durch hauchdünne Membranen voneinander getrennt. Welten, die sich in allem unterscheiden; in ihren Wahrheiten, ihrem Licht, den Trennungen zwischen Gut und Böse. „Der Mann im Untergrund“ von Richard Wright, in den 40er Jahren entstanden und bisher nur in gekürzter Form als Erzählung erschienen, ist erstmals als Roman in Deutsch zu lesen. Eine Offenbarung!

Stellen Sie sich vor: Sie sind von der Arbeit zu Fuss auf dem Weg nach Hause. Nicht weit. Den Wochenlohn in Scheinen in der Tasche werden sie von zwei Polizisten angehalten. Das Scheinwerferlicht des Polizeiautos blendet sie. Man gibt ihnen unmissverständlich zu verstehen, ins Auto einsteigen zu müssen. Obwohl sie eindringlich zu erklären versuchen, dass es sich in jedem Fall um einen Irrtum handeln muss, nimmt man sie mit, wird schon im Auto nicht nur verbal grob und unverschämt. Und nachdem man ihnen mit der Frage nach dem Geld ganz beiläufig sagt, ob sie es genommen, gestohlen hätten, nachdem sie getötet hatten, bricht die Welt weg. 

Richard Wright «Der Mann im Untergrund», Kein & Aber, Original: «The Man Who Lived Underground», aus dem Englischen (USA) von Werner Löcher-Lawrence, 2022, 240 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-0369-5873-6

Fred Daniels wird des zweifachen Mordes beschuldigt, in Handschellen gefesselt in einen Verhörraum gesperrt, gefoltert und misshandelt, bis man ihm seine schlaffe Hand nimmt und einen Wisch unterschreiben lässt, den die Polizisten Geständnis nennen. Um die Folter noch zu verfeinern, führt man ihn nach Hause zu seiner hochschwangeren Frau, die mit dem misshandelten Mann vor Augen ihr Kind zu gebären beginnt. Man fährt ins Spital. Fred sitzt einen Moment unbeobachtet im Flur, nur durch eine Mauer von seiner Frau entfernt und setzt sich ab, schlüpft durch Türen und auf der regennassen Strasse durch einen Gully in die Kanalisation. Weg von der Oberfläche in den Untergrund. Ins Dunkle, Schlammige, Stinkende.

Was Richard Wright dann schildert, ist die Odyssee durch eine Gegenwelt, ganz nah an der realen Welt vorbei, nur durch Mauern getrennt. Fred hört Stimmen singen, einen Gottesdienst. Fred ist gottesfürchtig. Er schlüpft durch Löcher, bricht durch Mauern, wird in seiner Ausweglosigkeit, seiner Hoffnungslosigkeit zum Dieb, zum Verbrecher, hungrig nicht nur nach Essen, hungrig zu überleben, hungrig nach der Welt, die in ausgespuckt hatte. Mit gefundenen Werkzeugen bricht er sich gar in den Kellerraum eines Geldinstituts, klaut ganze Bündel mit Scheinen, steigt in die Werkstatt eines Juweliers, nimmt Goldschmuck mit, Diamanten.

Irgendwann hockt er in einer Mischung aus Wahn, Verzweiflung und Euphorie in seinem Loch und tapeziert die Backsteinwände mit Geldscheinen, stampft Diamanten in den Dreck, hängt goldenes Gehänge an Nägel. Ein Rausch des Sinnlosen, von einem Mann im Sinnlosen.

Richard Wrights düsterer Roman erzählt die Geschichte von unrettbarer Verdammnis. Fred ist schwarz, nicht nur seine Hautfarbe. Alles an ihm wird schwarz, auch seine Seele. Und in der Erkenntnis des unendlichen Verlorenseins steigt Fred aus der Unterwelt, geht durch das Licht an der Oberfläche zurück an den Ort, an dem ihn die drei weissen Polizisten geständnisreif schlugen. „Der Mann im Untergrund“ ist eine einzige Metapher für die grenzenlose Missachtung aller Menschenwürde. Man stösst Fred in eine Existenz, die eigentlich diametral von seiner bisherigen Wirklichkeit entfernt ist. Man macht ihn zum Mörder, zum Verbrecher, ohne Zukunft, ohne Chance, beraubt ihn seiner Würde, seines aufrechten Gangs.

„Der Mann im Untergrund“ liest sich auch als blosse Geschichte atemlos. Der Roman ist die Geschichte der Rechtlosen überall, die Geschichte der institutionalisierten Willkür, in die die Gegenwart zu versinken droht. Wer diesen Roman liest, sieht grenzenloser Verzweiflung ins Gesicht. Jener Verzweiflung, die all jenen ins Gesicht gedrückt wird, denen das Recht auf ein Leben in Würde und Frieden genommen wird!

Was für ein Buch!

Richard Wright wurde 1908 auf einer Plantage bei Natchez, Mississippi, geboren. Mit neunzehn Jahren verliess er den Süden und ging nach Chicago, wo er sich seinen Lebensunterhalt als Strassenfeger, Tellerwäscher und Postangestellter verdiente. Er schrieb zunächst vor allem Essays, Kurzgeschichten und Gedichte, bekannt wurde er mit seinem Roman «Native Son», der mehrfach verfilmt und 1941 als Bühnenversion am Broadway unter der Regie von Orson Welles aufgeführt wurde. Bis heute gilt Richard Wright als einer der bedeutendsten afro-amerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Er starb 1960 in Paris.

