Hugo Ramnek «siezen Sie sich», Plattform Gegenzauber

siezen Sie sich

wallen Sie trauen Sie sich über den weg prasseln Sie auf sich selber herunter übergehen Sie sich unterlaufen Sie ihresgleichen beflaggen Sie ihre fersen versohlen Sie sich artig wadeln und schenkeln Sie alles

vertreten Sie sich zergehen Sie sofort und entlassen Ihre anwesenheit auf der stelle unken Sie unken Sie quietschen Sie sich ganz in sich hinein

und siezen Sie sich

blüteln Sie sich voll fliedern Sie den winter zweigen Sie ab blättern Sie sich hin stammeln Sie verlauben Sie verstauben Sie treffen Sie jetzt erst Ihre vorkehrungen fallen Sie hinter sich her und über sich hin

verbarrikadieren Sie sich im vogelbauer zwitschern Sie formeln berechnen Sie seemannslieder zählen Sie geschichten

ziehen Sie sich auseinander zweifeln Sie sich heftig aus quengeln Sie sich zueinander

und siezen Sie sich

feuern Sie sich nieder erden Sie ihr werweißen wassern Sie ihr wasweissich lüften Sie sich auf und davon

dementieren Sie die elemente vierteln und sieben Sie sich durch und durch und siezen Sie sich

kaufen Sie sich ein nichtsichtgerät zweierlei käslochbohrer einen halben aubläser (bei verwunderungen) viele lustwagen und zehbrillen für alle hühneraugen

gähnen Sie ihre gedanken verlegen Sie ihre überlegungen verstauen Sie den verstand beschlafen Sie die vernunft träumen Sie sich munter

und siezen Sie sich

wringen Sie mit sich selbst gehen Sie ein schmeißen Sie sich zusammen knittern Sie sich kreuz und quer falten Sie sich bunt scheinen Sie durch und durch fad fasern Sie sich aus sich selbst heraus legen Sie sich mit sich zusammen oder hängen Sie verkehrt herum

aber siezen Sie sich

kreiden Sie sich jetzt von unten bis oben ein verschreiben Sie sich aber subito satzen Sie sich nun gänzlich ab füllen Sie die wörter und gellen Sie die silben benoten Sie die betonungen und lachen Sie pausen los

spannen Sie sich endlich
verduzen Sie augenblicklich nichten Sie nichten Sie mit und siezen Sie sich
siezen Sie sich gefälligst
siezen Sie sich endlich

(Auszug aus «Tomatensuppenschleuder«)

Hugo Ramnek «Die Schneekugel», Wieser Verlag, 2020, 120 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-9902937-9-9

Hugo Ramnek, geboren 1960 in Klagenfurt/Celovec, aufgewachsen in Bleiburg/Pliberk, studierte Anglistik und Germanistik in Wien und Dublin und besuchte die Schauspiel-Schule Zürich. Er lebt seit 1989 als Schriftsteller, Gymnasiallehrer und Leseperformer in Zürich. Im Wieser Verlag erschienen: «Der letzte Badegast» (2010), ausgezeichnet mit der Anerkennungsgabe der Stadt Zürich, «Kettenkarussell (2012), nominiert für den Bachmannpreis, «Momentum, Texte zu Bildern von Arno Popotnig» (2013), «Meine Ge-Ge-Generation: Eine Jukebox» (2017) und «Das Letzte von Leopold» (2019), zuletzt «Die Schneekugel. Ein Roman in Erzählungen» (2020).

Webseite des Autors

Die Shortlist ist da! #SchweizerBuchpreis 20/2

Die Mischung hätte illustrer nicht sein können. Eine Mischung, die es in sich hat. Charles Lewinsky gehört seit Jahrzehnten zu den Grossen im deutschsprachigen Literaturhimmel. Die Ostschweizerinnen Dorothee Elmiger und Anna Stern zählen noch immer zu den Geheimtipps. Tom Kummer weiss sich zu inszenieren, nicht erst seit dem Klagenfurter Wettlesen. Und Karl Rühmann? Karl Rühmann ist die Überraschung!

© Lea Frei

Charles Lewinsky «Der Halbhart», Diogenes
Charles Lewinsky ist das Schwergewicht unter den Nominierten. Nur schon deshalb, weil er bereits zweimal unter den Nominierten zum Schweizer Buchpreis sass: 2011 mit seinem Roman «Gerron» und 2016 mit dem Roman «Andersen». Auch im Wettbewerb zum Deutschen Buchpreis stand und steht sein Name schon auf der Liste. Aber ein Wettbewerb soll überraschen! Charles Lewinsky ist einer der Namen, den man längst für seine literarischen Verdienste hätte adeln sollen. Wäre ich König, hätte ich dem Schriftsteller, Drehbuch-, Theater- und Hörspielautor, Musical- und Songtexter schon längst für sein Lebenswerk den Titel «Sir» verliehen. Charles Lewinsky ist eine Grossmacht, ein Tausendsassa, ein Schriftsteller, der sich stets neu erfindet.
Rezension von «Der Stotterer» (2019) auf literaturblatt.ch

© Lea Frei

Dorothee Elmiger «Aus der Zuckerfabrik», Hanser
Dorothee Elmigers neues Buch ist kein Roman. Dorothee Elmiger versucht mit «Aus der Zuckerfabrik» die Welt zu verstehen, nimmt mich mit ihrem Buch mit auf ihre Kopfreise in die Tiefen des Denkens. Mit ihrem dritten Buch erscheint sie zusammen mit Charles Lewinsky nicht nur auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises, sondern auch auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2020. Erinnern wir uns an «Tauben fliegen auf» der Schweizerin Melinda Nadj Abonji. 2010 gewann sie mit ihrem zweiten Roman sowohl den Deutschen wie den Schweizer Buchpreis. Und Dorothee Elmiger hätte mit Sicherheit das Zeug dazu, es Melinda Nadj Abonji gleich zu tun. «Elmiger ist Dichterin, Historikerin, Analytikerin, Theoretikerin und begnadete Erzählerin in einem», schreibt die Presse.

© Lea Frei

Anna Stern «das alles hier, jetzt», Elster & Salis
Anna Stern, Umweltnaturwissenschaftlerin und Autorin, schreibt sich mit jedem neu erscheinenden Buch tiefer, höher, prägnanter in die Szene. Anna Stern stellt die grossen Fragen der Zeit und die ewig grossen Fragen des Menschseins, experimentiert mit ihrem Schreiben, verbindet in ihren Büchern die verschiedensten Sparten der Kunst. Sie schreibt kompromisslos und wer Anna Stern schon einmal lesend und argumentierend erlebt hat, weiss, was es heisst, ganz für eine Sache einzustehen. Es ist längst Zeit, dass Anna Stern einen grossen Preis für ihr Schreiben verliehen bekommt. Es ist längst Zeit, dass man Anna Stern den Platz einräumt, der ihr gebührt.
Rezension von «Wild wie die Wellen des Meeres» (2018) auf literaturblatt.ch

© Lea Frei

Tom Kummer «Von schlechten Eltern», Tropen
Tom Kummer – ein bunter Vogel, der weiss, wie Geschichten erzählt werden müssen, nicht nur weil er einst die Hollywoodstories fürs Schweizer Publikum aufbereitete, weil er ein ausgezeichneter Journalist ist, sondern weil er in seinem Schreiben zeigt, dass Dichtung und Wahrheit nicht in zwei verschiedenen Schubladen gebettet liegen. Das eine mischt sich mit dem andern, unweigerlich, ob man es wahrhaben (wieder so ein Wort) will oder nicht. Sein neuer Roman «Von schlechten Eltern», von den einen gefeiert, von den andern mit Distanz quittiert (wie könnte es bei Tom Kummer anders sein). Tom Kummers Protagonist in seinem Roman ist ein VIP-Chauffeur, der vom Flughafen nach Bern oder Zürich fährt, ein Geschichtensammler, der noch viel mehr mit sich herumschleppt, alles zwischen Himmel und Hölle.

