Simone Regina Adams «Usambaraveilchen, Schrankpapier»

Oma stirbt. Als Kind hielt ich sie für unsterblich. Noch einmal betrete ich ihr düsteres kleines Haus durch die Hintertür. Ich setze den Fuß auf die Steinstufe, die so abgetreten ist, dass sie müde in der Mitte durchzuhängen scheint; diese eine Stufe geht es hinauf, dann hinter der Schwelle zwei gekachelte Stufen hinab und ich stehe in der Waschküche.
Gleich neben der Tür hängen Küchenschürzen, links steht der Holztisch, ein Wachstuch darauf, vom vielen Schrubben farblos geworden; vor mir der grauweiße Spülstein, mit dunklen, abgeschlagenen Kanten, der Boiler darüber.
Dann die frühere Küche, ein Durchgangsraum mit gefliestem Boden und einem dünn gewordenen Webteppich. Der Kühlschrank brummt vor sich hin. Der Gasherd steht daneben, abgedeckt, ein kariertes Tuch ist darüber gelegt. Hier ist es kalt; seit ein paar Jahren kocht Oma ihr Essen auf den zwei Elektroplatten im angrenzenden Zimmer. Ich schaue hinein.
Über der Eckbank hängt an der Wand eines dieser Holzscheibchen mit dem aufgeklebten Erinnerungsbild eines Ortes, mit Geranien, See und knallblauem Himmel; auf dem Beistelltisch steht ein Trockenstrauß, ein Engelsfigürchen, ein Jesusbild. Auf dem Tisch ein Korb mit Orangen und welken Delicious, eine Tüte mit altem Rosinenbrot, die Brotmaschine, von Hand zu kurbeln. Dahinter der Wandschrank, den ich als Kind mit Schrankpapier auszulegen hatte, und in dem sich immer eine Dose mit Mandarinen befand; auch ohne ihn zu öffnen, sehe ich das Besteck darin mit den bunten Griffen und das blumige Porzellan.
Fast alle Schränke in diesem Haus sind in die Wand eingelassen, in die Mauern des Hauses hineingedrückt, wie der Schrank mit dem Putzzeug unter der Treppenschräge, auch die Garderobe im Flur; sie scheint in der Wand verschwinden zu wollen, mitsamt dem dunklen Mantel, den Schals, dem schwarzen Schirm und dem Pelzkragen mit dem Fuchskopf an einem Ende. Hier stand ich als Kind, wenn die Glocken zur Messe riefen; ich wartete, bis Oma das Gebetbuch aus der Schublade genommen, den Mantel angezogen und den Pelz umgehängt hatte, so, dass der Fuchs mich mit seinen gläsernen Augen anstarren konnte, wenn Oma mich an der Hand nahm und mit mir zur Kirche ging.
Und da ist die Tür zur Stube. Dort liegt Oma. Nicht mehr auf dem Sofa, auf dem sie sonst ihren Mittagsschlaf hielt, sondern in einem Krankenbett. Das Sofa war immer das Herz, das Zentrum des ganzen Hauses gewesen; das Sofa, von dem aus ich kaum den Tisch überblicken konnte als Kind, auch wenn ich auf einem der rot bestickten Kissen saß oder auf der Wolldecke aus den vielen verschiedenen bunten Flecken, von den Pfarrfrauen gestrickt und zusammengenäht; der Hauptgewinn der Verlosung beim Kirchenbasar.