Werner Löcher-Lawrence studierte Journalismus, Literatur und Philosophie, danach Lehre und Forschung am kommunikationswissenschaftlichen Institut der Universität München. Es folgten lange Jahre in verschiedenen Verlagen, als Lektor und Programmleiter, bei Bertelsmann, Hoffmann und Campe und der Deutschen Verlags-Anstalt. Seit 2002 selbstständig, mit eigener Agentur und als literarischer Übersetzer.

Beitragsbild © Hulton Archive

Ayelet Gundar-Goshen «Wo der Wolf lauert», Kein & Aber

Kennen wir jene, die uns am nächsten sind? Unsere Kinder? Was wird aus ihnen, wenn sie Türen schlagen und in ihrem Zimmer verschwinden, wenn das grosse Schweigen ausbricht, wenn man als Eltern spürt, dass man zu Statisten wird? Ayelet Gunnar-Goshen spürt einer Entfremdung nach, der Eltern zu gerne mit Verbissenheit begegnen, kleine und grosse Katastrophen dabei nur noch unausweichlicher machen.

Man herzt sie, wenn sie klein sind. Sie sind einem das Nächste, das Wichtigste, eigen Fleisch und Blut. Man nimmt sie an der Hand, bekommt Küsschen, feiert die Liebe und die Familie. Um dann mit einem Mal festzustellen, dass in der vermeintlichen Symbiose Risse entstehen, dass sich in die Nähe Schranken hineinschieben, dass anderes und andere mit einem Mal wichtiger werden. Und wenn dann mit der Pubertät Emotion und Psyche nicht nur beim Kind in Wallung geraten, zeigt es sich, dass die Entfernung, die Entfremdung, die mit der Geburt begonnen hat, mit einmal Mal schmerzlich bewusst wird.

Ayelet Gundar-Goshen «Wo der Wolf lauert», Kein & Aber, 2021, 352 Seiten, CHF 33.00, ISBN 978-3-0369-5849-1

Lilach und Michael leben mit ihrem Sohn Adam in Kalifornien, im Silicon Valley. Sie haben es geschafft. Nicht nur durch vielversprechende Jobs, auch als Familie, auch als Loslösung von den Traumas in ihren Familien, die in Israel zurückgeblieben sind. Angekommen aber sind sie nicht. Sie fühlen sich fremd, nicht zuletzt, weil Ihnen die Sprache der Heimat noch immer näher ist und sie genau spüren, dass Adam, ihr einziger Sohn, sich immer mehr aktiv von seiner Herkunft, seiner Sprache entfernt. Dass sich Adam nach und nach in sein Zimmer zurückzieht und nur noch einsilbig auf die Kommunikationsversuche seiner Eltern reagiert, scheint jener Phase geschuldet, durch die es alle Familien schaffen müssen. Aber als bei einer Party unter Jugendlichen ein Junge aus Adams Klasse tot zusammensackt, als sich die eilige Diagnose Herzstillstand nicht bewahrheitet und Drogen im Spiel zu sein scheinen, als die Polizei zu ermitteln beginnt und sich Adam einem Selbstverteidigungskurs unter der Leitung eines ehemaligen Soldaten der israelischen Armee anschliesst, als rassistische Parolen an die Wände der Schule geschmiert werden und klar wird, dass der liebe Junge, der seinen Hund vor einem qualvollen Tod bewahrte und seinen Liebreiz von unzähligen Fotos ausströmen lässt, langst nicht mehr der ist, den Lilach in ihrem Herzen trägt.

Ist dieses Gesicht, dass sie doch so gut kennt, vielleicht besser als sich selbst, in das sie alle Hoffnungen setzt, das sie bedingungslos und aufopfern zu lieben weiss, jenes, das sie liebt? Adam liebt Keller, seinen gezeichneten Hund. Und Adam liebt Uri, seinen Trainer, der ihm all das beibringt, was Mutter und Vater sich nie trauen würden. Die Gruppe robbt durch den Schlamm, übt die Gegenwehr mit roher Gewalt, gebärdet sich wie eine Kampftruppe. Lilach versteht nicht mehr. Sie versteht ihren Sohn nicht mehr, ihren Mann, dem die Arbeit wichtiger erscheint als das Leiden ihres Sohnes. Alles droht ihr wegzurutschen, auch ihre Arbeit, in die sie sich zuvor so leidenschaftlich hineingab. Während die Zeichen des Sturms um sie herum immer unmissverständlicher werden, Steine fliegen und Blut fliesst, wird aus der liebenden Mutter eine entschlossene Kämpferin. Doch der Kampf wird wie ein Feuer, das man mit heftigem und entschlossenen Blasen zu löschen versucht. Die Flammen schlagen ihr ins Gesicht. Warum ist ihr Mann immer dann weg, wenn er gebraucht wird? Warum ist Adams Trainer Uri immer dann da, wenn Not am Mann ist? Warum gelingt es ihr als Mutter nicht, ihrem Sohn das Herz zu öffnen? Was passiert?

Lilach ist nirgends mehr zuhause. Auch nicht mehr in ihrer Familie. Nicht einmal mehr bei ihrem Mann. Ayelet Gundar-Goshen ist eine grosse Beobachterin mit einem Sensorium, das sich ganz tief in die Seelenzustände ihrer Protagonist:innen hineinschraubt. „Wo der Wolf lauert“ ist kein Kulissenspektakel, aber ein Seelensturm. Der Roman erzählt subtil und mit kleinen Schritten, überrascht durch seine Kraft und durch die Nähe zum inneren Kampf, den die leidende und mitleidende Mutter aussteht. Ich fühle mich als Leser in eine Geschichte hineingezogen, die mich auch auf der letzten Seite nicht erlöst, die mir zeigt, wie das wirkliche Leben ist; unergründlich.

Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, studierte Psychologie in Tel Aviv, später Film und Drehbuch in Jerusalem. Für ihre Kurzgeschichten, Drehbücher und Kurzfilme wurde sie bereits vielfach ausgezeichnet. Ihrem ersten Roman «Eine Nacht, Markowitz» (2013) wurde der renommierte Sapir-Preis für das beste Debüt zugesprochen, 2015 folgte mit «Löwen wecken» ihr zweiter Roman, der für NBC als TV-Serie verfilmt wurde, und 2017 ihr Roman «Lügnerin«. Sie lebt in Tel Aviv.

Beitragsbild © Tal Shahar

Überall Risse – Max Küng

«Vom Bahnhof – zack! – in die beste Buchhandlung. Dann die Lesung im wunderbaren Saal. Endlich wieder Publikum. Endlich wieder Menschen! Dann gleich rüber in den frisch renovierten Trauben. Dann wieder in die Buchhandlung auf einen Absacker. Ich bekam den Eindruck: Den Menschen in Weinfelden geht es gut, dort lässt sich leben. Vielleicht sind sie deshalb so gastfreundlich und sympathisch und gut gelaunt? Nun schreibe ich schnell das neue Buch fertig, damit ich wieder kommen darf.
Danke, lieber Gallus!» Max Küng

Wahrscheinlich sind es an die 1000 Kolumnen, die Max Küng über die Jahre für das Tagesanzeiger Magazin schrieb. Man kann sie nachlesen in drei seiner Bücher, von denen der Autor selbst sagt, es wäre die ideale Klolektüre. An den 5. Weinfelder Buchtagen war Max Küng mit seinem zweiten Roman „Fremde Freunde“. Und wer dachte, der Autor würde so einfach ein bisschen aus seinem Roman vorlesen, wurde angenehm überrascht.

„Max Küng“ geht nicht ohne seine Kolumnen. So las der Autor auch nicht einfach die ersten Kapitel seines Romans, sondern brachte für die Lesung in Weinfelden einen eigens für diese Veranstaltung verfassten Text mit in den gut besetzten Rathaussaal. Eine Mischung aus „Making of“, einzelnen Kolumnen und Gedanken über sein Buch und das Schreiben selbst.

Jacqueline und Jean besitzen seit einiger Zeit ein grosses Haus mit vielen Zimmern in Saint-Jacques-aux-Bois im Burgund. Ein lange gehegter Traum! Aber nach überbordenden Renovationen und Investitionen  wissen sie genau, dass sie es nicht werden halten können, wenn nicht irgend eine Massnahme ihre finanzielle Situation entschärft. Hinter der Fassade von freundschaftlicher Grosszügigkeit und Gastfreundschaft entwickeln die beiden ein ordentliches Mass an Kalkulation und laden zwei Paare mit ihren Kindern ein, um denen eine Teilhaberschaft schmackhaft zu machen. Ein Plan. Aber wie so oft bei Plänen, die unweigerlich zu einem Erfolg führen müssen, kommt es ganz anders und die beabsichtigten Ferientage in der französischen Idylle geraten arg in Schieflache.

Weil Max Küng ein begnadeter Beobachter ist und seine Pappenheimer kennt, weil er weiss, wie sehr er selbst vom naiven Wunsch nach Idylle geleitet ist, ist sein Roman alles andere als eine ernste Gesellschaftsanalyse über eine Mittelschicht, die sich hinter einer bröckelnden Fassade versteckt. „Fremde Freunde“ ist ein witziges Kammerspiel, das in vielem an eben solche Filme und Theater erinnert, in denen sich Paare aneinander aufladen bis die Funken blitzen. Ein Paarroman, ein Familienroman, über das Pech für Kinder, untalentierte Eltern zu bekommen, ein Kammerstück und in den Ansätzen gar ein Krimi.

Max Küng ist ein Ereignis!

Max Küng mit Katharina Alder, Initiativ und Leiterin der Weinfelder Buchtage

«Es war ja ein sehr lustiger und sympathischer Haufen von Menschen, an den ich in Weinfelden geraten bin. Ein lebenslustiges Volk, die Thurgauer*innen!» Max Küng

Rezension von «Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Fremde Freunde» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Gallus Frei

Max Küng «Fremde Freunde», Kein und Aber

Man wird in ein wunderschönes Haus im Burgund eingeladen, bekocht und nach Strich und Faden verwöhnt. Alles perfekt, wenn da nur die kleinen und grossen Katastrophen nicht wären, die wie heisses Magma unter der Oberfläche auf das Beben warten! Max Küngs neuer Roman «Fremde Freunde» ist ein Kammerspiel, das es in sich hat!

Saint-Jacques-aux-Bois liegt im Burgund. Ein Ort, von dem die meisten jungen Einheimischen weg wollen, solange sie können, weil es fast keine Verdienstmöglichkeiten gibt. Einer der Orte, wo es viele hinzieht, die sich mit entsprechender Brieftasche eines der grosszügigen Häuser und deren Renovation, Um- und Ausbau und Unterhalt leisten können, um ein paar Ferienwochen im Jahr etwas von dem zu zelebrieren, was ihnen in der Enge des Alltags unmöglich scheint, was ihnen Hochglanzmagazine vorbeten. Ein Haus mit Charme, ein grosser Garten, ein Obsthain hinter dem Haus, alte Bäume, unter denen man die Seele baumeln lassen kann – savoir vivre!

