Georg M. Oswald «Vorleben», Piper

Lockte schon einmal die Versuchung, das Mobilphone ihrer Partnerin oder ihres Partners zu durchsuchen, die Briefe in der Schachtel ganz unten im Kleiderschrank, die Tagebücher aus der Zeit vorher? Wieviel wissen sie von der Geschichte derer, die sie lieben? Passierte es ihnen schon einmal, dass sie sich in Spekulationen darüber verloren, was Vorstellungskraft, offene Fragen und nagende Neugier in ihr Denken frassen?

Sophias vielversprechender Beginn einer Journalistinnenkarriere ist ins Straucheln geraten. Nicht weil sie die Fähigkeiten dazu verloren hätte, sondern weil man sie irgendwie zu übersehen scheint, obwohl alles an ihr am rechten Fleck ist. Sie hadert. Bis eine Freundin ihr zu einem Job verhilft, von dem sie sich mehr als nur ein Stück Sicherheit verspricht. Sie soll das Staatliche Symphonieorchester München und ihre MusikerInnen bei ihren Proben und Konzertreisen begleiten und dabei das Programmheft der kommenden Saison mit ihren Texten bestücken. Texte, die den Blick von Aussen auf Musik, Interpretation und KünstlerInnen richten, die nicht fachsimpeln, sondern literarischen Kontrapunkt zu den Klängen auf der Bühne liefern sollen. Schreiben, von dem sich Sophia viel verspricht, zumal sich der Cellist Daniel fast von Beginn weg nicht nur für ihre Aufgabe zu interessieren scheint.

Die Ereignisse überstürzen sich. Eben noch voller Zweifel ebnet sich alles. Sophia mag den charmanten Cellisten, der sie von Anfang an auf Händen trägt, der sie dazu verleitet, ihr Zimmer in einer WG aufzugeben und in seine grosse, mondäne Dachwohnung in der Münchner Innenstadt zu ziehen. Während Daniel ausserhalb probt, soll die Wohnung, an der alles Souveränität und Stabilität ausstrahlt, ihr neues Zuhause, ihr Arbeits- und Musseort werden. 

Georg M. Oswald «Vorleben», Piper, 2020, 224 Seiten, 32.90 CHF, IBAN 978-3-492-05567-3

Aber nachdem das Programmheft gedruckt ist und nichts mehr darüber hinwegtäuscht, dass ihr Beitrag darin trotz fürstlicher Bezahlung nicht mehr als Text ist, macht sich erneut jene Leere breit, die Sophia zweifeln lässt, ob das Schreiben wirklich ihr Weg ist. Daniel macht ihr zwar Mut und drängt sie zu nichts. Aber jeder Tag in der grossen Wohnung wird zu einer immer verzweifelteren Suche nach ihrer Bestimmung. Er, der seine Bestimmung gefunden hat, sie, die in Selbstzweifeln und Verunsicherung den dünnen Boden unter den Füssen zu verlieren droht. Bis Sophia aus lauter Neugier in einem weissen Fotoalbum ganz hinten ein paar lose Polaroidfotos findet; eine junge Frau darauf mit farbigen Haaren und wilder Kleidung. Fast gleichzeitig stösst sie in der Buchhandlung ums Eck auf einen „Reiseführer für Eingeborene“ und darin auf einen Artikel mit der Überschrift „Die Schlange beim Tanze – das schöne und schreckliche Leben der Nadja Perlmann“.

Was sie wie ein Blitz trifft und sich zu wilden Spekulationen auftürmt, bietet ihr mit einem Mal das, wonach sie hoffte; Stoff. Eine Geschichte, die sich ihr auftut, in die sie sich schreibend verlieren kann. Gleichzeitig droht der Verrat an dem Mann, der ihr alles entgegenbringt, was sich wie wirkliche Liebe anfühlt. Und als Sophia in ihrer Witterung nach der grossen Geschichte, der Wahrheit und einer finsteren Vergangenheit nicht mehr zu halten ist und in Daniels Kellerabteil einen Sack mit weiteren schriftlichen Indizien findet, die offenbaren, dass das propere Leben, die Fassade ihre Mutmassungen zu bestätigen scheinen, kommt es zum „Showdown“.