© Lea Frei

Karl Rühmann «Der Held», rüffer & rub
Und Karl Rühmann? Kennen sie Karl Rühmann? Karl Rühmann schrieb vor zwei Jahren den Roman «Glasmurmeln, ziegelrot», ein wunderbares Buch, das in der Öffentlichkeit niemals jene Aufmerksamkeit erreichte, die der Roman verdient hätte. Dass Karl Rühmann unter den Nominierten ist, freut mich ungemein. Und ich stelle mir seine Überraschung mit grösstem Vergnügen vor, die ihn heimsuchen wird, wenn er von seiner Nominierung erfährt! Lesen sie seinen Roman «Der Held» aus dem Verlag rüffer & rub, einem Verlag, in dem Karl Rühmann fast das ganze literarische Programm ausmacht. Ein Roman, der aus dem Internationalen Tribunal in Den Haag eine literarische Bühne macht – existenziell!
ein Interview mit Karl Rühmann auf der Verlagsseite
Rezension von «Glasmurmeln, ziegelrot» auf literaturblatt.ch

Ich bin von der Shortlist beeindruckt. Sie ist listengewordener Mut! Der Beweis dafür, wie vielfältig die Schweizer Literatur sein kann – und angesichts all derer, die sich nicht auf der Liste finden, aber das Zeug dazu absolut hätten, ein starker Jahrgang!

Illustrationen © leafrei.com

Alexandra von Arx «Hundsteinhüttenbuchrandnotizen», orte

Ein Büchlein im Taschenformat. Ein Büchlein, das in möglichst viele Taschen gehört, weil Alexandra von Arx alle StädterInnen und HeimwehberglerInnen mitnehmen kann. Ein paar Wochen, einen Sommer hinauf in die Hundsteinhütte zwischen Säntis und Hohem Kasten. Ein literarisches Kleinod, auch wenn der Einband kuhfladenbraun ist. 

Man fährt mit dem Postauto bis zum appenzellischen Brülisau, dem letzten Dorf unter dem Hohen Kasten, einem der beiden markanten Berggipfel in den ostschweizer Voralpen. Von dort steigt man zu Fuss vorbei am Sämtisersee zweieinhalb Stunden bis zur Hundsteinhütte hinauf, einer SAC-Hütte (Schweizer Alpen-Club), hoch über dem Fälensee, dem vielleicht mythischsten der drei Alpsteinseen.

Dorthin lockte es die Schriftstellerin Alexandra von Arx, als sie noch als Wahlbeobachterin im ukrainischen Kiew arbeitete. Ein Inserat, das eine „flinke, belastbare und teamfähige“ Mitarbeiterin suchte. Von Kiew in den Alpstein, von einer Dreimillionenmetropole ins Appenzeller Hinterland, hinter sieben Berge, von politischer Aktualität in eine Realität gewordene Idylle. Und wenn eine Beobachterin, die ihr Tun gleich mehrfach zum Beruf macht, dies unternimmt, dann mit Stift und Leerbuch. Vielleicht nicht mit ausgesprochener, aber mit unterschwelliger, letztlich nicht zu verleugnender Absicht.

Die Hütte liegt auf 1554 m und bietet über vierzig Schlafplätze. Als Hütte wohlverstanden nicht in Doppel- und Einzelzimmern mit Sprudelbad und Regendusche, sondern verteilt in drei „Massenschläge“. Der Hüttenwart kocht und backt, die Mann- und Frauschaft schenkt aus, serviert, putzt, räumt auf, holt Nachschub aus dem Tal. Viele Hände für müde und hungrige WandererInnen. Da wird die Verteilung der 44 Schlafplätze schon zu einem kniffligen Tetrispuzzle, kombiniert mit vegetarischen, veganen oder fleischessenden Besuchern, Angemeldeten, Nichterschienenen in Stosszeiten zu wahren Herkulessaufgaben

Alexandra von Arx «Hundsteinhüttenbuchrandnotizen», orte, 2020, 128 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-85830-274-8

Die „Hundsteinhüttenbuchrandnotizen“ sind aber viel mehr als das Konzentrat eines Tagbuchs, eines Skizzenbuchs für literarische Szenen. Alexandra von Arx hält sich mit aller Absicht ganz im Hintergrund. Wenn es um sie als Person geht, dann stets witzig, würzig und mit Selbstironie. Das zeigt sich, wenn sie sich als Oltnerin vom appenzeller Dialekt umgarnen lässt, einem Dialekt, der selbst in dem kleinräumigen Kanton nicht immer aus allen Winkeln gleich tönt und klingt.

Erzielen beim Fussballmatch zwischen Heiden und Gais beide Mannschaften ein Tor, so tönt dies etwa so: „Heede – Gees, ees – ees“

Es sind nicht nur die Feinheiten der Sprache, denen die Autorin nachspürt, denn in diesen Feinheiten liegt auch das Wesen eines Menschen. Landschaft, Geschichte, Tradition wirken hinein in eine Sprache. Und vielleicht prallen die Gegensätze nirgends intensiver und gleichzeitig schöpferischer aneinander als im Appenzellerland. Mag sein, dass die Landschaft etwas von der Sehnsucht nach Idylle stillt. Mag sein, dass das Appenzellerland wie keine andere Gegend die Idylle zu einem erfolgreichen Geschäftsmodell machen konnte. Alexandra von Arx malt diese Idylle nicht aus, betreibt keine naive Brauchtumskunst. Sie taucht ein in ein Leben, das abseits ist von all dem, was die meisten von uns kennen. Ein Leben, dass die Hüttenidylle erst möglich macht, ein Leben im Schweiss ihres Angesichts, ein Leben zwischen Kuhfladen und Facebookpost.

Warum ein solches Buch lesen? Weil Alexandra von Arx mich mitnimmt an einen wunderschönen Ort. Ich spüre die Majestätik des Alpsteins. Weil sich Alexandra von Arx nicht produziert, sondern mit viel Liebe und Empathie schildert, was hängen bleibt. Weil sie der Bissigkeit und Entblössung widersteht. Und weil alles in franzhohlerischen Witz getaucht ist, der sich nie auf Kosten anderer in Szene setzt.

Wer das Büchlein auf dem Nachhauseweg von der Arbeit aus seiner Tasche oder Jacke zieht, um ein paar Seiten zu lesen, bei dem fängt der Feierabend früher an – mit Sicherheit!

Alexandra von Arx ist 1972 in Olten geboren und aufgewachsen. Nach Abschluss ihres Studiums der Rechtswissenschaften spezialisierte sie sich auf Menschenrechtsfragen und wurde 2011 in den Schweizerischen Expertenpool für zivile Friedensförderung aufgenommen. Seither ist sie als internationale Wahlbeobachterin tätig. Seit sie 2016 einen Schreibwettbewerb der LiteraTour Stadt Olten gewonnen hat und mit dem Text «OlteNetlO» auf dem Schweizer Schriftstellerweg vertreten ist, widmet sie sich intensiv dem Schreiben. Der Kanton Solothurn hat sie 2018 mit dem Förderpreis für Literatur ausgezeichnet.