Jacqueline und Jean hatten sich eines gekauft, von einem in Geldnöte geratenen Freund, etwas unverhofft und schnell, das Haus mit grosser Kelle aus- und umgebaut und in jenes Idyll verwandelt, von dem sie erhofften, es würde sich als Paradies entpuppen, als Ort des Auftankens, der Ruhe, des Geniessens. Aber so sehr Jean bei dem Unternehmen den finanziellen Bogen überspannt hatte und die Kontostände zusammen mit der angespannten wirtschaftlichen Situation in Schieflache gebracht hatte, so sehr macht Jean jeden noch so kleinen Aufenthalt in dem Haus zur militärisch vorbereiteten Übung, die an der Gleichgültigkeit ihres halbwüchsigen Sohnes Laurent abprallt.

Max Küng «Fremde Freund», Kein & Aber, 2021, 432 Seiten, CHF 33.00, ISBN 978-3-0369-5838-5

Deshalb laden sie nicht ohne Hintergedanken zwei Paare ein, zum einen, weil man wusste, dass sich die Kinder verstehen würden, zum anderen weil man sich erhoffte, dass die Gäste ebenso ver- und bezaubert von dem Haus sein und im richtigen Moment formuliert mit wehenden Fahnen auf das Angebot des Miteigentümer-Seins einsteigen würden. Man würde vertrauter untereinander, käme sich näher, wären Gefährten – Fundamente einer Freundschaft. Eine Woche. Man lässt sich von den Gastgebern verwöhnen und bestaunen, beneiden und bewundern.

Aber wie erwartet zeigen sich schon in den ersten Tagen, in den ersten Stunden Risse im Konstrukt. Nicht nur in den von Jacqueline und Jean gehegten Plänen, sondern auch im Paradies in und ums Haus und in den Fassaden, die alle drei Paare mit Bedacht den anderen zu präsentieren versuchen. Die Wände sind dünn und manchmal auch die Haut. Während die einen die frische Liebe demonstrieren und es unter Tränen gar zu einem Hochzeitsantrag kommt, geben die andern die Trennung bekannt. Und während man in der Küche, am Tisch oder nachmittags im Garten unter den alten Apfelbäumen dem Genuss huldigt, verschwinden Schmuckstücke, bleibt das überdimensional grosse Geschäft im Klo liegen oder die Eingangstüre trotz gegenteiliger Versicherung tagsüber bei Abwesenheit sperrangelweit offen. Eines Tages liegt gar eine tote Ratte im Klo, die Jean nur unter Aufbietung letzter Kräfte im Kanal neben dem Haus zu entsorgen vermag. Etwas stimmt nicht. Nicht nur in den aufgesetzten Fassaden, nicht in der Freundlichkeit der Gastgeber, nicht in den Beteuerungen der Eingeladenen, nicht in den friedvollen, entspannten Tagen in Saint-Jacques-aux-Bois.

Bis Steine fliegen.

Als Kolumnist hält Max Küng der Gesellschaft und sich selbst schon seit Jahren einen Spiegel vor. Er kennt die Pappenheimer! Drei Ehepaare und ihre jugendlichen Kinder in einem Haus auftreten lassen – das machte dem geübten messerscharfen Beobachter ganz offensichtlich Spass. Spass, der sich auf mich als Leser überträgt, auch wenn sich am Ende des Romans die Geschehnisse für meinen Geschmack zu arg überstürzen, denn das, was in den drei Paaren und ihren Familien an grossen und kleinen Katastrophen schlummert, hätte für ein Finale gereicht. Trotzdem macht die Lektüre einen Heiden Spass. Max Küng entblösst. Nicht nur die Fassaden der Protagonist:innen, sondern auch die Gesellschaft, in der nur reüssiert, wer es auch zeigen kann. „Fremde Freunde“ entlarvt ohne zu karikieren und führt uns vor, was getarnte Absichten anrichten können. Eigentlich geht es im Roman um die Sehnsucht nach Freundschaft, nach Liebe und einem Zuhause, einem Heim, in dem man sich zu hundert Prozent geborgen und sicher fühlt. 

Max Küng liest am 10. September neben Usama Al Shahmani, Michael Köhlmeier, Philipp Theisohn, Stefan Keller, Valerie Fritsch, Silvia Tschui, Arno Camenisch, Yusuf Yesilöz, Peter Stamm und den Nominierten des 1. Weinfelder Buchpreises an den Weinfelder Buchtagen. Moderiert wird die Lesung von Max Küng von Gallus Frei-Tomic.

Max Küng, geboren 1969 in Maisprach bei Basel, ist seit 1999 Reporter und Kolumnist beim Magazin des Tages-Anzeigers. Neben diversen Musikkompositionen und Veröffentlichungen erschienen zuletzt seine Kolumnensammlung «Die Rettung der Dinge» und sein Roman «Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück». Max Küng lebt in Zürich.

Weinfelder Buchtage

Webseite des Autors

Beitragsbilder © Maurice Haas

Victor Jestin «Hitze», Kein & Aber

Sirrende Hitze über einem Campingplatz am Meer. Lautsprecherdurchsagen, Musik einer Coverband, Zelte und Wohnwagen dichtgedrängt, Menschen überall, am Strand in den Dünen, im Meer, im Dazwischen – und mittendrin gefangen von sich und der Unausweichlichkeit des Moments der 17jährige Léonard.

