Iason Depountis «Im Quantenland» von Alice Grünfelder

„Meine schriftstellerische Laufbahn begann mit einer Frage und endet mit derselben Frage wie am Anfang: Ob es wirklich auf dieser Welt einen Ort gibt für die Geplagten, die Armen, die Aussenseiter und armen Teufel?“ Tatsächlich dreht sich für den griechischen Lyriker Iason Depountis (1919-2008) alles um diese eine Frage, und er hat sie im Laufe seines schriftstellerischen Lebens variantenreich beantwortet.

In seinem Hauptwerk „Systema Naturae“ sucht er nach dem Zusammenhang zwischen Dichtung, Wirklichkeit und Wissenschaft, kombiniert Buchstaben, Formeln und Zahlen und reizt diese Kombination in so manch einem Poem aus bis an die Grenzen der Verständlichkeit. Ist die Hermetik seiner Lyrik womöglich der griechischen Diktatur geschuldet? Im Jahr 1969 setzte er zusammen mit 17 Schriftstellern seine Unterschrift unter eine Charta, die sich gegen Zensur verwehrte, kurz darauf floh er über England, Frankreich und gelangte in die Schweiz, wo er im Kinderdorf Pestalozzi Trogen 13 Jahre lang das griechische Haus leitete. Sein Sohn Dimitris Depountis übertrug das Werk des Vaters ins Deutsche, ihn fragte ich nach den Überlegungen, Abrechnungen und Ermahnungen des Iason Depountis`.

Leiser Beobachter, Sehn-Süchtiger und humorvoller Melancholiker – er selbst nannte sich „Bürger des Planeten“ und „Der aus dem Meer Geborene“. Welche dieser Bezeichnungen trifft wohl am ehesten auf Iason Depountis zu, frage ich Dich nicht als Sohn, sondern als Literaturwissenschaftler. Was hat ihn umgetrieben – im Leben und in der Literatur?

Eines seiner letzten Bücher veröffentlichte Iason Depountis unter dem Pseudonym „Odysseas Okeanos“. Das poetologische Essay trägt den Titel „Das Meer im TV“, der erste Satz darin lautet: „Dort liegt mein ganzer Reichtum, verstreut vor mir, am Horizont“. Bei jedem anderen Autor wäre ein Pseudonym wie „Odysseus Ozean“ wohl eine Anmassung, bei Depountis nicht: Fast die Hälfte seiner gut zwei Dutzend Werke hat unmittelbar mit dem Meer zu tun. Darunter fallen so unterschiedliche Texte wie solche über die Schwarmbildung von Fischen, in deren Verhalten er ähnliche Prinzipien wirken sah wie bei der Produktion von Sprache. Oder Gedichte über den Freiheitskampf auf den Inseln der Ägäis. Und zu erwähnen wären etwa Essays über ein angeblich unsterbliches prähistorisches Wesen Namens „Antixoos“, das im Meeresgrund gelebt haben soll und seinem Wesen nach einem Poeten gleichkam. Als einen „Bürger des Planeten“ bezeichnete er sich erst in den späten Jahren, als er von einer quasi universellen Warte aus auf das Leben blickte und sich in seiner Dichtung vermehrt der Mathematik und der Astronomie zuwandte. Beide Angaben zu seinem Ursprung (er vermied praktisch jede andere) verweisen natürlich auf die anti-regionalistische, anti-nationalistische Haltung, die ihn zeitlebens auszeichnete: Alle Menschen besassen ihm zufolge dieselbe, sie verbindende Herkunft.

Manche Gedichte sind nicht einfach zugänglich, was u.a. an der Kombination von Buchstaben, Ziffern und mathematischen Formeln liegt. Iason Depountis besuchte während seiner Zeit in Trogen mathematische Vorlesungen an der ETH Zürich, was faszinierte ihn daran? Und warum hat er Verquickung von Dichtung und Wissenschaft zu seinem lyrischen Prinzip erhoben?