Webseite der Autorin

Webseite der Hundsteinhütte

Rezension von «Ein Hauch Pink» mit Interview auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Peter Ehrbar, Hüttenwart Hundsteinhütte

Janna Steenfatt «Die Überflüssigkeit der Dinge», Hoffmann und Campe

Reduziert man die Dinge, die einem ein Leben lang umtreiben, auf das Wesentliche, bleibt wenig, auch wenn das zuweilen viel ist. Aber wahrscheinlich beschäftigt man sich zu gerne mit den überflüssigen Dingen, die trotz aller Einsicht oben aufschwimmen und die Sicht auf all das verbergen, was die Verdrängung, die schiere Menge der Dinge, die einem umtreiben, ausmacht. Janna Steenfatt hat mit ihrem Debüt einen erstaunlich reifen Roman geschrieben, auch wenn der Titel sperrig tönt.

Inas Mutter ist mit ihrem Auto gegen einen Baum gefahren. Alles spricht dafür, dass sie es aus Absicht tat. Ein mässig theatraler Abgang aus einem Theaterleben mit mässigem Erfolg. Inas Mutter hatte an den grossen Bühnen Deutschlands gespielt. Aber irgendwann dünnten die Verpflichtungen aus, die Rollen wurden immer unbedeutender. Und als sie ganz ausblieben, wurde der Rausch der Bühne durch den des Alkohols ersetzt. Das Leben ihrer Mutter verlor sich, so wie sie sich mit ihrem Selbstunfall ausradierte. Nicht das der Tod der Mutter Ina in eine Krise gerissen hätte, dafür hatten sie sich schon lange zuvor verloren. Aber ihr Tod und alles, was sie mit ihm mitgenommen hatte, all die Fragen, die nie eine Antwort bekamen, zwingen Ina, sich mit dem Unvermeidlichen auseinanderzusetzen, auch wenn Falk, ihr Mitbewohner fast alles regelt, was mit dem plötzlichen Sterben Inas Mutter anfällt.

„… das Warten auf das richtige Leben machte bereits der unguten Ahnung Platz, dass es das hier tatsächlich schon sein sollte.“

Janna Steenfatt «Die Überflüssigkeit der Dinge», Hoffmann und Campe, 2020, 240 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-455-00831-9

Ina studierte Germanistik und Philosophie. Aber daraus wurde nie wirklich etwas, so wie sich bei ihrer Mutter das verflüchtigte, was vielversprechend begonnen hatte, ein Dasein als erfolgreiche Schauspielerin. Das Leben Inas Mutter dümpelt im Alkohol weiter, das Leben Inas in Unentschlossenheit. Bis sie in der Hinterlassenschaft ihrer Mutter Spuren ihres Vaters findet.
Und als eben dieser Mann zurück nach Hamburg kommen soll, um am Theater Shakespeares Sommernachtstraum zu inszenieren, wird klar, dass Ina ihr Leben nur weiterführen kann, wenn sie sich nicht nur dem Vater stellt, sondern ihrem im gemässigten Unglück eingerichteten Leben. Ina schafft es, in der Theaterkantine einen Aushilfsjob zu ergattern, auch wenn diese Arbeit nur Vorwand ist, ein Versteck, um „den richtigen Moment“ zu erwischen. Noch so ein Moment, der Ina zu entwischen droht.

„Ich dachte darüber nach, dass man andauernd etwas Neues, Aufregendes wollte, aber dann war das nach kurzer Zeit nicht mehr neu und aufregend, sondern normal, und dann wollte man wieder etwas anderes. Und immer weiter so.“

Am Theater lernt Ina die Schauspielerin Paula kennen, die in dem von ihrem Vater inszenierten Stück den Puck spielt, eine schelmische Fee. Zwischen Ina und Paula wächst eine Liebe, etwas was mit anderen zuvor nie entstehen wollte. Paula wird zu einem Puck in Inas Leben, bringt Inas Leben aus dem Zustand des permanenten Wartens. Aber so wie die vor Wolf Eschenbach dem Regisseur, den Menschen um sie herum, nicht einmal Falk, mit dem sie schon so lange die WG teilt und auch nicht bei Paula preisgibt, wonach sie wirklich sucht, kulminiert in Janna Steenfatt Roman alles auf den einen, unausweichlichen Punkt hin.

„… ich wusste damals noch nicht, dass sich nie etwas ergab, in diesem Rohrkrepiererleben.“

„Die Überflüssigkeit der Dinge“ ist eine Suche nach der Herkunft. Darüber, was bleibt, was bleiben soll, wenn ein Mensch stirbt. Was bedeutet Mutter- und Vaterschaft? Was passiert, wenn Verbindungen wissentlich gekappt werden? Heilt die Zeit Wunden wirklich? Gibt es Fragen, die man unbeantwortet stehen lassen kann?
Aber „Die Überflüssigkeit der Dinge“ ist auch ein Theaterroman, ein Roman, der sich das Theater und den ganz eigenen Kosmos mit aller Selbstverständlichkeit zur Kulisse macht. Für einmal ein Theaterroman nicht über die hausinternen Frustrationen und Intrigen. Janna Steenfatt beschreibt einen Kampf. Und selbst wenn dieser Kampf autobiographische Züge hätte, schafft es die Autorin, mit kluger Distanz zu erzählen. Ich hätte es dem Roman gegönnt, wenn der Titel nicht durch den sperrigen Genitiv verzerrt worden wäre, denn Janna Steenfatt erzählt direkt, gradlinig und frech. Von diesen Eigenschaften des Romans verspricht der Titel nichts.

„Alles, was ich tat, führte dazu herauszufinden, was ich nicht wollte, aber ich dachte, dass auf diese Weise immerhin irgendwann einmal das, was ich wollen könnte, übrig bleiben müsse.“

Eintauchen und lesen!

Interview mit Janna Steenfatt:

Ina verliebt sich in Paula. Paula spielt in der Inszenierung von Shakespeares Sommernachtstraum den Puck, ein buntes, rätselhaftes Fabelwesen, „wild und schön und nicht von dieser Welt“. Sie kommen sich sehr nahe; doch je näher, desto mehr entschwindet Paula. Ist das Entschwinden wirklich Resultat eines Verrats oder nicht viel mehr das Resultat von Unfähigkeiten?
Ich würde sagen: ein Verrat ist immer ein solcher, wenn die verratene Person ihn als solchen empfindet. Und das tut Ina. Natürlich sind Unfähigkeiten – sich zu artikulieren, sich zu zeigen, miteinander zu kommunizieren – die Grundproblematiken meiner Figuren. Das Wort Verrat im Klappentext ist natürlich ein sehr starkes und kommt im Übrigen von meiner Lektorin, nicht von mir.

Inas Mutter stirbt. Und doch hat Ina ihre Mutter damit nicht verloren. Das Verlieren hat schon viel früher begonnen. Ina verliert auch den Vater, verliert die Orientierung, Freundschaft, die Liebe, fast alles. Und trotzdem schildern sie Ina nicht als Geschundene, Verletzte, Verlorene. Ina strahlt Kraft aus, obwohl ihr Leben fast nur aus Warten besteht, dem Warten darauf, dass sich Dinge ergeben. Ist Leben Verlust, wenn man zurückschaut und Gewinn, wenn man die Hoffnung nicht verliert?
Ich glaube, das Leben ist keine Kosten-Nutzen-Rechnung und lässt sich somit nicht so leicht in Verlust und Gewinn unterteilen. Aus Verlusten kann Gewinn entstehen und zurückschauen sollte man vielleicht trotzdem ab und an, um die Dinge klarer zu sehen. Es kommt nur darauf an, wie man es tut und nicht auf alle Fragen gibt es Antworten. Was Ina auf ihrer Suche lernen muss: die Dinge gutsein lassen. Die Hoffnung nicht zu verlieren ist dabei die Grundvorraussetzung, überhaupt am Leben zu sein.