Jeden Samstag, wenn ich dort in der Stube saß mit Oma und Mama, begann nach dem Essen das Putzen und Abstauben, angefangen mit der Kommode und dem holzverkleideten Radio: diesem großen Kasten mit den geheimnisvollen Wörtern in goldener Schrift: HILVERSUM, MILANO, HELSINKI; mit den vielen perlmuttweißen Knöpfen zum Drücken und den braunen zum Drehen, dem stoffbezogenen Lautsprecher, aus dem immer erst ein Knacken und Rauschen und dann eine dröhnende Stimme kam. In der oberen Klappe versteckt ist ein kleiner Plattenspieler, mit Heintje und Froschkönig; wenn der Tonarm über der schwarze Scheibe zitterte, quakte heiser und kläglich der Frosch: „Königstochterjüngste, mach mir auf! Weißt du nicht mehr, was du mir versprochen hast? Am Brunnen, als ich dir die goldene Kugel holen musste …“
Doch beim Samstagnachmittagsputz blieb der Plattenspieler versenkt, nur die Madonna in der Muschelwand und die gerahmten Fotos auf den Spitzendeckchen wurden abgestaubt; auch beim Tisch mit dem Fernseher wurde alles hochgehoben, abgewischt und zurückgestellt, die dicke Kerze im Messingständer und sogar die zwei Brillenmäppchen auf dem Papierstapel von Zeitungen, Prospekten, dem Kirchenblatt.
Dort in der Stube saß ich als Kind auf dem Teppichboden, sortierte die Gummibärchen der Farbe nach, malte die Osterhasen in meinem selbstgebastelten Kalender bunt und baute Männchen aus Weinflaschenkorken. Oder lag auf dem Sofa, wartete auf das Essen und langweilte mich, betrachtete den Christus im goldenen Rahmen über mir mit seinen leidvollen Augen und dem lieblichen Lächeln. Opa auf dem Foto daneben schaute streng auf den Tisch herab, an dem Oma vor jeder Mahlzeit betete, kommherrjesus, seiunsergast; ich faltete die Hände wie sie und murmelte dazu; dann gab es Suppe mit Rindfleisch und Mayonnaise, und zum Kaffee Marmorkuchen und Obstkuchen vom Blech.
Ich stehe im Flur, neben dem Kippschalter für das Licht im Keller; eine Holztür führt dorthin, um sie zu öffnen, muss der Eisenhaken angehoben und zur Seite gedreht werden. Ich erinnere mich an das Kellergewölbe, den Kartoffelgeruch, die Äpfel auf den Holzstellagen. Später traute ich mich allein hinunter, doch auch dann noch war ich erleichtert, wenn ich wieder oben war.
Im ersten Stock ist Omas Schlafzimmer, das große Ehebett, in dem sie seit den Sechziger Jahren, seit Opas Tod, alleine schlief, wenn ich nicht gerade neben ihr lag. Es hat Matratzen wie für die Erbsenprinzessin; Matratzen, in denen ich einsank als Kind; die dicke, abgegriffene Kordel hielt ich fest in der Hand; wenn ich daran zog, ging das Licht wieder an. Dann sah ich die weißen Styroporplatten an der Decke und den Lampenschirm, hell, mit Blüten bemalt wie ein Lampion. Der Nachttopf unterm Bett und an der Wand die ewig tickende Uhr; immer schlief ich dort, neben Oma, nie in dem Zimmer nebenan, in dem Mama groß wurde; es ist ein kleines Zimmer, mit Kommunionsbildchen an der Wand. Und dahinter gibt es noch einen kaum benutzten Raum, mit wurmstichigen dunklen Holzmöbeln; auch da ein Wandschrank, den Oma feierlich öffnete; ihre Schätze darin: eingemachte Kirschen, Birnen, Zwetschgen und Marmelade. Sie übergab mir andächtig ein Glas, das ich mit beiden Händen halten sollte, wenn ich es zur Stube hinunter trug.