Eigentlich will er nicht sein, wo er ist. Eigentlich stösst ihn all die Nähe ab. Die Nähe der Gleichaltrigen, das Triebgesteuerte seiner Campingfreunde, der Schweiss, das dauernde Fragen seiner Eltern, der Wirbel in ihm selbst, über den er längst die Kontrolle verloren hat.

Alles spitzt sich ins Unerträgliche zu, als er fast am Schluss seines Urlaubs in der zweitletzten Nacht auf einem Spielplatz Zeuge wird, wie sich Oscar stranguliert. Léonard greift nicht ein, sieht ihn sterben, ihn, der noch vor wenigen Stunden Luce geküsst hatte, jenes Mädchen, das ihm den Kopf verdreht. Léonard schleift in seiner Verzweiflung darüber, dass er ihn hat sterben lassen, den Leichnam in die Dünen und vergräbt ihn in einem Loch, buddelt es noch einmal auf, weil Oscars Handy klingelt. Er glättet den Sand über Oscar, aber nichts von dem Sturm, der in seinem Innern tobt, der alles in Frage stellt, das Innerste nach aussen zu stülpen droht.

Léonard torkelt durch die letzten Stunden seiner Ferien, durch Parties, Karaokesingen, Spielplätze, die heile Welt seiner Familie, vorbei an sonnenrotem Fleisch, inszenierter Fröhlichkeit zwischen Sonnenschirmen und Beachballfeldern.

„Geniesst es, dass sind eure besten Jahre!“, schreit man ihm nach. „Nächstes Jahr kommen wir wieder!“, klinkt wie eine Drohung, die den Alptraum ins Unendliche zieht. Léonard fühlt, wie ihm das Leben zerrinnt, dieses flüchtige Etwas, das er in Oscars Gesicht enden sah, das sich in diesem Ort am Meer, diesem Ort theatralischer Zufriedenheit wie Gift auszubreiten droht, erst recht, wenn der Moment kommen wird, wo die Polizei auftauchen wird. 

Und da ist auch noch Luce, das Mädchen, das in ihm Gefühle auslöst, mit denen er nicht zurecht kommt, ein Ziehen zwischen Anziehung und Abstossung, Hoffnung vermischt mit der Angst weggestossen zu werden.

Victor Justin «Hitze», Kein & Aber, 2020, 160 Seiten, 26.00 CHF, ISBN: 978-3-0369-5828-6

Ein Campingplatz ist eine Welt mit ganz eigenen Gesetzen. Mit der Ankunft wir man geboren, mit der Abreise stirbt alles, was in den zwei Wochen durch eine Überdosis Nähe gewachsen ist. Man schliesst Freundschaften für ein paar Tage. Herzen entflammen sich und erkalten wieder. Dramen auf engstem Raum. Victor Jestin schildert diesen Kosmos als wäre er ein Gezeichneter, ein Versehrter. Alles schreit nach Unterhaltung, Vergnügen, Körperlichkeit. Für einen Heranwachsenden wird der Campingplatz zu einem permanenten Laufsteg, auf dem man sich zu behaupten hat, will man seinen Marktwert nicht ganz verlieren. Die Gefühle zwischen Euphorie und Depression schlagen aus, wie die Zeiger eines Geigerzählers.

Victor Jestin schlüpft in das vibrierende Innere eines Jugendlichen in totaler Verunsicherung. Ein heilsamer Einblick für all die Erwachsenen, die mit zunehmendem Alter vergessen, welche Katastrophen in jener Zeit stattfinden. Nichts von Süsse, keine Romantik, keine Schmetterlinge, nur die Angst vor einem langsam rollenden Tsunami. Victor Jestins Sprache ist unmittelbar. Die Hitze des Sommers, die Glut in der Seele des jungen Mannes brennen während der Lektüre. Die Einsamkeit mitten im Gewusel eines Campingplatzes, überzogen mit dem klebrigen Schweiss eines infernalen Sommers.

Victor Jestin, 1994 geboren, verbrachte seine Kindheit in Nantes und studierte anschließend am Conservatoire européen d’écriture audiovisuelle in Paris, wo er heute auch lebt. «Hitze» ist sein Romandebüt.

Sina de Malafosse, geboren 1984, lebt als Lektorin und Literaturübersetzerin in Toulouse. Sie übersetzt u. a. Adeline Dieudonné, Mathias Menegoz, Antoine Laurain und Jean-Paul Didierlaurent.

Interview

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Leona Stahlmann «Der Defekt», Kein & Aber

Ich lese, weil ich die Welt nicht aus den Augen verlieren will. Ich lese, weil sich die Welt der Gegenwart sonst in rasendem Tempo von mir entfernt. Und manchmal lese ich ein Buch, das mich daran erinnert, auch einmal jung gewesen zu sein. Kein Buch über die Unbeschwertheit, schon gar nicht die Leichtigkeit des Seins. Aber ein Buch wie das von Leona Stahlmann, das zeigt, dass es nicht erst die Welt der Erwachsenen braucht, um gefangen zu sein.