Wolf Eschenbach, Inas Vater, hat sich vor Jahrzehnten aus dem Staub gemacht. Und Inas Mutter hat sich den Annäherungsversuchen Inas Vaters verschlossen. Heiner, der Koch aus der Theaterkantine sagt: „Es gibt Dinge, die kann man nicht wiedergutmachen.“ Etwas, was Ina auch gar nicht will. Aber ist es die Absicht, Ordnung zu machen? Nicht Ordnung in die Umstände, aber Ordnung in ihr selbst. 
Ja, ich glaube schon. Das hat auch mit Erwachsenwerden zu tun, damit, die eigene Geschichte zu begreifen und sich nicht als das Opfer der Umstände zu sehen. Ina will letztlich ihren Frieden machen, denn für eine direkte Konfrontation mit der Mutter ist es zu spät, also bleibt nur der Vater.

Ina verrät, das sie noch nie zu jemandem „Ich liebe dich“ gesagt habe. In der Schweiz ist dieser Satz noch viel fremder. Eigentlich ein Satz, der nur in Schrift und Bild vorkommt. Doch eigenartig, wo sich dermassen viel Leben um diesen Satz dreht? 
Das habe ich schon mal gehört, dass man diesen Satz in der Schweiz eigentlich gar nicht sagt. Ich finde das schade. Es ist so ein gewaltiger Satz. Er ist natürlich auch beängstigend, die Worte wiegen so stark im Deutschen, anders als beispielsweise im Englischen, wo dieser Satz etwas inflationärer gebraucht wird, nicht nur in romantischen Beziehungen. Ich weiss gar nicht, wie diese Stelle in einer Übersetzung funktionieren würde.

Für ein ganzes Stück in Inas Leben reichte ein Auskommen, genug Schlaf, etwas Sex und Gin Tonic. Was braucht Janna Steenfatt? 
Ebenfalls diese vier Dinge! Plus Inspiration, Liebe, Sonne, Wind, Bücher, Filme, Musik und gutes Essen.

Janna Steenfatt, geboren 1982 in Hamburg, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und arbeitet als freie Autorin und Moderatorin für verschiedene Filmfestivals. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, Teilnehmerin des 19. Open Mike und erhielt zahlreiche Aufenthaltsstipendien. Die Überflüssigkeit der Dinge ist ihr erster Roman.

Beitragsbild © Sascha Kokott

David Vann «Momentum», Hanser Berlin

Schon eines seiner ersten Bücher „Legend of a Suicide“ (Im Schatten des Vaters, Suhrkamp, 2011) drehte sich thematisch um die Selbsttötung seines Vaters. Sein neuster Roman „Momentum“ (engl. Halibut on the moon) ist ein schmerzhafter Roadtripp zweier Brüder. Der eine gelähmt durch seine Hilflosigkeit, der andere zerfressen von einem Schmerz, der ihn von allem wegreisst und unaufhörlich auf ein selbstzerstörerisches Ende zutreibt.

Ich fragte einen Freund, ob er in diesen Zeiten ein aussergewöhnliches Buch gelesen habe. Er zögerte keinen Augenblick und nannte „Momentum“ von David Vann. Er musste den Namen buchstabieren, hatte ihn noch nie gehört, obwohl ich im Nachhinein feststellen musste, dass Suhrkamp ein halbes Dutzend Bücher dieses Autors preist, die alle an meiner Wahrnehmung vorbeigingen. Ein Versäumnis!

Jim wird an einem Flughafen in San Francisco von seinem jüngeren Bruder Gary abgeholt. Gary, dessen Bruder für ihn lange sein grosser Bruder, sein Vorbild war, wird vom kleinen Bruder zum Beschützer, zum Behüter seines Bruders. Jim ist Ende dreissig und schwer depressiv. In der halbvollen Ledertasche, die er von Alaska mitgebracht hat, liegt ganz unten eine 44er Ruger Magnum und in seinem Koffer die dazugehörige Munition. Dr. Brown, der Jim Medikamente verschreibt, warnt, dass diese erst nach zwei Wochen zu wirken beginnen und man Jim auf keinen Fall alleine lassen dürfe, weder am Tag noch in der Nacht.

„Du bist wie ein Kompass neben einem Magneten.“

So fährt Gary am Steuer seines Pick-ups, neben ihm sein Bruder. Gary will seinen Bruder zurück und Jim steuert entschlossen auf den von ihm bestimmten Endpunkt seines Lebens entgegen. Für ihn gibt es nichts zu retten, schon gar nicht sein beschissenes Leben, ein Leben, das ausser Kontrolle geraten ist, das ihn hin- und herschlägt von überbordender Euphorie in abgrundtiefe Depression. Das einzige, was ihm Sicherheit gibt, ist die Knarre in seinem Gepäck und die Gewissheit, dass sie ihn in einem einzigen kontrollierten Moment aus dem permanenten Schmerz wegreissen kann, für immer befreien.

David Vann «Momentum», Hanser Berlin, 2020, 304 Seiten, 35.90 CHF, ISBN 978-3-446-26594-3

Jim, der in der Schule zu den Besten gehörte, wie sein Vater Zahnarzt wurde und einen Haufen Geld verdiente, zweimal verheiratet war, zwei Kinder hat und nichts lieber tat, als mit seinem Bruder zu jagen, hat allen Halt verloren, alle Sicherheit, jede Hoffnung. Er stellt alles in Frage, stellt dauernd Fragen, die jene, die ganz in der Gegenwart zu leben versuchen, gar nie stellen, sich gar nie zu stellen trauen. Jim reisst alle Fassaden, alle Kulissen nieder. Selbst als er seine Ex noch einmal besucht und einen Ausflug mit seinen beiden Kindern zu machen versucht, endet alles im Fiasko von Fragen, überbordender Reaktionen und der Hilflosigkeit aller Beteiligten. Unversöhnliche Gegensätze zerschmettern das wenige, das geblieben ist, da der fatalistische Frontalangriff auf alles, dort die immer gleichen religiösen und konformistischen Litaneien. Jim kann nicht mehr. Das Theater seines Lebens formiert sich zu einem finalen Ende.

„Wir kommen nirgends hin und entkommen auch nicht meiner Zukunft.“

Gary und Jim fahren zu ihren Eltern, beide alt geworden, müde vom Leben. Irgendwann sitzen sich Jim und sein Vater im Halbdunkeln gegenüber. Beide verstehen nicht. Bis der Vater sagt: „Alles ist ein Haufen Scheisse. Das ganze Leben. Nichts ist so, wie es sein sollte.“ Jim kann nicht fassen, dass sein Vater für einen kurzen Moment sein Versteck verlässt. Und doch ist Jim unrettbar verloren, die Fahrt mit seinem Bruder eine Fahrt auf den Abgrund zu.

Zugegeben, es tut weh. Erst recht, wenn einem bewusst wird, dass der Autor Jims Sohn den Namen David gegeben hat, etwas von seinem eigenen Leben erzählt, der Depression, dem Suizid seines Vaters. Wenn David die Szenen mit Jims Kindern schildert, die Ausweglosigkeit, die Verzweiflung des Bruders, die Ratlosigkeit einer ganzen Familie, dann wird deutlich, wie tief das Leiden, wie gross die Verzweiflung war.
Und doch braucht es solche Bücher, die an Fassaden und Kulissen reissen, die Fragen stellen, die sonst nicht gestellt werden, existenzielle Fragen über Sinn und Erlösung, über Wahrheiten und Liebe. David Vann tut es mit seinem Buch unmittelbar. Wer während der Lektüre nur ein Fünkchen Selbstreflexion zulässt, wird das Buch nicht atemlos lesen können, wird es weglegen müssen, weil sich Eigenes aufdrängt. Was will Literatur mehr!