Später dann half ich beim wöchentlichen Putz, ich schrubbte die Treppe mit der Bürste, wischte jede Stufe mit dem Lappen nach, und den Gehweg draußen musste ich kehren; die immer gleichen Aufgaben an jedem Samstagnachmittag; danach fühlte ich mich befreit und froh, wenn Mama mit mir nach Hause fuhr.
Aber vorher ging Oma mit mir zum Schrank in der Stube, dort lag der Geldbeutel neben der Suppenterrine; eine Münze oder einen Schein bekam ich zur Belohnung, sie bekam ein Küsschen; und dann stand sie an der hinteren Türe und winkte uns nach, mit einer kleinen verstohlenen Handbewegung, eher so, als würde man einen Popo tätscheln.
Noch immer stehe ich im Flur. Oma wird sterben, man wird sie aus dem Haus tragen, nicht weit hat sie es bis zum Friedhof hin.
Soll ich hinein gehen?
Was werde ich sehen?
Die fast blinden Augen, den schmalen Mund, das Gesicht, das so ernst und bitter aussehen konnte. Angst hatte ich manchmal vor ihr, als Kind, wenn sie mit mir schimpfte; Angst vor dieser Härte, die kurz, unerwartet hervorblitzte und mich dann erschreckte, so wie der Jesus, der
verrenkt am Mahagonikreuz hing, so wie das Bild der Madonna mit den blutenden Augen. Den zarten Kopf mit dem edlen Gesicht hatte sie zur Seite geneigt, in den Augenwinkeln glänzten dicke Tropfen, leuchtend rot wie Nagellack.
„Oma, warum hat die Madonna so rote Augen?“
„Sie hat so viel weinen müssen, Kind, bis sie keine Tränen mehr hatte. Da hat sie Tränen geweint aus Blut.“
„Aber warum?“
„Weil die Menschen so böse sind. Darüber weint sie.“
Ich fragte nichts mehr.
All ihre Gebete, Vaterunser und Mariamitdemkindelieb, immerzu; jedes Gebet eine Münze, um sich einzukaufen, um sich einen Platz zu sichern im Paradies. Aber hat sie nicht manchmal in sich hineingelacht, mich auch gelobt und Verständnis gezeigt? Oma eine Insel, Zuflucht und ein
böser, gefährlicher Drache; nachts schnarchte sie laut und ich träumte vom bösen Wolf, der mich fraß.
Ich öffne die Tür zur Stube. Ich gehe hinein.
Auf diese Leute war ich nicht gefasst. Was tun sie hier? Nachbarn, entfernte Verwandte, die ich nicht kenne, sie sitzen schweigend auf Stühlen wie vor einer Bühne, starren auf ihre Hände oder das stille Schauspiel vor ihnen; langsam nicken sie mir zu.
Und da liegt Oma. Ich erschrecke. Ihr Gesicht ist eingefallen, sie trägt kein Gebiss. Sie braucht es nicht mehr.
Die Wangenknochen sind immer noch breit und markant, doch die Haut darüber ist dünn geworden. Ihr Mund ist weit geöffnet, die Augen hat sie geschlossen. In diesem Gesicht ist der Schmerz so unverhohlen zu sehen, dadurch wirkt sie so fremd. Sie ist beinahe schön.
Ihr langes, weißes Haar ist offen und weich wie bei einem Mädchen; nur von einem Haarband aus der Stirn gehalten, fließt es seitlich über die Kissen. Ein goldenes Kettchen trägt sie um den Hals. Sie hat hohes Fieber, ihre Brust hebt und senkt sich angestrengt. Ich halte ihre Hand, die trockenen Finger biegen sich nach innen. Sie ist nur noch Atem, Wärme und Körper; krank riecht sie, intensiv.
