Fee Katrin Kanzler «Mächtige Männer warten lassen»

I tried and failed to be a character in a story somebody else had written for me.– Laurie Penny

Krishna war ein kleiner, zu dünner Säugling mit schwarzem Haarflaum. Dass Krishna der Name eines Hindugottes ist, eines blütengeschmückten Flötenspielers, um den sich weiße Kühe scharen, hatte die Mutter nicht geschert. Sie wusste nicht, dass hinter dem Wort eine der zehn Inkarnationen Vishnus steckt, ein blauhäutiger Weiberheld. Sie nannte ihre Tochter Krishna, weil sie den Namen bei George Harrison aufgeschnappt hatte, seine ausgefallene Schreibweise, seinen Klang mochte. Einzig dem betreuenden Arzt fiel der Zusammenhang zwischen dem Namen und der leicht bläulichen Haut des Mädchens auf.

Vom Turm herab schlägt es fünf Uhr, ein spröder, hungriger Ton. Die Marktleute klappen ihre Buden zu, sammeln das restliche Gemüse ein. Ein paar letzte Tüten werden hastig an den Mann gebracht, bevor ein Verkaufswagen nach dem anderen davonrollt. Ein leichter Nieselregen setzt ein.
Die Künstlerin geht über den Platz, das Haar unter ihrer Kapuze verborgen. Schon von Weitem sieht sie den geschwungenen Schriftzug, die rote Eingangstür, die Lichter des Bistros. Drinnen baumeln Kronleuchter wie silberne Spinnen von der Decke. Unter einer der Glitzertaranteln sitzt der Mann mit dem Geld.
Er lümmelt mit dem Rücken zum Fenster, sie kann seine Halbglatze ausmachen, das immergleiche Grau seiner Schultern. Sie weiß, wie es abläuft, sie wird ihm gegenüber Platz nehmen, in dem engen Gang zwischen den Cafétischen, durch den wieder und wieder die Bedienung flitzt. Wenn andere Gäste die Tür öffnen, wird sie den kühlen Zug der Abendluft spüren, während der Mann mit dem Geld auf sie einredet, ihr sagt, was geht, was nicht geht und was er will. Manchmal wird der Ellenbogen der Kellnerin ihren Hinterkopf streifen, so dass sie ständig befürchtet, über ihr könnte ein Tablett voll Kaffeetassen ausgekippt werden. Schon vier solcher Treffen hat sie hinter sich, ohne dass die großen Versprechungen wahr geworden wären.
Etwas Pinkfarbenes leuchtet ihr auf dem nieselnassen Boden entgegen. Ihre Schritte verlangsamen sich. Eine liegengebliebene Nelke. Die Künstlerin macht ein Foto von der Blüte, blinzelt noch einmal zu den Silberarachniden hinüber und macht auf dem Absatz kehrt.

Über dem Sofa ein Vasarelyquadrat in Schwarz und Weiß, der Kaffeeautomat knirscht eine Portion Bohnen zu Pulver. Die junge Witwe steht barfuß vor der Maschine. Im Hintergrund schrillt ein Telefon. Eine Überwachungskamera wirft ein blindes Auge in den Garten, zeichnet Schatten auf, die niemand sieht.
Der Espresso schnurrt in eine silbern glasierte Tasse. Das Telefon verstummt und eine Raucherstimme knarzt zwei, drei Sätze auf den Anrufbeantworter. Das Spiegelbild der jungen Witwe ist mehrfach in den hohen Glasscheiben zu sehen. Sie träufelt Chiliöl in ihren Espresso, rührt. Es ist spät am Abend, eine stabförmige Designerlampe ist die einzige Lichtquelle im Raum.
Plötzlich springt einer der Bewegungsmelder draußen an, lässt die Fluter im Hof aufstrahlen. Die Frau hebt den Blick von ihrer Tasse. Hatte das Telefon so gar keine Anziehungskraft auf sie, durchfährt sie jetzt ein Anflug von Neugier. Sie eilt ins Schlafzimmer, holt die Walther aus dem Nachtkästchen und schleicht nach unten. Instinktiv weiß sie, dass jemand auf dem Grundstück ist, dass es diesmal kein Waschbär ist.
Als sie eine der Glastüren zum Garten aufgeschoben hat, hört sie aus einiger Entfernung ein Tappen und Kratzen, dann Schritte im Kies. Die Geräusche kommen von der straßenzugewandten Seite des Hauses, irgendwo beim Garagenanbau. Sie lauscht, ein hastiges Schlurfen, das Sirren eines Reißverschlusses, Klebebandratschen, ein leises Ächzen. Sie tritt ins Licht, durchquert den Garten und geht die Auffahrt hinunter. Ein Klackern, ein Zischen, die junge Witwe geht an dem Rolltor vorbei, hinter dem ihr Sportwagen steht, biegt um die Ecke. Sie sieht eine menschliche Silhouette, die von oben von der Garage hängt, Kapuze, ein Arm, der in Zickzackbewegungen Farbe an die Wand sprüht. So vertieft ist die Gestalt in ihr Werk, dass die Witwe erst ihre Pistole heben und ein halblautes Hey rufen muss.
Die Person zuckt zusammen, zieht rasch ihre Gliedmaßen auf das Dach zurück. Kurz ragt noch einmal die Kapuze über den Gebäuderand, dann knackt der Kies, ein Schlittern, ein Straucheln auf der Rückseite der Garage. Die dunkle Silhouette kämpft sich durch Eibenbüsche zurück auf die Straße, der Rhythmus von Turnschuhen hallt auf dem Asphalt, verschwindet in der Nacht. Erst jetzt sieht die Witwe sich selbst, ihren Schatten, groß und verzerrt auf den Hof projiziert. Der Hausmantel lässt sie breit und bedrohlich aussehen, sie ist ein gigantischer Umriss mit ausgestreckter Waffe.