Sie lernen sich in der Schule kennen, im letzten Jahr, Mina und Vetko. Mina sieht sich nicht so wie die anderen Mädchen in der Klasse. Aber Mina sieht in Vetko, dem Aussenseiter, der alleine vorne in der ersten Reihe sitzt und um einiges älter ist alles alle andern, einen Verbündeten. Auch einen, der nicht ist wie alle andern im Dorf. Sie kommen sich näher. So nahe, dass die Spuren der Nähe auf Minas Haut unübersehbar werden. Mina sieht in der Art und Weise, wie Vetko ihr begegnet nur die immerwährend schwelende Bestätigung, dass an ihr etwas nicht stimmt. Etwas stimmt nicht, weil Vetko die Welt in unumstösslichen Sätzen zu erklären weiss, eine Welt,, die sie nicht versteht. Etwas stimmt nicht, weil sie genau spürt, dass die Bindung zu Vetko anders ist als das, was man als Liebe bezeichnet, wovon die andern Mädchen in der Klasse schwärmen. Etwas stimmt nicht, weil sich alles ineinanderfügt und sich niemand, schon gar nicht ihre Mutter oder jemand ander dem Strudel entgegenstellt, der Mina hinabzieht. Etwas stimmt nicht, weil Vetko sie permanent zu bestrafen scheint für eine Welt, die aus den Fugen geraten ist.

Leona Stahlmann «Der Defekt», Kein & Aber, 2020, 272 Seiten, 28.00 CHF, ISBN 978-3-0369-5821-7

Die Treffen zwischen den beiden finden in aller Heimlichkeit statt, verborgen vor allen. Treffen, an denen sich Vetko mit seinem sonderbaren Paarungsverhalten immer verletzender an Mina vergeht, Mina untertan macht, sie erniedrigt, knechtet, ihr Prüfungen auferlegt, die beweisen sollen, dass nur er der ist, der versteht. Aus Minas Faszination für den schlaksigen Einzelgänger wird tief eingegrabene Abhängigkeit. Vetkos Strenge scheint die Fortsetzung der mütterlichen Strenge zu sein. Vetkos gebieterische Art die einzige Möglichkeit, ihren Defekt zu kompensieren.

Mina rutscht immer tiefer in die Abhängigkeit, tut alles, um Vetko zu genügen, fügt sich seinen Verboten und Geboten. Und obwohl sie immer wieder einmal den Versuch unternimmt, Distanz zwischen sich und Vetko zu bringen, siegt immer wieder die Angst, sie würde die letzte Orientierung, den letzten Halt verlieren.

Leona Stahlmann schildert hart. Nicht nur das, was an verletzenden Körperlichkeiten zwischen den beiden geschieht. Was ihren Roman zum Leseerlebnis macht, ist nicht die Drastik der Geschehnisse, die sie beschreibt, sondern der diametrale Kontrast ihrer Sprache zum Geschehen. Sie schreibt nicht in Grautönen, scharf gezeichnet. Sie mäandert mit der Sprache. Was sie beschreibt, sind nicht bloss die Spuren auf Minas Haut, die blauen Flecken, das Leben, das wie Säure in den Rachen rinnt. Leona beschreibt, was innen bleibt, tut das in einem Sound, der flirrend luftig rockt, der sich aufbauscht, Kapriolen schlägt. Ein Ton, der einem berauscht und betört. So sehr die Geschichte nach unten zieht, bis zum letzten Satz, so sehr erhebt sich die Sprache in ungewohnte, fast schwindelnde Höhen.

Leona Stahlmann beschreibt, wie weit weg der eigene Planet abdriften kann, wie sehr man sich auf der Suche nach Echtheit, nach seiner eigenen Kontur, nach Liebe verlieren kann. Literatur für mutige LeserInnen. Literatur, die mich nicht so leicht wieder entlässt. Ein Roman, der ein Versprechen für die Zukunft ist!

© Benjamin Gutheil

Ein Interview mit Leona Stahlmann

Was will ich mehr, als mit Literatur in Welten eintauchen. Auch in fremde Welten. Mit ihrem Roman geschieht genau das, auch wenn die Dorf-, Schul- und Landschaftskulisse vertraut ist. Umso mehr überrascht, dass Sie eine Welt ausleuchten, von der ich wenig Ahnung habe, eine Welt, die sich hinter all den Idealbildern verbirgt, die uns glauben machen, die Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein sei nur ein Übergang. Ist das Aufklärung?
Aufklärung ist ein Lichtphänomen: eine eintretende Helligkeit an einer Stelle, die vorher nicht nur dunkel, sondern vielleicht sogar unsichtbar gewesen ist. Ich belichte mit diesem Buch gewohnte Bilder neu, zeige das Fremde in ihnen und darauf dem Leser, der Leserin, was dieses gefundene Fremde mit ihnen zu tun hat, wieviel von Ihnen, den Lesenden, mir, jedem Menschen im vermeintlich Abstossenden, in der Ausleuchtung der dunklen Ecke steckt.

Die Geschichte kontrastiert mit der Sprache und macht damit die Geschichte noch viel stärker. Ihr Buch erzählt nicht nur einfach vom Leiden einer jungen Frau, den Abhängigkeiten, der Suche nach dem Echten und Wirklichen. Sie erzählen in einer Sprache, die üppig und verspielt sein kann, grosse Musikalität beweist. War das die Absicht vom Beginn des Schreibens weg?
Ja, absolut. Ein Buch ist ein flexibler Container, der immer die Form seines Inhalts annehmen muss.  Das Grausame und Harte und Zerrissene kann man, muss man schön, üppig, manchmal gar schmeichelnd erzählen, damit es auf die Seele wirkt, nicht nur auf den Verstand. 