Nach und nach sind alle gegangen. Ich habe Angst davor, dass Oma stirbt, während ich ihre Hand festhalte; Angst davor, mit ihr und dem Tod alleine zu sein. Ich sollte mit ihr reden, ich müsste laut mit ihr sprechen, es fällt mir schwer. Eine Kerze habe ich angezündet und das grelle Licht ausgeschaltet, nur das sage ich ihr: Oma, ich hab eine Kerze für dich angemacht. Dann bin ich wieder stumm. Ich habe nichts zu sagen. Es gibt nichts zu sagen, nichts, das wichtig wäre; außer, dass ich da bin.
Noch einmal zusammen Kaffee trinken, denke ich, noch einmal das alte Ritual. Ich gehe in die Küche, stelle den Kessel auf die Herdplatte, schütte das Kaffeepulver in den Filter, so wie früher.
Die große Standuhr in der Stube schlägt schon lange nicht mehr. Ich öffne die Tür des Gehäuses und versuche, sie aufzuziehen. Es tönt in ihr, doch die alte Melodie fehlt, es ist nur noch ein leiser, zitternder Hall. Die Messingstäbe, die ich mit den Fingern berühre, klingen nach, aber die Tonfolge kriege ich nicht hin, dabei ist sie in mein Inneres gebrannt. Diese Uhr würde ich niemals haben wollen, bloß die Töne, die aus ihr kamen, alle Viertelstunde.
Der Kessel pfeift.
Ich trinke den Kaffee, und auch von dem Kuchen esse ich, der in der Küche stand; ich staune über mich selbst. Der leichte Ekel, den ich gespürt hatte, als ich hereinkam, hatte mich erst daran gehindert, zu essen. Und jetzt tue ich es doch. Marmorkuchen, trocken und krümelig, schwer zu schlucken. Ich trinke den Kaffee dazu. Es ist ein letztes gemeinsames Kaffeetrinken, auch wenn Oma nicht mehr neben mir sitzt, erzählt und mir zuhört, sondern dort liegt und mit dem Tod kämpft.
Inzwischen ist es dunkel geworden. Ich warte auf meine Ablösung und bin erleichtert, als endlich jemand kommt. Ich rufe Oma und sage ihr, sie soll mich noch einmal anschauen.
Tatsächlich öffnet sie die Augen und blickt mich an; ich komme ihr näher, damit sie mich genauer sieht. Eine Träne läuft über ihre Wange.
Ich bin nicht mehr alleine mit ihr. Ich verabschiede mich.
Hätte sie gesprochen, wenn sie es gekonnt hätte? Was hätte sie sagen wollen? Was hätte ich sagen wollen, wo mir doch die Worte fehlten?
In der Nacht werde ich wach. Der Kaffee ist mir auf den Magen geschlagen; ich bin unruhig und denke, dass Oma vielleicht in diesem Moment stirbt. Aber sie ist erst später gestorben, am Abend darauf.
Ein Leben, fast so lang wie ein Jahrhundert, ist zuende. Sie, die sonst alles im Griff hatte, meistens kühl und gefasst war und mir so unbezwingbar erschien; nur einmal habe ich sie anders gesehen, aufgelöst, kämpfend – und schließlich ergeben.
Zehn Jahre ist das her. Manchmal träume ich, weniger von Oma als von ihrem Haus. Nachts, in meinen Träumen ist alles noch da, steht alles am alten Platz. Dabei ist das Haus längst abgerissen, verschwunden.
Bei Tage ist es eine versunkene Welt; nur einzelne Dinge und Worte bleiben sichtbar trotz der Tiefe, in der sie liegen. Sie schimmern geheimnisvoll unter Wasser, vermooste, verrostete Wracks; Begriffe wie: Spülstein, Boiler und Bettumrandung, Usambaraveilchen und Schrankpapier.