In der Mathematik sah er so etwas wie die „verlorene Vernunft“ der Poesie, also das, was der zeitgenössischen Dichtung seiner Meinung nach fehlte, um Zusammenhänge als relevant zu erkennen und zu erschliessen: Wort und Zahl, Wissenschaft und Poesie bildeten für ihn ursprünglich eine Einheit, die es wiederherzustellen galt, und er erhoffte sich einen Wandel für die Welt durch eine von der Dichtung ausgehende Erneuerung der Wissenschaften. Sicher hing sein Interesse an der Mathematik auch mit seiner Freundschaft mit dem Architekten und Musiker Iannis Xenakis zusammen, der mathematische Verfahren in seinen musikalischen Kompositionen umsetzte. Jedenfalls war Iason Depountis der Meinung, dass die bisherigen Formen der Dichtung das substanziell Neue, das das 20. Jahrhundert mit sich brachte, nicht wiederzugeben vermochten. Einen Spaziergang im Wald als eine romantische Fussreise in der Art des 19. Jahrhunderts darzustellen, wäre für ihn ein Graus gewesen, ähnlich anachronistisch wie der Sheriff im Wildwestfilm, der auf seine Armbanduhr schielt (lacht). Liebende unter heutigen Bedingungen spazieren in einem Quantenwald; sie werden durchdrungen von elektromagnetischen Strahlen, von Satelliten beobachtet und, aus Schaltzentralen abrufbar, von Computern erfasst.

Entsprechend experimentierte er und suchte beständig nach adäquaten Weisen, das Brandneue, das er in seiner Umwelt entdeckte, auszudrücken. Seine letzten Werke zeichnen sich durch eine enorme Vielgestaltigkeit aus, der die Suche nach einer Antwort zugrunde liegt, wie sich das mörderische Jahrhundert ausdrücken und vielleicht sogar auch überwinden liesse. Interessant ist hier nicht zuletzt seine Haltung gegenüber den neuen Technologien: Obwohl er auch ihre Gefahren beschrieb, sah er in diesen vorab eine Chance und entwickelte für seine Dichtung die Vorstellung einer Art kybernetischer Lyrik an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine.

Sein Hauptwerk „Systema Naturae“ erschien 1969 während der Militärdiktatur der Obristen erstmals als illegaler Druck. In den Jahren 1984 und 1998 wurde die Gedichtsammlung ergänzt und neu aufgelegt. Diese Lyrik ist radikal in ihrem Versuch, Wurzeln und Zusammenhänge und die Gefahr der totalen, menschengemachten Zerstörung zu ergründen. Ist Iason Depountis ein engagierter, politischer Lyriker, ein Mahner? Vor allem, wenn ich an diese Zeilen denke? „die Flüsse Europa, die verrotten / die Flüsse sie verrotten sie verrotten und verrotten / zu einem Zeitpunkt des Grauens & Verbrechens / deine Flüsse deine Dichter, Europa, sie verrotten.“

Du hast mich vorhin nach der Mathematik in der Dichtung des Iason Depountis gefragt: Bei aller „Mathematisierung“ und Experimentierfreude vor allem des späten Dichters darf man nicht vergessen, dass sein Werk ursprünglich ganz direkt aus dem antifaschistischen Widerstand der 1940er Jahre hervorging. Er begann nach eigenem Bekunden Gedichte zu schreiben, um die angefangenen Gespräche mit den gefallenen Genossen des grossen Widerstands fortzuführen. Auch wenn er später von seiner frühen Produktion Abstand nahm, tat er dies nur bezüglich ihres künstlerischen Werts und nicht etwa bezüglich ihres Inhalts oder seines Engagements. Im Gegenteil: Das gesamte Werk des Dichters ist im Grunde hochpolitisch und referiert vorab auf die Themen Krieg und Zerstörung. Das heisst, auch dann, wenn von anderem die Rede ist, ist dieses Andere trotzdem nur vor diesem Hintergrund in seinen eigentlichen Dimensionen zu begreifen.

In der „Systema Naturae“ nun breitet er in einer Art Gesamtschau menschlicher, aber auch tierischer Lebenswelt seine ganz eigene Sicht auf das 20. Jahrhundert aus: Demnach habe der Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki die existenziellen Bedingungen auf der Erde grundlegend verändert. Leben und Tod, die bisherigen Dimensionen und Koordinaten: Alles wurde mit den Abwürfen durcheinandergewirbelt und vernichtet. Sogar der Tod, der bisher Teil einer Einheit von Werden und Vergehen, Sein oder Nichtsein gewesen ist, wurde pulverisiert. Die Bomben löschten alles aus, die Umwelt, die Mitmenschen, die Geschichte, als hätte es das alles nie gegeben. Eine neue Grösse entstand: das Nichts. Das vom Menschen erschaffene, jedoch von keiner Wissenschaft, Philosophie, Dichtung oder Religion prognostizierte Nichts.