Da Krishna an Arbeitslehre und Textilgestaltung keinen Spaß, dafür aber einen schönen Körper hatte, begann sie, für Fotografen Modell zu stehen. Mit siebzehn hatte sie genug zusammengespart, um bei der Mutter auszuziehen, wohnte in einem schmuddeligen Loch. Sie ging zu Modelcastings. Weil die Bezahlung stimmte, beteiligte sie sich auch an Pornoproduktionen. Der unterkühlte Sex langweilte sie jedoch genauso sehr wie der Unterricht in Rechnungswesen.
Beim zwölften, vierzehnten oder achtzehnten Casting klappte es dann, und in den folgenden zwei Jahren war Krishna immer wieder in den Katalogen von Billigkleidermarken zu sehen. Sie zog in einen anderen Stadtteil und arbeitete als Messehostess. Ihr Englisch war nicht das allerbeste, aber weil sie die erwarteten Umgangsformen aus dem Effeff beherrschte, stieg sie trotzdem bald zur VIP-Hostess auf. Sie lernte jede Menge reiche und wichtige Männer kennen. Genoss, wie die Schlipsträger und Scheichs um ihre Blicke buhlten, im Messerummel danach dürsteten, sich von ihr Champagner reichen zu lassen. Manchmal umgarnte sie die Kunden, zog sich anschließend mit dem Versprechen auf baldige Wiederkehr und Tramezzini zurück und ließ die Männer absichtlich eine geraume Zeit warten. Immer nur gerade so lang, dass sie keinen Ärger bekam. Lang genug jedoch, um aus einem Versteck heraus die suchenden Blicke, die gerunzelten Stirnen und die aufkeimende Verwirrung, vielleicht doch vergessen worden zu sein, beobachten zu können. Very important persons beim Schwitzen zusehen, mächtige Männer warten lassen, das war ihr heimliches Vergnügen.

Die junge Witwe wird vom Telefon geweckt. Das Morgenlicht frisst einen rötlichen Schlitz in die Samtwand vor dem Fenster. Der Geruch des Gatten driftet noch durch die Wohnung, sie atmet das Gespenst ein, wartet, bis das Klingeln aufhört, atmet erst dann wieder aus. Von draußen ist ein melodisches Wispern zu hören, Vogelstimmen, die gedämpft durch die Vorhänge dringen.
Eine halbe Stunde später zieht die junge Frau den Samt beiseite, hört den Anrufbeantworter ab. Der Finanzchef von Little Lamb Baby Foods bittet um dringenden Rückruf. Sie sucht, während die Kaffeemaschine kreischend Bohnen mahlt, die Telefonnummer von Olga Sonowska heraus. Nimmt sich vor, sie, die Assistentin ihres Mannes für über zehn Jahre, gleich morgen zum Abendessen einzuladen. Niemand weiß so gut über das Unternehmen bescheid wie Sonowska, hatte er immer gesagt. Als die Witwe ihre Finger um den Kaffeebecher legt, klingelt erneut das Telefon. Sie schließt die Augen, zählt bis zehn, hat nicht mehr dieselbe Freude daran wie früher, einen Geldsack sitzen zu lassen.