© Mathieu Bourgois Agency

David Vann wurde 1966 auf Adak Island/Alaska geboren. Seine Romane sind vielfach preisgekrönt und erscheinen in 22 Ländern. David Vann lebt in Neuseeland und ist derzeit Professor an der University of Warwick in England.

Der Übersetzer Cornelius Reiber, 1963, studierte Germanistik, Geschichte und Kulturwissenschaften in Köln, Berlin und Princeton und lebt in Berlin. Daneben lehrt er gelegentlich an der Universität Basel. Zuletzt übersetzte er Bücher von Forrest Leo, Paul Theroux sowie einen Gesprächsband mit David Bowie.

Webseite des Autors

Lana Lux «Jägerin und Sammlerin», Aufbau

Tanya hat ihre Heimat, die Ukraine, verlassen. Sie will vergessen. Ihre Herkunft, ihre Vergangenheit. Alisa, ihre Tochter, hat nicht nur im Leben ihrer Mutter keinen Platz. Sie versucht zu korrigieren, zu kompensieren, den Tritt zu fassen in einem Leben, das keinen Halt findet. „Jägerin und Sammlerin“ ist der Lebenskampf zweier Frauen, von Mutter und Tochter, der unterschiedlicher nicht sein könnte.

Suchen wir uns unsere Probleme aus oder werden wir von ihnen aus- oder heimgesucht? Alisa wird in kein einfaches Leben hineingeboren. Ihre Mutter Tanya und ihr viel älterer Vater suchen ein neues Leben in Deutschland, als jüdische Kontingentflüchtlinge und lassen die Ukraine hinter sich. Die Tochter Alisa wächst in Deutschland auf, wenig geliebt und umsorgt von einer arbeitenden, „jagenden“ Mutter und einem enttäuschten, immer griesgrämiger werdenden Vater. Ein Zuhause, das in lauten und unnachgiebig geführten Streitereien zu ersticken droht, das weit weg ist von Nestwärme und Geborgenheit.

Obwohl Alisa alles tun möchte, um ihrer Mutter zu gefallen, ein Lächeln der Zufriedenheit zu provozieren, genügt sie nie; zu hässlich, zu ungeschickt, zu lasch, zu faul. Obwohl Alisa in der Schule beste Noten zeigt, orientiert sich die Mutter ganz an den aus ihrer Sicht offensichtlichen Mängel der Tochter; keine Freunde, und wenn, dann die falschen, kein Talent fürs Ballet, obwohl die hübsche und zierliche Mascha aus der Nachbarschaft, ebenfalls aus der Ukraine, vormacht, was durch Selbstdisziplin zu erreichen wäre.

Lana Lux «Jägerin und Sammlerin», Aufbau, 2020, 304 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-351-03798-7

Tanya ist nicht nur mit ihrer Tochter Alisa nicht zufrieden. Sie ist mit ihrem ganzen Leben, der Welt und den Brosamen, die man ihr lässt nicht zufrieden. Von Familie und Pflichten daran gehindert, das zu werden und zu sein, was eigentlich in ihr steckt, sich dauernd mit den falschen Männern herumschlagend, von allen missverstanden und nie belohnt für das, was sie tut, wird Tanya nicht nur für ihre Tochter zur Tretmine. So sehr Tanya die Schlechtigkeit der Welt für ihr Unglück verantwortlich macht, so sehr leidet ihre Tochter Alisa darunter, dass sie sich das Glück schlicht nicht zutraut.

Was man ihr einimpft, bewahrheitet sich. Obwohl Alisa ein halbes Leben lang zeichnet, stempelt ihre Mutter dies bloss Unsinn. Obwohl Alisa über Jahre nach der Schule einkauft, putzt und kocht, obwohl sie der Mutter in ihrer Ausbildung hilft, Bewerbungen für die Arbeitsämter schreibt, genügt sie nie. Tanya kritisiert gnadenlos die Mängel ihrer Tochter. Alles, was Alisa tut, wird nach Nützlichkeit taxiert. Und so werden aus den Zeichen der Tochter, eines pubertierenden Körpers, den zunehmenden Schwierigkeiten mit Essen, der Figur, dem Gewicht, den Pickeln im Gesicht keine Zeichen, die einer Mutter sagen würden, dass sie helfen müsste, sondern das infernale Schlachtfeld der Tochter ganz allein.

„Ich bin die geborene Jägerin“, sagt Mutter Tanya ganz am Schluss des zweiten Romans der Schriftstellerin Lana Lux und meint damit eigentlich ihre Tochter Alisa, von der sie im gleichen Atemzug sagt: „Sie hat keinen Biss. Sie hat keinen Jagdtrieb.“ Ohne dass Tanya ihre Tochter klassifiziert, ist sie doch die, die die Probleme sammelt, eben eine Sammlerin. Niemand, der die Probleme beim Namen nennt, der die Probleme anpackt, sie besiegt.
Dabei ist das Leben der Mutter alles andere als eine Siegerstrasse. 

Man kann „Jägerin und Sammlerin“ auf den Lebenskampf zweier Frauen reduzieren. Auf den Kampf einer jungen Frau, der Tochter, einen unsäglichen Kampf gegen den eigenen Körper, das eigene Ungenügen, die Angst vor dem Verlust letzter Selbstkontrolle. Den Kampf einer noch immer jungen Frau gegen die Angst an den Versprechungen des Lebens nicht teilhaben zu können, vom Unglück und allgegenwärtigen Missverständnis verfolgt zu sein. Manchmal sind beide Lebenskämpfe bei der Lektüre kaum auszuhalten. Jener der Tochter in dem ihr selbst zugeführten Schmerz, jener der Mutter in der offensichtlichen Empathielosigkeit. Aber es sind zwei Schlachtfelder der Gegenwart, Schlachtfelder von Ursache und Resultat.

In „Jägerin und Sammlerin“ erzählen Mutter und Tochter. Und es wird deutlich, wie unvereinbar Wahrheiten sein können, die auf die Schnelle betrachtet fast deckungsgleich sein könnten. Der Roman zeigt, wie sehr Empfindung und Wahrnehmung, Ursache und Wirkung auseinanderdriften können, selbst in allergrösster „Nähe“, zwischen Mutter und Tochter, Tochter und Mutter. Der Roman ist eine Schlacht, eine der vielen Schlachten der Gegenwart. Der Roman spiegelt die Welt zwischen Konsum, Rausch, Sehnsucht und Erwartungen.

© Joachim Gern

Lana Lux, geboren 1986 in Dnipropetrowsk/Ukraine, wanderte im Alter von zehn Jahren mit ihren Eltern als Kontingentflüchtling nach Deutschland aus. Sie machte Abitur und studierte zunächst Ernährungswissenschaften in Mönchengladbach. Später absolvierte sie eine Schauspielausbildung am Michael Tschechow Studio in Berlin. Seit 2010 lebt und arbeitet sie als Schauspielerin und Autorin in Berlin. 2017 erschien ihr vielbeachtetes Debüt «Kukolka», das in mehrere Sprachen übersetzt wurde, 2020 ihr neuer Roman «Jägerin und Sammlerin».