Simone Regina Adams, 1967 im Saarland geboren, lebt in Freiburg im Breisgau. Studium der Literaturwissenschaft und Psychologie, seit 1995 Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Sie war mehrfach Stipendiatin des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg (2006-2013), Stipendiatin des Stuttgarter Schriftstellerhauses (2014) sowie Stipendiatin in Friedrichskoog an der Nordsee (2016). Ihr Roman «Die Halbruhigen» wurde 2011 mit dem Werner-Bräunig-Preis ausgezeichnet.

Rezension von «Flugfedern» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Simone Regina Adams «Flugfedern», Klöpfer & Meyer

Der zwanzigjährige Thibaut wird auf dem Nachhauseweg von einem Sommerfest Zeuge einer Vergewaltigung. Es gelingt ihm zwar, den Peiniger in die Flucht zu schlagen, nicht aber die Frau rechtzeitig vor der Katastrophe zu schützen. Er nimmt sie mit nach Hause zu Mème, seiner aus Frankreich stammenden Grossmutter, die ihm die ganze Familie ist. Thibaut tut alles, um der mehrfach verwundeten Sophie ein Nest zu geben, verliebt sich in die junge Frau und droht an dieser Liebe zu zerbrechen.

Das Nashornvogelweibchen reisst sich in seiner Bruthöhle die Flugfedern aus, um ihr Nest auszupolstern. Flugfedern, die sie in der Brutzeit nicht braucht, weil das Männchen unermüdlich Futter und Wasser bringt, bis die Jungen flügge sind.

Während die junge Frau in seinem Bett schläft und er auf der Couch, seine Grossmutter ihr und ihnen alle Zeit lässt, in der Hoffnung, dass ihrem Enkel das gegeben wird, was ihr einst genommen wurde, wächst Nähe. Thibaut erfährt Bruchstückhaftes aus Sophies Leben. Er glaubt, dass aus den kleinen Zeichen der Zuneigung Liebe wird, dass sich Wunden schliessen können, dass Sophie im Nest bleibt, das Thibaut mit seinen Flugfedern ausstaffiert.

Aber Sophie lässt sich nicht halten, ist wie eine Katze, die sich nicht streicheln und nicht einschliessen lässt. Thibaut erfährt und erlebt, dass Sophie alles verloren hat; ein Zuhause, das Vertrauen, Liebe und die Gewissheit, dass es Alternativen gibt. Nicht erst mit dem schweren Mann auf ihr am Waldrand.

Aber auch Thibaut selbst ist einer, der Haken schlägt, nicht zuhause bei seiner Grossmutter, die ihm alles bedeutet, aber in Schule und Ausbildung. Er beginnt mit Sophie zu hoffen und ich als Leser mit ihm, dass ihm gelingt, was sich unabwendbar der Hoffnung entgegenstellt. Sophie klettert immer wieder an die Ränder ihres Nests – und fällt, von ihren Flugfedern beraubt. 

Sophie verschwindet, Thibaut hofft. In jenem Moment, in dem Sophie erstmals in das feste Gefüge zwischen Grossmutter und Enkel, zwischen Mème und Thibaut, diese Schicksalsgemeinschaft eingreifen will, scheitert sie, wird zurechtgewiesen, was sie nicht erträgt und fliehen lässt.

Bis Jahre später, Thibaut ist inzwischen verheiratet, Vater einer kleinen Tochter und Psychologe in einer Klinik, ein Brief eintrifft und Sophie ihn um ein Wiedersehen bittet. Er, der sich nach dem Verschwinden Sophies mit Mühe ein neues Nest schuf, ein Nest, in dem sich alles ineinander zu fügen schien, wird durch ein paar Zeilen und eine Bitte aus dem Gleichgewicht geworfen, an den Rand seines Nests gedrängt. Er macht sich auf den Weg im Wissen darum, dass er Gefahr läuft, auch sich selbst zu verlieren.

„Flugfedern“ ist ein ungeheuer zärtliches Buch, das standhaft auf dem schmalen Grat zwischen Kitsch, Trivialität und einem Übermass an Abgründen bleibt. Es erzählt von den kleinen Gesten, die mit Grösse geschildert werden. Von dürstendem Leben und nagenden Zweifeln. Ein Buch, das ich schon für die Tiefe einzelner Sätze liebe, dass Fragen stellt, die letztlich nie zu beantworten sind. Kindliche Fragen nach dem Warum und Woher. „Flugfedern“ überzeugt, weil das Gefüge zwischen Thibaut, seiner Grossmutter Mème, seiner Frau Helene und der grossen, abgetauchten Liebe Sophie nie plakativ, nie grell, nie durchsichtig, aber immer durchscheinend, geheimnisvoll und behutsam erzählt bleibt. Kann man sich ein Bild eines Lebens, seines Lebens machen? Wo beginnt Unglück, wo das Glück? Ist das Leben ein unsichtbarer Faden, dem man folgt, ohne es zu wissen?