Mina ist ein Mädchen, eine junge Frau, die sucht, verzweifelt sucht. Die einen werfen sich in Ideologien oder Religionen. Mina in die Arme eines dunklen Propheten, der sie immer wieder zwingt, ihre Loyalität zu beweisen. Und doch schimmert in keiner Zeile ihres Romans eine Verurteilung durch, schlussendlich nicht einmal Hoffnung. Sind das die Auswirkungen all dessen, was durch die globalen Bedrohungen verloren geht; die romantische Hoffnung einer besseren Zukunft?
Dunkler Prophet, das gefällt mir sehr, auch wenn es ein falscher Ausdruck ist. Ich empfinde die Figur Vetko gar nicht als dunkel; er verdunkelt höchstens absichtlich einen Teil der überkomplexen Wahrheiten unserer verstrickten Zeit, um es sich einfach zu machen, sperrt einen Ausschnitt der Welt ab, der ihm passt, um ihn überschaubar zu halten. Ob das das Ende einer romantischen Hoffnung bedeutet oder ihren Anfang, habe ich bewusst offen gehalten; das mag ein anderer entscheiden, am Besten jeder Leser, jede Leserin für sich (und mir gern davon erzählen).

Vetko weiss es. Nur alle anderen wissen es nicht. Und Vetko weiss intuitiv, wieviel Angst er bei Mina mobilisieren muss, dass sie in seiner Abhängigkeit hängen bleibt. Eine Metapher für viel grössere Zusammenhänge?
Natürlich – dieses Buch funktioniert in Deutungsspiralen, die sehr gross gezogen werden können, bis zur globalen Spannweite, wenn man es möchte. Aber man muss es nicht.

Wir leiden alle unter Defekten. Die eine zerstörerischer als die andern. Ist Schreiben eine Form des Kampfes dagegen? Gegen den Defekt? Schreiben, ein fertiges Buch als ein ganz kleines Stück Paradies, das man zurückgewonnen hat?
Ein fertiges Buch ist wohl eher eine kleine Hölle, die man losgeworden ist auf ein paar hundert Seiten, sicher verstaut hinter zwei Pappdeckeln. Am Besten gehört übrigens ein Schuber drumherum, dann sind die Ungetüme darin garantiert ausbruchssicher. Beim nächsten Buch vielleicht 😉

© Pablo Heimplatz

Leona Stahlmann, geboren 1988, lebt in Hamburg und arbeitet als Autorin, Journalistin und Veranstalterin. 2017 gewann sie den Hamburger Förderpreis für Literatur, 2018 war sie Stipendiatin der Romanwerkstatt des Literaturforums im Brecht-Haus in Berlin und gewann den ersten Wortmeldungen-Förderpreis. «Der Defekt» ist ihr Debütroman.

Beitragsbild © Simone Hawlisch

Dorthe Nors «Die Sonne hat Gesellschaft», Kein & Aber

Nicht immer hat man Zeit und Lust auf einen seitenstarken Roman. Nicht immer muss es eine verschlungene, sich windende Familiensaga sein, die irgendwo kurz vor dem Ersten Weltkrieg unter sich am Himmel aufbauender Wolken beginnt und sich hochschraubt bis in unsere Gegenwart plus einen Ausblick auf die Zukunft, bevölkert von einem hundertköpfigem Helden-Ensemble, mindestens. Manchmal soll es nur eine kleine Geschichte sein.

«Geschichten wie Blitzeinschläge»
Gastbeitrag von Frank Keil

Zwei Personen treten an und auf, nicht mehr. Na gut – drei. Vielleicht noch hält sich die eine oder andere Figur im Hintergrund, die sich vage einmischt, sozusagen mit Hörensagen. Aber nicht mehr!
Hineingeworfen werden möchte man in eine Szenerie, in der es gleich im ersten Satz um aber auch alles geht. Der den Takt angibt, der erste Satz, der die Richtung zeigt, in die es nun geht, bergab, bergauf, aber meistens bergab, mit Tempo, getragen von einer gewissen Gnadenlosigkeit. Und dann ist alles schon wieder vorbei und fängt doch im eigenen Kopf erst an. Wer das mag, wer das schätzt, wer da aufschreckt im positiven Sinne auf den letzten Satz starrt, ist bei der dänischen Erzählerin Dorthe Nors genau richtig.

Dorthe Nors „Die Sonne hat Gesellschaft“, aus dem Dänischen von Frank Zuber Kein&Aber, 2020; 142 Seiten, 26 CHF, ISBN: 978-3-0369-5823-1.

Ein vor sechs Jahren erschienener Erzählband trägt den Titel „Handkantenschlag“; ein darauffolgender Roman hört auf den Titel „Rechts blinken, links abbiegen“, da weiß man gleich Bescheid. Nun ist just ein nächster Erzählband erschienen: „Die Sonne hat Gesellschaft“. Auch nicht schlecht.
Also: Ein Mann hat es satt, dass er jede, aber auch jede Auseinandersetzung mit seiner Frau verliert, und er flieht in den Wald; fürchterlich gefroren hat er in der Nacht, Tiere brachen durchs Unterholz. Zwei junge Frauen sammeln in einem heruntergekommenen Wohnviertel Spenden für die Krebshilfe, sie haben eine Büchse, mit der man gut rasseln kann, wenn ein wenig Geld sich darinnen versammelt hat, aber dann fragen sie sich plötzlich: Was machen wir hier eigentlich, in einer Gegend, in die wir nicht hineingehören, dabei läuft es nicht schlecht, also mit dem Sammeln läuft es eigentlich ganz gut, nur die Liebe – puh: die Liebe! Ein Mann besucht eine Frau, die vielleicht seine neue Freundin ist oder die es werden wird, wenn es gut wird, mal schauen, eine Nacht haben sie miteinander verbracht, und nun nimmt sie ihn mit zu einem Familienfest, in einem Gasthaus in der Nähe, ein Mittagessen, aber da duldet man ihn gerade mal so. Noch ein anderer Mann steht am Sarkophag von Lord Nelson, dem Einarmigen, der zuletzt auch einäugig war, in der Mitte der Krypta steht der Sarkophag, Erinnerungen an seine abenteuersehnsüchtige Kindheit überschwemmen unseren Mann, an Modellbauschiffe, an ruppige Eishockeyspiele denkt er, seine Frau sitzt draußen auf den Stufen, mit Sonnencreme im Gesicht und schaut gelangweilt in ihr Handy, sie spielt ein Spiel, bei dem man bunte Ballons zerplatzen lassen kann.