Beitragsbild © Lea Frei

Sepp Mall «Holz und Haut», Plattform Gegenzauber

Liebeslied morgens

Wenn die Nacht dann / fällt
sind es gleich Millionen km
im Quadrat
Wie sollen zwei Zeilen / dies alles
durchmessen
mit ihren Zollstöckchen und Vers-
mäßchen
Wer Glück hat / hält
sich an den Rand der Dateien
(in den Dämmerschleifn der Ufer)
hofft dort deine Lippen zu
finden (um 5 Uhr morgens)
: die Landmassen des Tags
Wo sonst / lässt sich auf-
tauchen
im ersten Licht sich schütteln
wie ein Hund
: allem Unheil entronnen

 

Weiter nichts

Ein (Jänner) Tag / der hinausläuft
ins Grau
Wir trinken aus Leichtsinns-
Tassen / ver-
steckn uns hinter Kosenamen
Warum nicht (alles) aufzählen
die vertanen Jahre
all die entglittnen / Möglichkeiten
: und plötzlich alles hergeben wollen

Auf deinen Wangen Granatapfel-
farbn
und im Hecheln der Sekunden
(Liebesschwüre)
: wieder warten auf Schnee

 

Rien

Wir aßen zu Mittag
aßen zu Abend
Nichts als ein Hinhalten der Stunden

Dann irgendwann / das Zu-
nachten buchstabiern
lentement (Silbe für Silbe)
Und dein Kopf in meinem Schoß
: Nichts / nichts
über die Städte zieht Rauch
Flüchtig / wie alles

 

In die Nacht

Das Versprechen / sich nicht
aus den Augen zu verliern
Die Sträucher / die sich ducken im Wind
Und Schnee / der auf Felder fällt
(in glänzende Ackerfurchen)
Weit draußen die Häuser zusammen-
gedrängt

Schritt für Schritt verliern die Bilder
an Farbigkeit
verblassen im milchigen Licht
im Flockengestöber / das übers Hirn
zieht
: doch noch / ist es nicht

 

Sepp Mall «Schläft ein Lied», Haymon, 2014, 80 Seiten, CHF 24.90, ISBN 978-3-7099-7142-0

Sepp Mall, geboren am 1955 in Graun/Südtirol, lebt und arbeitet in Meran. Autor, Lehrer und Herausgeber. Schreibt vor allem Lyrik und Romane, ist aber auch als Übersetzer sowie mit Hörspielen und Theaterstücken an die Öffentlichkeit getreten. Diverse Preise und Stipendien, u.a. Meraner Lyrikpreis 1996. Für die Arbeit an dem Gedichtband „Holz und Haut“ (2020) erhielt Sepp Mall das Grosse Literaturstipendium 2017/18 des Landes Tirol.

Im kommenden Herbst erscheint bei Haymon neu: «Holz und Haut» Gedichte.

Beitragsbild © Claudia Pircher

Tim Krohn «Die heilige Henni der Hinterhöfe», Kampa

Das Reich unter Kaiser Wilhelm II ist zerschunden, der Krieg verloren, ein Land, Berlin im Ausnahmezustand. Tim Krohn erzählt in seinem neuen Roman „Die heilige Henni der Hinterhöfe“ die Geschichte einer jungen Wilden in einer wilden Zeit. Und Tim Krohn erzählt die Geschichte Berlins inmitten politischer Tumulte und wirtschaftlicher Miseren. Ein grosses Panorama der Kleinen!

Henni kommt am 29. November 1902 in Berlin zur Welt. Im Kaiserdeutschland. Als der erste Weltkrieg zu Ende ist, der Krieg, der doch eigentlich eine klare Sache war und nur ein paar Wochen hätte dauern sollen, ein Krieg, den man hätte gewinnen sollen, ist Henni ein Mädchen in einer Stadt, die von den Wirren des Krieges ins Chaos der Nachkriegszeit hinübertorkelt, in der die Hurrarufe verstummten und die wenigen Männer mit Arm- und Beinstümpfen dem Leben hinterherhumpeln. Henni, von der man schon in jungen Jahren sagte, „sie is zu Höherem jeborn, aus der wir wat, da wernse noch staunen“ schafft es wirklich hoch hinaus, nur nicht dorthin, wo sie sich in ihren Träumen gerne hingehoben hätte.

Hennis Vater, Arthur Binneweis, arbeitet bei der Post, eine Staatsstelle. Aber weil das staatliche Zerbröckeln mit dem verlorenen Krieg nicht zu Ende ist und die Jahre danach durch Wirtschafts- und Währungskrisen ebenso beschleunigt werden wie durch die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, ist alles, was einst sicher war, auf Sand gebaut. Von Umzug zu Umzug werden die Wohnungen der Familie Binneweis am Prenzlauer Berg mit jedem Mal enger, bis Henni gezwungen ist, unter der Treppe im Stiegenhaus zu schlafen, bis klar ist, dass sie ihr junges Leben selbst in die Hand nehmen muss.

Henni will tanzen. So wie es im Berlin der Nachkriegszeit viele wollen. Henni ist hübsch, Henni ziert sich nicht. Und in der Stadt kocht das Leben und die Sehnsucht nach Zerstreuung. Was im Vorkriegsdeutschland Sitte und Anstand war, Tradition und Ehre, danach scheint im Berlin der Nachkriegszeit niemand mehr zu rufen. Dafür ruft jeder und jede nach seiner Fasson, die einen nach einer neuen kommunistischen Weltordnung, die andern nach einem judenfreien, sauberen Nationalstaat oder nach Freikörperkultur, sei es in entsprechenden Etablissements oder in Ringeltänzen unter Gleichgesinnten auf freiem Feld.

Tim Krohn «Die heilige Henni der Hinterhöfe», Kampa, 2020, 256 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-311-10026-3

Tim Krohn breitet ein Nachkriegspanorama der kleinen Leute aus, taucht mit mir an seiner Seite in eine Stadt ab, die in einem Vakuum zu sein scheint. Tim Krohns Henni kämpft sich durch den Grossstadtdschungel, hangelt sich von Misere zu Misere. Tim Krohn schafft es, dass das Berlin der Nachkriegsjahre vor mir zu leben beginnt. Die Lektüre benebelt meine Sinne, berauscht mich sprachlich, steigt mir durch die Nase tief ins Hirn. Was Tim Krohn schafft, schaffen nur ganz wenige. Sein Berlin ist nicht einfach Kulisse einer wilden, verrückten Geschichte. Sein Berlin ist durchdrungen von seiner Imaginationskraft. Ich begleite Henni durch einen wilden Strauss von Ereignissen, tauche mit ihr ein in den Strudel dieser Stadt, eine Zeit, in der die Weltordnung auseinandergebrochen ist. Es sind die kleinen Leute und kleinen Geschichten, die sich zu einem feinmaschigen Teppich verweben, einem Flickenteppich mit Löchern und Maschen, über die man stolpert, mit Rissen und Verwerfungen, die nicht verbergen, was darunter liegt. Tim Krohn lässt mich ein- und abtauchen, ganz unmittelbar, auf eine eigentliche Zeitreise, eine Historienreise in ein Innen, das man sich hundert Jahre später gar nicht mehr vorstellen kann. Aber Tim Krohn kann es, spinnt ein Netz, das verblüfft, taucht in Tiefen ein, die einem verwirren. Und wenn der gebürtige Nordrhein-Westfale, der im Kanton Glarus aufgewachsen ist und heute im Val Müstair, am äussersten Zipfel der Schweiz ein Leben führt, das sich in maximaler Distanz zu einer urbanen Stadtexistenz zu verorten scheint, mit berliner Schnauze sein Personal im Roman sprechen lässt, dann ist perfekt, was sonst nur ganz wenigen gelingt; absolute Authentizität!

