José Eduardo Agualusa, ein Geschichtenzauberer in Zürich

José Eduardo Agualusa, der zu den bedeutendsten afrikanischen Schriftstellern der Gegenwart zählt, las im Literaturhaus Zürich zusammen mit seinem Übersetzer Michael Kegler aus seinem 2017 erschienenen Roman „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ (C. H. Beck).

„Überwinden wir unverdauliche Geschichte durch obsessives Vergessen oder obsessives Erinnern?“

Warum reist man vom Rand der Schweiz nach Zürich, um einem Autor aus Angola zu lauschen? Weil in jenem Urlaub vor ein paar Monaten im Ruheraum des Hotels beim Lesen etwas geschah, was bei der Lektüre von Büchern nur ganz selten geschieht; das Gefühl gänzlichen Durchdrungenseins. Als ob beim Lesen Resonanzräume ins Schwingen kommen, die von Sprache sonst kaum je bewegt werden. Ein Gefühl des Erkennens.

Eine Frau will nicht mehr aus einer Wohnung, einem Haus. Unter dem Schutz ihrer Schwester lebt sie, von Panikattacken (Agoraphobie) geplagt, in Luanda in Angola, in einer turbulenten, gewaltigen Zeit, während und lange nach dem Bürgerkrieg. Sie mauert sich buchstäblich ein, nachdem sie das Schicksal, die Zeit, die Schwester und der Schwager alleine gelassen hatten. 30 Jahre in einer Wohnung ganz oben unter dem Dach, weit über dem Geschehen, eingeschlossen in einen vergessenen Hohlraum zwischen den Welten.

José Eduardo Agualusa lebte langen selbst in der Stadt Luanda, in Zeiten grosser Intoleranz. Die Hauptrolle in seinem Roman spielt nicht die Frau, die der Realität entflieht, die sich 30 Jahre eingemauert versteckt, sondern das Haus mitten in einer Stadt, einem Land, das auseinanderbricht. Auf Grund von Drohungen, die gegen José Eduardo Agualusa ausgesprochen wurden, dachte er immer mehr darüber nach, wie es wäre, wenn er seine Wohnung für lange nicht mehr verlassen würde, um sich vor allen Unbill zu verstecken.

Auch Ludo im Roman ist eine Frau, die sich versteckt, sich vollkommen zurückzieht, sich nicht nur mit Ziegeln zumauert, sondern mit Angst und Vorurteilen. Am meisten interessierte Agualusa die Frage nach der Angst, einer Schattierung von Vorurteilen. Ludo verändert sich in ihrer jahrzehntelangen Verborgenheit, bis ausgerechnet ein Kind, kindlicher Entdeckergeist, der Hunger, die alt gewordene Frau befreit.

Ein vielschichtiges Buch über Abgrenzung, das Errichten von Mauern, aktueller denn je. „Das Haus der Beneideten“ steht mitten in einer Stadt. In der Wohnung unter dem Dach schiesst Ludo in ihrer Verzweiflung durch die Wohnungstür, weil Männer sich daran machen, die Tür mit Gewalt zu öffnen. Ludo schiesst, trifft einen der Männer, während der andere flieht. Sie zieht den Toten in die Wohnung, verscharrt ihn in einem der Gartenbeete auf dem Dach und mauert die Türe zu mit Ziegeln, die für einen Pool bereitliegen. „Jetzt sind nur noch wir da“, sagt sie zu Fantasma, ihrem Hund.
 Sie bleibt 30 Jahre hinter ihrer selbst gebauten Mauer, auf einer Insel über der Realität.

Das Haus widerspiegelt die Geschichte Angolas seit der Unabhängigkeit, hinein in den Marxismus und mit dem fast gleichen Personal weiter in den Kapitalismus hinein. Der Reichtum des Präsidenten José Eduardo dos Santos, das gutbürgerliche Leben im „Haus der Beneideten“, wurde vom Marxismus eingenommen und später von der angolanischen Bourgeoisie zurückerobert, beobachtet von Ludo, von Fenster zu Fenster, von Stockwerk zu Stockwerk. Das Buch ist voller Figuren, voller Geschichten, durchsetzt von der magischen Erzählkraft des Autors und seiner Herkunft, ein Buch, das jedem Protagonisten „eine zweite Chance geben soll“. Ein Buch über die absurdesten Momente, die man sich nur vorstellen kann, über Absurditäten, auf die der Mensch ganz lapidar reagiert. Je absurder, desto wahrscheinlicher.

José Eduardo Agualusa interessiert das Böse, was in Menschen und Räumen geschieht, wenn alle Regeln, Gesetze und Konventionen ausser Kraft gesetzt werden. „Ich will verstehen.“

Der Abend im Literaturhaus Zürich mit José Eduardo Agualusa, seinem Übersetzer Michael Kegler und dem Schauspieler Armin Berger war eine Offenbarung!

José Eduardo Agualusa, 1960 in Huambo/Angola geboren, studierte Agrarwissenschaft und Forstwirtschaft in Lissabon. Seine Gedichte, Erzählungen und Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, für seinen Roman „Ein Stein unter Wasser“ (1999) erhielt er den Grande Prémio de Literatura da RTP. Auf Deutsch erschienen die Romane „Die Frauen meines Vaters“, „Barroco Tropical“ und „Das Lachen des Geckos“, für den er 2007 den britischen Independent Foreign Fiction Prize erhielt. „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ stand auf der Shortlist des Man Booker International Prize 2016 und erhält 2017 den hochdotierten International Dublin Literary Award für „A General Theory of Oblivion“.
Agualusa lebt als Schriftsteller und Journalist in Portugal, Angola und Brasilien.