In den siebziger Jahren kam noch das Thema der allgemeinen Umweltzerstörung hinzu. Das Gedicht mit dem Titel „Schall & Töne“ über die Flüsse Europas, das aus jener Zeit stammt und aus dem du die obigen Verse zitiert hast, besitzt allerdings eine weitere Komponente als jene der Umweltkatastrophen – denn hier werden die kontaminierten Flüsse mit den europäischen Dichtern und Intellektuellen gleichsetzt. Die ehemaligen Vordenker der Aufklärung und „Fuhrhalter des Reichtums“ Europas „hüten jetzt Schlamm“, heisst es an anderer Stelle. Noch deutlicher wollte Iason Depountis seine Haltung gegenüber festgefahrenen lyrischen Traditionen wohl nicht ausdrücken.

 

Düster seien die Gedichte, schreiben einige Literaturkritiker, Zeilen wie „Vor uns klafft der Abgrund Erde, der Abgrund Mensch“ versprechen in der Tat wenig Hoffnung. Schrieb Iason Depountis gegen den Untergang der Menschheit an?

Ja, ich glaube tatsächlich, dass Iason Depountis zumindest zeitweise gegen den Untergang der Menschheit anschrieb. Die Art, wie er dies tat, war singulär: Gerade das Spätwerk weist trotz seiner wahrlich düsteren Thematiken eine überraschende Verspieltheit auf, der man bis in die kleinsten Details begegnen kann. Auf den Spuren des Ganzen – des ganzen Lebens, des ganzen Todes, der ganzen Welt – wandte sich sein Blick zuletzt vermehrt nach aussen, ins Universum. In der Schönheit der Sterne, in ihren Formationen, ihren Namen fand er möglicherweise etwas, wonach er zeitlebens gesucht hatte. Zugleich sprengten seine Manuskripte, die er nun „Metatexte“ nannte, allmählich den Rahmen von simplen Textträgern, glichen mehr Bildern und Kollagen, trugen zunehmend Züge von Gesamtkunstwerken.

Andererseits hat es in seinem Werk immer auch „leichtere“ Gedichte gegeben – zum Beispiel jene über einzelne Schweizer Ortschaften, die während der Zeit im Kinderdorf Pestalozzi in den Jahren 1969–1982 entstanden. Hier legte er eine Heiterkeit und Gelassenheit an den Tag, wie sie sich sonst nur bei einzelnen seiner Meeresschilderungen manifestierte. Zu erwähnen wäre da unter anderem das ganz und gar untypische Gedicht über das Dorf Trogen, in dem das Leid der Welt vor lauter Staunen über das Naturphänomen Nebel zumindest vordergründig vergessen zu gehen scheint. Oder ein Gedicht über das Nietzsche-Haus in Sils Maria, in dem der Dichter wie ein schelmischer Tourist den Tisch des Philosophen mitnimmt, um ihn auf den See Silvaplana zu stellen. Ich denke, dass Iason Depountis trotz der Düsterkeit der meisten seiner Werke immer wieder zu einer Musse finden konnte, die ihn regenerierte. Unter anderem auf seinen Spaziergängen in der Nähe des Zürcher Zoos, unweit des Grabs seines geliebten James Joyce.

«Die ruhelose Dichtung eines ruhelosen Geistes», schreibt der Literaturhistoriker Alexandros Argyriou. Nach seinem 75. Geburtstag pendelte Iason Depountis zwischen Zürich und Athen und veröffentlichte fast jährlich ein neues Buch. Was führte zu dieser Schaffensexplosion?