„Liebe ist kein Gefühl. Liebe ist eine Entscheidung.“

Mein Interview mit Simone Regina Adams:

Selbst wenn man jemanden liebt, selbst dann, wenn man lange Zeit mit dieser Person verbringt, deckt sich das, was passiert nur selten mit dem, was man will. Nichts ist so unvorhersehbar wie Beziehung, erst recht Liebe. Wir fühlen uns nahe, bleiben aber trotzdem ein Leben lang, eine Liebe lang aussen vor. Das gilt für Mème, die Grossmutter ihres Protagonisten ebenso wie für ihren Enkel Thibaut, seine Frau Helene und Thibauts erste grosse Liebe Sophie. Ist „Flugfedern“ ein Buch über ungestillte Sehnsucht?
Ja, es ist auch die Geschichte ungestillter Sehnsucht, die natürlich vor allem Thibaut ein Leben lang antreibt, wie Sie ganz richtig bemerken. Es geht aber auch um das Bild, das wir uns vom anderen machen – und darum, was Max Frisch in seinen Tagebüchern so wunderbar formuliert hat, nämlich dass wir «gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei.“ An anderer Stelle schreibt er: «Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden: weil wir sie lieben; solang wir sie lieben.“ So ergeht es auch Thibaut, er wird mit Sophie nicht fertig, weil er sie gerne begreifen würde und es nicht kann. Das Bild, das er sich von ihr macht, ist nie hinreichend. 

So gross die Gefühle, so gross die Liebe, so gross die Angst eine solche wieder zu verlieren. Thibaut leidet schon als Kind unter „verlorener Liebe“, daran, dass ihn die Mutter doppelt zurückliess, dass er mit seiner Grossmutter aufwuchs und zusammenlebte, die mehr als ein halbes Leben unter einer verlorenen Liebe litt. Er leidet mit der verwundeten Sophie und später an sich selbst, weil er ahnt, dass sogar seine Familie auf dem Spiel steht. Ist Liebe nur dann Liebe, solange man leidet oder zumindest das Leiden fürchtet – Leidenschaft?
Ein Leitthema der Novelle ist auch die Frage „Was ist Liebe?“. Thibauts Freund und Kollege Walther beantwortet diese Frage ja einmal sehr schlicht: „Liebe ist kein Gefühl, sondern eine Entscheidung.“ Das klingt nun wenig romantisch oder leidenschaftlich, ich denke aber, er meint, dass zur Liebe die bewusste Hinwendung zum anderen gehört, die Bereitschaft, wie Frisch sagt, auf die immer neuen Verwandlungen des anderen einzugehen, sich auf «das Geheimnis, das erregende Rätsel, das der Mensch ja immerhin ist“, einzulassen. Während es in der Leidenschaft wohl oft darum geht, die eigene Leere, den eigenen Mangel zu füllen. Vielleicht ist das auch bei Thibaut so, der schon als Kind einen großen Mangel und große Sehnsucht erlebt hat – aber das mag ich gar nicht deuten, ich bin ja nicht seine Therapeutin, sondern hier nur Autorin. Jedenfalls führt die Liebe bei ihm zu einer geradezu fatalen Opferbereitschaft, mit der er Sophie in ihrem gemeinsamen Nest zu halten versucht, das ihr jedoch bald zu eng wird.

Sie schildern die Geschehnisse aus der Sicht eines Mannes und doch nicht in der Ich-Perspektive. Die Position des Mannes, der nicht wirklich an das Wesen seiner grossen Liebe herankommt, der an ihr zu scheitern droht, die ein Mysterium bleibt. Diese Erzählposition scheint viel wichtiger, als das, was mit Sophie, dem „Gegenüber“ geschah und geschieht. Sie arbeiteten viele Jahre als Psychotherapeutin. Wie weit kann man erklären? Wie weit soll man erklären?
Es stimmt, es geht tatsächlich nur vordergründig um Sophies dramatische Geschichte und um ihre Vergewaltigung. Dieses Geschehen rückt im Verlauf der Geschichte in den Hintergrund, die Tat wird nie aufgeklärt. Es war mir wichtig, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass sich nicht alles im Leben auflöst und klärt. Als Therapeutin habe ich natürlich einen anderen Ansatz, Therapie soll Hilfe bieten, Heilung ermöglichen, doch als Autorin interessieren mich vor allem Fragen, nicht die Antworten. Da denke ich an Milan Kundera, der gesagt hat: „Grundlage eines Romans ist eine Fragestellung, nicht eine Feststellung.“ Diese Geschichte stellt viele Fragen: Kann ein Mensch den anderen retten? Und wenn Thibaut es versucht, tut er es für Sophie? Aus Liebe? Oder um seinem eigenen Leben ein Ziel, einen Sinn zu geben? Und wie lebt ein Paar, das auf die harmlose Partyfrage „Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?“ nicht ebenso harmlos antworten kann? 