Rezension von «Eine allgemeine Theorie des Vergessens» auf literaturblatt.ch

José Eduardo Agualusa studiert das Literaturblatt mit der Rezension zu seinem Roman «Eine allgemeine Theorie des Vergessens». Foto: Michael Kegler

José Eduardo Agualusa „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“, C. H. Beck

Ein Roman wie ein verschlungenes Wurzelwerk. Ein Roman, dessen Autor einem unweigerlich zum Freund wird, weil er mich verzückt, in Trance versetzt. Darf man überschwänglich sein? Ich bin es. Dieser Roman ist ein Meisterwerk. Er protzt nicht. Dafür ist er schlicht genial.

Es sind die ineinander verschlungenen Geschichten um Ludovica, ein lichtscheues Wesen. Perlenschnüre, die sich ranken und winden, jede einzelne ein Schmuckstück. Eine Art literarische Fuge, die aber derart natürlich gewachsen scheint, dass er für mich rätselhaft bleibt, wie ein Autor mit absolut unverkrampfter Leichtigkeit so schreiben kann. Ein Werk voller Überraschungen, bunter Charakteren. Ein Feuerwerk an Fantasie und sprachlicher Kreativität. Ein Buch, an dessen Ende man mit Verwunderung und Wehmut zurückblättert, überall noch einmal hineinliest, weil man erahnt, wie viel man der Spannung wegen überlesen hat oder sich erst erschliesst, wenn einem das grosse Ganze am Schluss der Lektüre bewusst wird. Ein Kunstwerk.

Angola in den Jahren des Umsturzes. Die Kolonialmacht Portugal zieht sich aus dem Land zurück und Chaos und Willkür bricht aus. In einem Hochhaus in der obersten Etage mitten in der Stadt wohnen Orlando und Odete. Kurz bevor die Unruhen ausbrechen, nehmen sie Lidovica, Odetes Schwester, bei sich auf. Nicht nur weil sie sich künftig um den Haushalt kümmern will, sondern weil Ludo seit dem „Unfall“ mit der Welt draussen nicht mehr zurechtkommt. Ein lichtscheues Wesen, der man den Panzer raubte.

Eines Abends, kurz bevor sich die drei ins Mutterland Portugal absetzen wollen, bleibt Ludo für einen Abend allein in der Wohnung zurück. Auch am Morgen danach. Orlando und Odete kehren nicht zurück, dafür die Panik in Ludos Leben. Nachdem Fremde am Telefon etwas zurückfordern, von dem Ludo keine Ahnung hat, findet sie beim verzweifelten Suchen in den Sachen ihres Schwagers einen Revolver. Ludo schiesst durch die geschlossene Tür, als drei schwarz gekleidete Männer durch die Türe rufen. Ludo schleppt den Toten hinauf auf die Dachterrasse, wo Orlando einen Garten anlegte, vergräbt die Leiche und mauert die Tür zur Wohnung zu, mit Backsteinen und Mörtel, aus dem ein Pool hätte werden sollen.

Ludo bleibt fast drei Jahrzehnte eingeschlossen in der Wohnung hoch über der Stadt. Zusammen mit Fantasma, einem Albino-Schäferhund, weggeschlossen von allem, mehrfach nahe am Hungertod.

Die Geschichte bleibt aber nicht hinter der zugemauerten Wohnungstür. Ohne es zu wissen, ohne es zu wollen, nimmt Ludo Einfluss in das Geschehen in der Stadt. Revolutionäre, Folterer, Täter und Opfer kreuzen sich in einem Staat, der sich über die Jahrzehnte stets neu zu erfinden versucht. Ein Gewirr aus Geschichten und Handlungssträngen, das leicht leserlich bleibt und schlussendlich scheinbar spielend die Entwirrung findet.

Nach fast dreissig Jahren schlägt ein kleiner Junge mit einer Spitzhacke die Mauer von innen auf. Alles, war in der Wohnung aus Holz war, selbst der Parkettboden, ist weg. Und weil auch kein Papier mehr für Ludos Aufzeichnungen da war, sind alle Wände in der leeren Wohnung mit Kohle vollgeschrieben. „Mir wird bewusst, dass ich meine Wohnung zu einem riesigen Buch gemacht habe. Wenn die Bibliothek verbrannt sein wird, wenn ich gestorben sein werde, wird nur noch meine Stimme da sein.“

Diese 188 Seiten sind literarischer Hochgenuss. Ein Roman mit einem grossen Herz, viel Melancholie und dem tiefen Glauben, dass Liebe und Leidenschaft die grössten Geschichten schreiben. Eines der Bücher, die man auf die Insel mitnehmen will. Wie schade, kann man Ludovica nicht in die Arme nehmen. Aber lesen, lesen!

José Eduardo Agualusa, 1960 in Huambo/Angola geboren, studierte Agrarwissenschaft und Forstwirtschaft in Lissabon. Seine Gedichte, Erzählungen und Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, für seinen Roman „Ein Stein unter Wasser“ (1999) erhielt er den Grande Prémio de Literatura da RTP. Auf Deutsch erschienen die Romane „Die Frauen meines Vaters“, „Barroco Tropical“ und „Das Lachen des Geckos“, für den er 2007 den britischen Independent Foreign Fiction Prize erhielt. „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ stand auf der Shortlist des Man Booker International Prize 2016 und erhält 2017 den hochdotierten International Dublin Literary Award für «A General Theory of Oblivion».
Agualusa lebt als Schriftsteller und Journalist in Portugal, Angola und Brasilien.

Michael Kegler, Übersetzer angolanischer, brasilianischer, mosambikanischer, portugiesischer und anderer portugiesischsprachiger Literatur. Herausgeber der Website www.novacultura.de über Literatur und Musik des portugiesischen Sprachraums. Mitglied der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika.

Titelfoto: Sandra Kottonau