Manche von den Messekunden versuchten, Krishna auf ein Wochenende in die Alpen zu entführen, auf einen Segeltörn auf den Bodensee, zu einer Modenschau nach Milano. Die Hostess nahm nur ein Viertel der Einladungen an und war trotzdem mindestens einmal im Monat mit einem Verehrer unterwegs.
Helgo Zättervall, der Besitzer von Little Lamb Baby Foods, war besonders kreativ in der Auswahl seiner Ausflugsziele. Mit ihm ging Krishna zum Fallschirmspringen, badete in geothermischen Quellen, unter seiner Aufsicht lernte sie reiten, erwarb ihre Fahrerlaubnis und machte den Waffenschein. Der Mann hatte schütteres, rotes Haar, zusammengewachsene Zehen und aß leidenschaftlich gern Kümmelkäse. Auf einem Hausboot in einem norwegischen Fjord machte Zättervall der jungen Frau schließlich einen Heiratsantrag.
Krishna, gerade vierundzwanzig geworden, erbat sich Bedenkzeit. Sie flog zurück nach Deutschland, lag vier Nächte lang wach und grübelte. Sie kam auf keine bessere Idee. Jeder Weg, den sie sich ausmalte, führte irgendwann in die Wüste. Die Hostessenagentur zog Jahr für Jahr neues Personal an Land, junge Schönheiten aus aller Herren Länder, Krishna war sich ihrer Ersetzlichkeit bewusst. Sie hatte keinen Berufsabschluss und als Model würde sie maximal vier oder fünf weitere Jahre arbeiten können. Sich wie ihre Mutter als Kellnerin, Kindermädchen oder Kurierfahrerin über Wasser zu halten, kam für die junge Frau nicht in Frage. Früher oder später musste sie also diese Karte spielen, früher oder später musste sie einen Antrag annehmen. Ob es nun Zättervall oder einer der anderen Männer war, spielte im Grunde keine Rolle.
Nach knapp einer Woche hielt der Babynahrungsmagnat es nicht mehr aus. Er kam Krishna in ihrer kleinen Innenstadtwohnung besuchen, der Strauß aus hundert roten Rosen passte kaum durch die Tür. Zättervall warf sich vor der jungen Frau auf den Boden, wiederholte seinen Antrag und fügte hinzu, wenn sie nicht sofort zusage, würde er sich jetzt und hier aus dem fünften Stock stürzen. Sie sagte ja.

Gegen neun Uhr verlässt die Witwe das Haus, sieht sich das Graffiti, das der nächtliche Besucher hinterlassen hat, zum ersten Mal genauer an. Es ist ein Schemen, so schwarz wie der Schatten, den sie selbst in der Nacht auf den Hof warf. Eine finstere Wolke, horizontal hingestreckt auf dem Eierschalenbeige der Garagenwand.
Erst beim zweiten Hinsehen fallen der jungen Witwe die Unebenheiten auf, der große schwarze Fleck hat Kiemen. Sie tritt näher. Ein weißes Rechteck hebt sich rings um die düstere Wolke ab. Erst dann begreift sie. Eilt in die Garage, bugsiert eine Klappleiter hinaus und steigt zu dem Graffiti hoch. Das anderthalb mal zwei Meter messende Stück Pappe ist notdürftig mit Klebeband am oberen Garagenrand befestigt, der Sprayer hatte keine Zeit mehr, es abzuziehen. Sie greift nach der Schablone, die sich beim Lösen in sich zusammmenfaltet und das darunterliegende Wesen offenbart. Eine gestreifte Katze, schleichend. Erst denkt die Witwe an einen Tiger. Aber ihr fällt auf, wie hart und unorganisch die eierschalefarbenen Streifen den Katzenkörper in Segmente teilen. Als hätte jemand das Raubtier mit einem Laserstrahl in Scheiben geschnitten. Es hält den Kopf gesenkt, sein weicher, geduckter Gang wirkt niedergeschlagen. Es ist ein Panther hinter Gitterstäben.
Die Umrisse seiner Vorderpfoten und sein Kopf sind nur spärlich mit Farbe gefüllt. Auch im Leib gibt es dünn besprenkelte Stellen, unter dem Tier einige formlose Hauche von Schwarz, in denen sich Buchstaben andeuten. Die Witwe klettert von der Leiter, stößt mit der Ferse gegen eine Sprühdose, hebt sie auf, ein grelles Pink. Sie entfaltet die Schablone und entziffert den Schriftzug, der als Bildunterschrift gedacht war. Hinter tausend Stäben keine Welt, steht da. Die Phrase kommt der Frau bekannt vor, sie starrt die Worte an und fragt sich, warum gerade jetzt die Tränen über ihre Wangen rinnen, die seit dem Tod ihres Mannes nicht fließen wollten.