14 hochkonzentrierte Geschichten sind so versammelt, 14 Geschichten wie Blitzeinschläge, 14 mal Grundmomente wie Verzweiflung, Einsamkeit, aber auch des Aufbegehrens werden uns auf jeweils wenigen Seiten erzählt, das kann Literatur, das kann sie wirklich, auch das denkt man und denkt an all die Leute, die da sagen: „Bücher? Ich lese keine Bücher mehr, vielleicht mal ein Fachbuch.“. Während man durchaus angestrengt überlegt, ob man jetzt gleich die nächste Geschichte hinterherlesen will, sofort, ohne Pause, oder ob man sie sich aufsparen will, auch weil man ein wenig Angst hat, dass der Zauber und mehr noch die Macht des eben Gelesenen in die Kniee gehen könnte, wenn jetzt gleich wieder der Anfangssatz der nächsten Geschichte zündet und diese die eben Gelesene überlagert.

Dabei hat Dorthe Nors mit Romanen angefangen. Hat zugleich immer in die USA geschielt, sich ausgedacht, dass sie das nicht könne, Kurzgeschichten schreiben, aber dann setzte sie sich in eine Schulklasse von jungen Leuten, die dabei waren noch den letzten Halt zu verlieren und denen man noch eine Chance geben will, eine letzte, eine allerletzte; saß da unter ihnen, schaute hin, hörte zu, schrieb darüber einen kurzen, knappen Text, las ihn den Schülern vor und die waren begeistert, sie fühlten sich gesehen, weil sie sie gesehen hatte.
Und Dorthe Nors schrieb weiter, schrieb weitere Kurzgeschichten, eine Gattung, die es in der klassischen dänischen Literatur eher nicht gibt, sie in einem Rutsch, in einem dieser typischen Ferienhäuser an der jütländischen Westküste, das einst dem dänischen Dichter Knut Sørensen gehört und das nun für Stipendienaufenthalte zur Verfügung steht; zwei Wochen nahm sie sich Zeit, schrieb und schrieb und schrieb, was auch gut war und half: Sie war in dieser Zeit verliebt, schwer verliebt, wie man so sagt, war sich sicher, die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben.

„Handkantenschlag“ oder übersetzt: „Karate Chop“ wurde ein Erfolg in den USA, eine Erzählung aus dieser Sammlung druckte der The New Yorker ab, so wurde sie die erste Dänin, von der ein literarischer Text im The New Yorker abgedruckt ist.
Und so ist sie – sozusagen unterbrochen von weiteren Romanen, wobei „Rechts blinken, links abbiegen“ für den Man Booker International Prize nominiert war – beim Sujet der Kurzgeschichte geblieben, was man nur begrüßen kann, und in ihrem eben neuen Erzählband gibt es neben den Geschichten über den Lord-Nelson-Fan und dem Mann im nächtlichen Wald, auch eine Geschichte über eine Schriftstellerin: Eine Schriftstellerin zieht sich zum Schreiben in das ehemalige Sommerhaus eines norwegischen Schriftstellers zurück, mitten im Wald liegt es, aber sie findet keine Ruhe zum Schreiben, eine Liebe ist zerbrochen, unweigerlich, wie soll man da schreiben, aber dann fügen sich die Dinge neu zusammen, Pferde spielen eine Rolle, das Foto von einer nackten Frau an einer Wand, eine Mutter und ihr Sohn und sie kommt ins Schreiben und der erste Satz geht so: „Es ist lange her, aber einmal wohnte ich in einem kleinen Haus in Norwegen.“

Dorthe Nors wurde 1970 in Herning, Dänemark, geboren und studierte Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Åarhus. Sie ist die Autorin mehrerer Romane, Kurzgeschichten und Novellen. Bei Kein & Aber erschien 2016 ihr Roman «Rechts blinken, links abbiegen», der für den Man Booker International Prize nominiert wurde. Dorthe Nors lebt an der dänischen Westküste.

Frank Keil, Journalist, lebt und arbeitet in Hamburg und Norddeutschland. Studium der Diplom-Pädagogik. Seit 1995 unterwegs als freier Journalist, Schwerpunkte Kunst und Kultur, Geschichte sowie Bildung und Soziales. Aktuell regelmässige Beiträge für die Taz Nord, Hinz&Kunzt, Nordis, Mare, Jüdische Allgemeine, die Evangelische Wochenzeitung und andere Medien. 1990 Förderpreis für Literatur der Hansestadt Hamburg, 2009 Essaypreis der Akademie für Publizistik.

Webseite Frank Keil

Beitragsbild © Petra Kleis