„Die heilige Henni der Hinterhöfe“ ist ein Familien- und Gesellschaftsroman, ein Sittengemälde der Sonderklasse. Die Geschichte einer jungen Frau, die sich durch Sodom und Gomorrah kämpft, auf der Suche nach sich selbst, ihrem Glück und dem Glück ihrer Familie, die zu zerbrechen droht. In einer Stadt, in der Hakenkreuzfahnen zu flattern beginnen und „Jude“ mehr als ein Schimpfwort wird. In einer Gesellschaft, die sich zu finden hofft, die sich im Schmerz zudröhnt, die torkelt und fällt. In einem Land, in dem ein Machtvakuum von allen möglichen und unmöglichen Strömungen eingenommen werden will, in der der Zerfall von der Institution bis in die Familien wirkt.

„Sie is zu Höherem jeborn, aus der wir wat, da wernse noch staunen“, sagt ganz zu Beginn des Romans ein Feuerwehrmann zu Hennis Vater Arthur Binneweis. Der Feuermann bekommt Recht, in mehrfacher Hinsicht!

© Nina Mann

Tim Krohn ist 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich, in einer sehr liebenswerten Genossenschaft. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair. Er ist freier Schriftsteller. Er schrieb unter anderem die Romane»Quatemberkinder» (1998), «Irinas Buch der leichtfertigen Liebe» (2000), «Vrenelis Gärtli» (2007) und «Ans Meer» (2009), die Erzählbände «Aus dem Leben einer Matratze bester Machart» (2014) und «Nachts in Vals» (2015) sowie zahlreiche Theaterstücke, so auch die Vorlage zum «Einsiedler Welttheater 2013». Seine Romane «Herr Brechbühl sucht eine Katze» und «Erich Wyss übt den freien Fall» erschienen beide 2017. 2018 erschien «Julia Sommer sät aus». Er gewann unter anderem das Berliner Open Mike, den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung und den Kulturpreis des Kantons Glarus.

Tim Krohn «Und was erzählt Ihr Parfüm?», eine Versuchsanordnung 

Rezension von «Der See der Seelen» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Georg M. Oswald «Vorleben», Piper

Lockte schon einmal die Versuchung, das Mobilphone ihrer Partnerin oder ihres Partners zu durchsuchen, die Briefe in der Schachtel ganz unten im Kleiderschrank, die Tagebücher aus der Zeit vorher? Wieviel wissen sie von der Geschichte derer, die sie lieben? Passierte es ihnen schon einmal, dass sie sich in Spekulationen darüber verloren, was Vorstellungskraft, offene Fragen und nagende Neugier in ihr Denken frassen?

Sophias vielversprechender Beginn einer Journalistinnenkarriere ist ins Straucheln geraten. Nicht weil sie die Fähigkeiten dazu verloren hätte, sondern weil man sie irgendwie zu übersehen scheint, obwohl alles an ihr am rechten Fleck ist. Sie hadert. Bis eine Freundin ihr zu einem Job verhilft, von dem sie sich mehr als nur ein Stück Sicherheit verspricht. Sie soll das Staatliche Symphonieorchester München und ihre MusikerInnen bei ihren Proben und Konzertreisen begleiten und dabei das Programmheft der kommenden Saison mit ihren Texten bestücken. Texte, die den Blick von Aussen auf Musik, Interpretation und KünstlerInnen richten, die nicht fachsimpeln, sondern literarischen Kontrapunkt zu den Klängen auf der Bühne liefern sollen. Schreiben, von dem sich Sophia viel verspricht, zumal sich der Cellist Daniel fast von Beginn weg nicht nur für ihre Aufgabe zu interessieren scheint.

Die Ereignisse überstürzen sich. Eben noch voller Zweifel ebnet sich alles. Sophia mag den charmanten Cellisten, der sie von Anfang an auf Händen trägt, der sie dazu verleitet, ihr Zimmer in einer WG aufzugeben und in seine grosse, mondäne Dachwohnung in der Münchner Innenstadt zu ziehen. Während Daniel ausserhalb probt, soll die Wohnung, an der alles Souveränität und Stabilität ausstrahlt, ihr neues Zuhause, ihr Arbeits- und Musseort werden. 

Georg M. Oswald «Vorleben», Piper, 2020, 224 Seiten, 32.90 CHF, IBAN 978-3-492-05567-3

Aber nachdem das Programmheft gedruckt ist und nichts mehr darüber hinwegtäuscht, dass ihr Beitrag darin trotz fürstlicher Bezahlung nicht mehr als Text ist, macht sich erneut jene Leere breit, die Sophia zweifeln lässt, ob das Schreiben wirklich ihr Weg ist. Daniel macht ihr zwar Mut und drängt sie zu nichts. Aber jeder Tag in der grossen Wohnung wird zu einer immer verzweifelteren Suche nach ihrer Bestimmung. Er, der seine Bestimmung gefunden hat, sie, die in Selbstzweifeln und Verunsicherung den dünnen Boden unter den Füssen zu verlieren droht. Bis Sophia aus lauter Neugier in einem weissen Fotoalbum ganz hinten ein paar lose Polaroidfotos findet; eine junge Frau darauf mit farbigen Haaren und wilder Kleidung. Fast gleichzeitig stösst sie in der Buchhandlung ums Eck auf einen „Reiseführer für Eingeborene“ und darin auf einen Artikel mit der Überschrift „Die Schlange beim Tanze – das schöne und schreckliche Leben der Nadja Perlmann“.

Was sie wie ein Blitz trifft und sich zu wilden Spekulationen auftürmt, bietet ihr mit einem Mal das, wonach sie hoffte; Stoff. Eine Geschichte, die sich ihr auftut, in die sie sich schreibend verlieren kann. Gleichzeitig droht der Verrat an dem Mann, der ihr alles entgegenbringt, was sich wie wirkliche Liebe anfühlt. Und als Sophia in ihrer Witterung nach der grossen Geschichte, der Wahrheit und einer finsteren Vergangenheit nicht mehr zu halten ist und in Daniels Kellerabteil einen Sack mit weiteren schriftlichen Indizien findet, die offenbaren, dass das propere Leben, die Fassade ihre Mutmassungen zu bestätigen scheinen, kommt es zum „Showdown“.

Georg M. Oswalds Roman ist die Suche nach Bestimmung, ein Roman über die Macht der Leidenschaft, der Spekulation, den Kampf gegen die Vergangenheit. Georg M. Oswalds Romane sind kluge Unterhaltung, flirrende Arrangements von Figuren, die ganz nahe an der Wirklichkeit sind.

© Peter von Felbert

Georg M. Oswald, geboren 1963, arbeitet seit 1994 als Rechtsanwalt in München. Seine Romane und Erzählungen zeigen ihn als gesellschaftskritischen Schriftsteller, sein erfolgreichster Roman „Alles was zählt“, ist mit dem International Prize ausgezeichnet und in zehn Sprachen übersetzt worden. Zuletzt erschienen von ihm der Roman „Vom Geist der Gesetze“ und der Band „Wie war dein Tag, Schatz?“.