Der weibliche Nashornvogel rupft sich selbst die Flugfedern zur Nestpolsterung aus. Er braucht diese während der Brut nicht, weil das Männchen unermüdlich Nahrung bringt. Erziehung im Elternhaus oder in der Schule bedeutet oft, dass Flugfedern ausgerissen werden. Der Mensch scheint nicht geschaffen, um sich zurückzunehmen. Wo sind die Grenzen zwischen Verstümmelung und Selbstbegrenzung?
Dieses Bild des Nashornvogel-Weibchens ist ja eines, das Thibaut gewählt hat, es ist eine Metapher, die für ihn bedeutsam ist, die für Sophie aber schon bald nicht mehr stimmt. Sophie hat Gewalt erlitten, sie ist aber auch eine Frau, die Thibaut durch ihr Verhalten und ihre Affären immer wieder verletzt. Eigentlich begrenzen sich beide gegenseitig. Wie sehr das klassische Familienmodell, das diese Metapher ja auch beschreibt – der Mann ist für das Einkommen und die Frau für die Brutpflege zuständig – wie sehr das heute noch gelebt wird, mögen andere beurteilen. Ich kenne tatsächlich einige Frauen, die sich selbst innerhalb einer Beziehung sehr begrenzen, und wenn sie dann alleine leben, werden die gleichen Frauen unerwartet selbständig und bekommen, wie Sophie, „Flugfedern“. Sie kann ihr Leben erst in die Hand nehmen, als Thibaut aufhört, für sie zu sorgen, als er sich endgültig von ihr trennt. Da endet auch ihre Selbstbegrenzung. 

Thibaut ist nicht unbedingt ein männlicher Archetyp, weder in der Literatur noch in der „Realität“. Wie weit zeichnen Sie hier ein Idealbild an Geduld, Rücksicht, Zartheit und Verantwortungsgefühl? Das männliche Gehabe in Politik und Gesellschaft scheint sich kaum an diesen Tugenden zu messen. Liegt da Sehnsucht?
Natürlich sind das Werte, nach denen wir uns gerade in der heutigen Zeit zu Recht sehnen. Aber es ist eben auch ein Ideal, Thibaut hat nicht nur von Sophie, sondern auch von sich selbst ein Bild erschaffen, das Bild des engagierten Therapeuten, des Helfers, und er spürt, dass er sich selbst mit der Zeit darin verloren hat. Deshalb ist Walther in seiner herzlichen Ruppigkeit so wichtig für ihn, und deshalb geht es ihm bei der erneuten Begegnung mit Sophie auch um eine Begegnung mit sich selbst. Er ist, als er Sophie zum ersten Mal begegnet, ja noch furchtbar jung. Deshalb heißt es gegen Ende der Novelle:
«Er sah ihn so deutlich vor sich, diesen jungen Mann, der er damals gewesen war, und für den Sophie die Welt bedeutet hatte. Im Halbschlaf sah er ihn durchs Zimmer gehen, war versucht, ihn an der Schulter zu fassen, um ihm noch einmal ins Gesicht zu sehen, bevor er verschwand.»

© Margrit Müller

Simone Regina Adams, 1967 im Saarland geboren, lebt in Freiburg im Breisgau. Studium der Literaturwissenschaft und Psychologie, seit 1995 Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Sie war mehrfach Stipendiatin des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg (2006-2013), Stipendiatin des Stuttgarter Schriftstellerhauses (2014) sowie Stipendiatin in Friedrichskoog an der Nordsee (2016). Ihr Roman «Die Halbruhigen» wurde 2011 mit dem Werner-Bräunig-Preis ausgezeichnet.

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Beitragsbild © Sandra Kottonau