Kurz nach Mitternacht schickt der Mann mit dem Geld eine besorgte Nachricht an die Künstlerin. Als diese sich auch den ganzen nächsten Tag über nicht meldet, ruft er sie an. Lässt es wieder um Mitternacht klingeln, als wäre sie eine heimliche Geliebte, als hätte sie sich noch nicht weit genug hochgearbeitet, damit er wie ein normaler Geschäftspartner am Tag mit ihr telefoniert.
Sie hätte das Säuseln des Handys beim Klackern der Spraydosen fast nicht gehört. An der Mauer über ihr klebt eine Schablone, bäumt sich ein Nilpferd mit Stierhörnern, ein Behemoth mit weit aufgerissenem Maul, der einen Flamingo verschlingt. Die Künstlerin flucht und sprüht weiter. Drei Minuten später hört sie erneut das leise Wimmern des Telefons. Das Graffiti ist fertig, sie reißt die Schablone ab, kickt ihren Rucksack ein Stück zur Seite und duckt sich ins Gebüsch. Sie schaut aufs Display, nimmt das Gespräch an. Früher oder später wird sie dem Mann mit dem Geld erklären müssen, dass sie kein Interesse mehr an seiner Vermittlung hat.
»Du veräppelst mich doch? Ich habe Treffen mit den drei einflussreichsten Galeristen in der Region für dich arrangiert.«
»Und alle drei haben auf meine Bilder reagiert wie auf vergammelte Spiegeleier.«
»Gib der Sache Zeit. Arbeite an deinem Stil.«
Die Lichtkegel eines Autos wandern im Schneckentempo vorüber. Die Sprayerin rückt tiefer in die Blätter, stößt mit dem Rücken gegen einen Maschendrahtzaun.
»Ich will nicht mehr. Keine Lust, denen zu gefallen.«
»Überrasch sie doch beim nächsten Mal. Sei frech. Mach was Neues.«
»Nein. Wirklich. Ich bin raus. Keine Zeit zu diskutieren jetzt.«
Es herrscht eine kurze Stille. Das Auto ist vorbeigefahren, hat angehalten. Ein Streifenwagen. Die Künstlerin hört, wie der Fahrer den Rückwärtsgang einlegt.
»Du bist das dümmste und undankbarste Wesen, das mir je begegnet ist. Und dir habe ich Bilder abgekauft! Ja also: Schmeiß dein Talent eben weg. Ich wünschte, ich hätte dich wenigstens vorher noch gefickt. Tschüss.«
Die Autotüren springen auf, die Sprayerin erstarrt. Die Strahlen zweier Stablampen tasten das Nilpferdmonster ab und beginnen anschließend, das spärliche Gebüsch zu durchkämmen.
»Würden Sie bitte aufstehen und sich zeigen?«
Die Künstlerin erwägt, dass sie gerade die Miete für den nächsten Monat in den Wind geschlagen hat, und zieht die Flucht über den Zaun in Betracht. Sie reckt ihren Hals, verdreht die Augen nach oben, der Maschendraht ist etwa zwei Meter hoch. Bis sie sich hinübergehangelt hätte, würden die Beamten sie längst an den Hosenbeinen wieder herunterziehen. Sie bleibt hocken. Zwanzig Sekunden vergehen, ohne dass etwas geschieht.
»Kommen Sie raus, wir sehen Sie doch!«
Ein Blatt fällt lautlos durch das Geäst und streift die Wange der Sprayerin. Ein paar Bäume weiter flötet ein Nachtvogel eine fragende Melodie. Die junge Frau atmet tief ein und kriecht schließlich aus ihrem Versteck.

[…]

(Auszug aus einer Kurzgeschichte, «eine Werkstattschau», ein Einblick in etwas Werdendes)

Fee Katrin Kanzler, 1981 geboren, studierte Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, erhielt den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm und das Jahresstipendium für Literatur vom Land Baden-Württemberg. 
Ihr Roman »Die Schüchternheit der Pflaume« (FVA 2012) war für den »aspekte«-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Debüt des ZDF nominiert. Im Herbst 2016 erschien ihr Roman »Sterben lernen«.

Rezension von «Sterben lernen» auf literaturblatt.ch

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