Rezension von Georg M. Oswalds Roman «Alle, die du liebst» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Sandra Hughes «Tessiner Verwicklungen», Kampa Krimi

Eine junge Tote in einer Pastafabrik. An einem Ort im pittoresken Tessin, der sonst nur mit Idylle verbunden wird. Emma Tschopps Einstieg als Ermittlerin in der Welt von JägerInnen und Gejagten! Ein Verbrechen im Schatten einer steinernen Familiengeschichte? Ein Verbrechen aus der Vergangenheit? Sandra Hughes überzeugt mit ihrem ersten Krimi, schält ganz langsam, ganz genüsslich bis an den „Kern einer faulenden Zwiebel“.


Wenn es in Krimis darum geht, Ordnung zu machen, einen Fall zu lösen, dann mag ich dieses Genre nicht. Selbst wenn die Handlung, die Verstrickungen noch so verwirrlich sind und Autorin oder Autor sich bemüht, mir die Hauptperson nahe zu bringen – es bleibt ein schales Gefühl. Eben dieses schale Gefühl einer vorgegaukelten Ordnung, einer Ordnung, die es nicht gibt, einer Gerechtigkeit, die es nicht gibt. Denn selbst wenn eine Täterin oder ein Täter überführt, verurteilt und hinter Gittern ist, bleibt die Wunde offen. Verbrechen bleiben, Verletzungen bleiben, selbst wenn sie unsichtbar sind, selbst wenn sie vernarben, selbst wenn sie bezeugt sind.

In Sandra Hughes erstem Krimi sagt die Vermittlerin Emma Tschopp ganz am Schluss: „Mein ganzes Arbeitsleben lang kämpfe ich schon für die Gerechtigkeit. Aber es gibt keine.“ Darüber liesse sich abendfüllend diskutieren. Vielleicht gibt es eine Gerechtigkeit für die Gesellschaft. Aber mit Sicherheit keine für Opfer und TäterInnen. Opfer bleiben Opfer, erst recht, wenn ein Mensch sterben musste. Noch viel mehr, wenn das Opfer wie im Krimi von Sandra Hughes ein mehr oder weniger zufälliges ist. Auch für TäterInnen, denn selbst dann, wenn Haftstrafen nach ihrer Dauer und Geldstrafen in ihrer Höhe messbar sind, ist es für Aussenstehende sehr oft nicht nachvollziehbar, das die einen für Jahrzehnte weggeschlossen werden und andere auf Bewährung frei bleiben.

Sandra Hughes «Tessiner Verwicklungen», Kampa Krimi, 2020, 224 Seiten, CHF 21.90, ISBN 978-3-311-12013-1

Emma Tschopp, einundfünfzig, alleinstehend und kinderlos, Kriminalpolizistin bei der Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft versucht mit ihrem Labrador Rubio und ihrem gelben Campingbus an einem Waldrand ein paar Kilometer von Meride, einem Tessiner Bilderbuchdorf, Ferien zu machen. Jene dreiundzwanzig Tage Ferienguthaben, die ihr zustehen und die entfallen, wenn sie nicht in diesem Jahr eingelöst werden. Aber weil eine Kriminalbeamtin auch in den Ferien Kriminalbeamtin bleibt, wird sie von ihren Tessiner Kollegen um Unterstützung gebeten, weil das Opfer wie Emma Tschopp aus dem Umland von Basel stammt.

Und das Opfer? Stefanie Schwendener war wenig über zwanzig. Eine junge Kindergärtnerin, die alle mochten, die im Tessin einen unbezahlten Urlaub machte, nachdem sie von einem Aufenthalt zuvor schon hingerissen war von einer neuen Welt, einer neuen Aufgabe. Sie bewohnte eine kleine Wohnung in Meride und bot Führungen an in der Pastamanufaktur der Familie Savelli im Ort. Eine kleine Fabrik mit langer Tradition, eine Perle im Ort am Fusse des Monte San Giorgio, Weltkulturerbe und weit herum bekannt für seine prähistorischen Fossilienfunde. Stefanie Schwendener wird eines Morgens vom alten Patron der Pastamanufaktur tot im Kühlraum der kleinen Fabrik gefunden. Eine Katastrophe für die Familien, jene des Opfers, die der Manufaktur und für das Dorf, das sich in Schockstarre befindet. Ein Fall, bei dem nichts zu greifen scheint und die Polizei unter dem Tessiner Commissario Bianchi an ihre Grenzen kommt. Ein Fall, an dem sich auch Emma Tschopp anfänglich die Zähne ausbeisst, weil wie immer alles in die Irre führt, was offensichtlich scheint.

Sandra Hughes sticht mitten hinein. Seien es verkrustete Familienverhältnisse, Geheimnisse, die nie an die Oberfläche kamen, aber über Jahrzehnte ihren Modergeruch verbreiteten. Hinein in Fassaden, hinter denen sich Abgründe auftun, nicht nur in Familien, sondern in Strukturen, die nach Aussen nur Gutes propagieren. So wie die barmherzigen Schwestern von Ballenmoos, die ein Kinderheim führen und über Jahrzehnte mit mehr als fragwürdigen Methoden das Leben von Kindern brachen. Eine Geschichte, die im Roman fiktionalisiert ist, aber im vergangenen Jahrhundert nicht bloss einmal Realität und Skandal war.

Emma trifft sich im Tessin manchmal mit Karin, auch einer, die sich im Kanton auf der anderen Seite der Berge ein Stück Paradies zu bauen scheint. Emma hilft Karin beim Erstellen eines Mosaiks vor dem Eingang zu ihrem Grotto. Ein Labyrinth, das von innen nach aussen gelegt wird, in entgegengesetzter Richtung zum eigentlichen Weg durch ein Labyrinth. Sandra Hughes bedient sich noch anderer starker Bilder; wenn die Tote dort gefunden wird, wo Hartweizengries und Wasser zu einer klebrigen Masse verrührt werden, einem Teig, der sich zu einem Genussmittel verwandelt.

Sandra Hughes erster Krimi ist ein gelungenes Stück Literatur, das weit mehr ist als Strandfutter oder buchgewordener Fastfood. Hintergründig und faszinierend konstruiert mit einer Ermittlerin, die für einmal nicht den gängigen Klischees entspricht, die KimiautorInnen gerne anzapfen, wenn es darum geht, einen neuen „Schnüffler“ zu kreieren.

Die Lesung von Sandra Hughes anlässlich der 2. Kulturnacht Amriswil entstand in Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus Thurgau.

© Sven Schnyder

Sandra Hughes, geboren 1966, wuchs in Luzern auf und lebt mit ihrer Familie in Allschwil bei Basel. Mit der Polizistin Emma Tschopp teilt sie die Vorliebe für Bistecca (saignant) und Blauschimmelkäse. Bisher schrieb sie Romane für Erwachsene und eine Geschichte für Kinder: «Lee Gustavo» (2006), «Maus im Kopf» (2009, Limmat Verlag), «Zimmer 307» (2012, Dörlemann Verlag) und «Fallen» (2016, Dörlemann Verlag), «Das Dach» (2019, SJW). 2013 erhielt sie den Kulturpreis des Kantons Basel-Landschaft für Literatur, 2017/2018 das Atelierstipendium der Landis & Gyr Stiftung für Schweizer Kulturschaffende in London.

Sandra Hughes «Das Dach», sjw, 2019, 34 Seiten, ISBN 978-3-7269-0206-3

PS: «Das Dach» von Sandra Hughes ist ein wunderbares SJW-Heft für Kinder, die schon gut lesen können und Erwachsene, die gerne mit der Fantasie einer Schriftstellerin durchbrennen. Paul ist 11 und wohnt ganz oben im 8. Stock. Durch Zufall zeigt ihm der Fahrstuhl im Haus, dass es einen Weg aufs Dach gibt, in eine Welt, die den Erwachsenen verborgen bleibt!

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