Tatsächlich veröffentlichte er in den letzten zehn Jahren seines Lebens ein Drittel seiner gesamten literarischen Produktion. Neben acht Büchern auch so manche Beiträge in Zeitungen, Literaturzeitschriften und so fort. Das hatte wohl mehrere Gründe. Zum einen war er Griechenland auch nach dem Sturz der Junta während vieler Jahre ferngeblieben, und es hatten sich in dieser Zeit sehr viel Stoff und viele Manuskripte angesammelt, die er erst jetzt publizieren konnte. Der wichtigste Grund war jedoch meiner Meinung nach die Bekanntschaft und Freundschaft mit dem knapp 40 Jahre jüngeren Verlegerpaar Kostas Kremmydas und Tzela Asprogeraka nach etwa 1995, die sich als eine der glücklichsten Fügungen im Leben von Iason Depountis erwies. Kremmydas und Asprogeraka, die den Verlag und die renommierte Literaturzeitschrift „Mandragoras“ leiten und ein ganzes Team von jungen Leuten um sich scharen, hegten und hegen eine unumstössliche Bewunderung für das Werk von Depountis und haben damit auch die Personen um sich angesteckt. Das heisst: In den letzten zehn Jahren vor seinem Tod war Iason Depountis von einer ganzen Schar junger Menschen umgeben, die ihn auf Händen trugen und unterstützten – wofür er natürlich sehr dankbar war. So konnte der Dichter seine mathematischen Gedichte, seine Essays und „Metatexte“ laufend produzieren: Praktisch alles wurde sofort gesetzt und publiziert. Iason Depountis› schöpferische Leidenschaft befand sich in der letzten Schaffensperiode dank des Engagements der Leute um „Mandragoras“ quasi im Zustand eines permanenten Urknalls.

Das Interview führte Alice Grünfelder.

Das Dorf Trogen 

Der Nebel wird hier geboren er ist hier
zu Hause.
Ich sehe ihn aus den Tannen oder unter
den Brücken aufsteigen
oder er zieht über das dichte Gras das
immer grünt;
er kommt auch aus dem Fell der Tiere, der
Kühe, die östlich des Dorfes
Flusspferden gleichen;
der Nebel entsteht mitten auf der Strasse,
wie eine anmutige junge Bäuerin
die Sonne scheint ihr ins Haar, dann trägt
sie ihre, im Licht blendenden, Appenzeller
Stickereien
der Nebel kommt auch aus den feuchten
Kleidern der Kinder;
so wie er von den Dächern emporsteigt,
vergisst er sich,
wie eine Schweizer Grossmutter oder
wie jene trotzige alte Dame von Dürrenmatt
— von Friedrich Dürrenmatt —
und es dauert
eine Ewigkeit, bis er sich verzieht.

Ein Wanderlied für Sils-Maria
«Ein Zwei Drei …

Nietzsche achetait ce qu’on trouve
à la gare de Sils-Maria,
des livres de Gyp, de Paul Bourget.
Zarathoustra est un vieux guide suisse,
mais son diamant raye tout.» Jean Cocteau

ich möchte hier zuerst die Regel meiner Kunst
erklären ich stelle den Gegenstand:
«Nietzsches Tisch»
der vollkommen gleichgewichtig
in Raum und Zeit ruht so wie man
zum Beispiel sagt, etwas stehe von selbst
auf der Oberfläche des Wassers zudem stelle
ich ihn als mein eigenes Werk über die visuelle Phantasie.

zum Thema:

nach einem nachmittäglichen Besuch
im hübschen und gepflegten Haus von Sils-
Maria, wo Friedrich Nietzsche gelebt und
geschrieben, wo Friedrich Nietzsche gelitten
hat und geschrieben, konnte ich nicht anders
handeln (die Gründe sind im All verborgen)
vorsichtig zog ich also im Zimmer des Philo­-
sophen den Tisch, seinen Tisch, hob ihn
langsam von seiner Stelle und nahm ihn
ohne jede Heimlichkeit hinaus. Ich sah
ihn an, er war ein kleines aber
geschmackvolles Möbel, Nietzsches Tisch, er
hatte das Gewicht all der vielen und unruhigen
Gedanken des Dichters getragen.

ich nahm ihn so wie er war
mit der antiken Lampe als Dekor
und stellte ihn dorthin, wo er
auch heute noch steht: mitten auf die Wasser-
­fläche des Sees Silvaplana.

ein Tisch auf dem Wasser,
wie ein Zeitspiel
wie eine Epiphanie;

die Lampe spendet ein mystisches Licht.

(Das Gedicht „Ein Wanderlied für Sils-Maria“ aus dem Jahr 1973 findet sich auf einer Tafel zu Iason Depountis, die im Nietzsche-Haus in Sils-Maria vis-à-vis vom Schlafzimmer des Philosophen hängt.)