Georg M. Oswalds Roman ist die Suche nach Bestimmung, ein Roman über die Macht der Leidenschaft, der Spekulation, den Kampf gegen die Vergangenheit. Georg M. Oswalds Romane sind kluge Unterhaltung, flirrende Arrangements von Figuren, die ganz nahe an der Wirklichkeit sind.

© Peter von Felbert

Georg M. Oswald, geboren 1963, arbeitet seit 1994 als Rechtsanwalt in München. Seine Romane und Erzählungen zeigen ihn als gesellschaftskritischen Schriftsteller, sein erfolgreichster Roman „Alles was zählt“, ist mit dem International Prize ausgezeichnet und in zehn Sprachen übersetzt worden. Zuletzt erschienen von ihm der Roman „Vom Geist der Gesetze“ und der Band „Wie war dein Tag, Schatz?“.

Rezension von Georg M. Oswalds Roman «Alle, die du liebst» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Georg M. Oswald «Alle, die du liebst», Piper

Das braucht es! Romane wie «Alle, die du liebst», die einen Lesesonntag zu einem wirklich guten Tag werden lassen. Perfekte Unterhaltung, Spannung bis zur letzten Seite, ein Plot, der mit Aktualität fest verknüpft ist, eine Sprache, die scharf zeichnet und das Gefühl, dass die Geschichte etwas mit meinem Leben zu tun hat.

So wie Hartmut Wilke im Roman ist Georg M. Oswald Anwalt. Beide sind über 50 und erfolgreich. Hartmut Wilke als Anwalt in Steuerfragen, Georg M. Oswald seit zwei Jahrzehnten als Schriftsteller verschiedenster Genres. Sonst allerdings hoffe ich für den Autor, dass sich die Gemeinsamkeiten damit eingrenzen lassen. Hartmut Wilkes Leben ist aus den Fugen geraten. Die Liebe seines Lebens hat sich von ihm getrennt und führt einen gnadenlosen Scheidungskrieg. Zu seinen drei erwachsenen Kindern hat er den Draht verloren. Jenen zu seinem ältesten Sohn Erik schon lange. Seine um zwei Jahrzehnte jüngere Freundin Ines lässt ihn zweifeln, was die Gründe ihrer Beziehung sein könnten. Und von seiner Kanzlei erhält er einen Anruf, der ihn in die ehrgeizigen «Klauen» einer jungen, aufstrebenden Staatsanwältin in Sachen Steuerbetrug treiben soll. Sein Erfolg, seine Reputation, sein Haus, das grosse Auto und die siebenstellige Knautschzone auf der Bank; nichts hilft mehr, den freien Fall des erfolgsgewohnten Anwalts aufzuhalten.

Als Erik, der älterste Sohn, jener, der kein Ding zu einem guten Ende zu bringen schien, ihn vor Jahren um Geld bat, um an der kenianischen Küste eine Bar zu kaufen, schlug Hartmut die Bitte seines Sohnes in den Wind. Es war für beide das letzte Kapitel einer langen Kette von Enttäuschungen und für beide Grund genug, den Kontakt sterben zu lassen. Bis das Drängen seiner Freundin Ines und die Reise nach Kenia Gründe genug waren, den heimischen Schlamassel zurückzulassen und wenigstens zu Erik zurückzufinden. Hartmut und Ines reisen trotz Warnungen des Auswärtigen Amtes nach Kenia auf Kiani Island im Indischen Ozean. Ein Ort, der trotz seines paradisischen Aussehens nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass er im Würgegriff verfeindeter Warlords und einer korrupten Polizei ist. Eine Reise vom Regen in die Traufe.

Die Welt ist voller Siegertypen, denen stets der Erfolg Recht gibt, die nichts und niemanden zu hinterfragen brauchen, am wenigsten sich selbst. Die erste, die Hartmut von seinem Thron stürzt, ist Carla, seine Frau. Als sie erfährt, dass ihr Mann seine Libido auf eine wesentlich Jüngere aus seiner Kanzlei richtet und sie schamlos belügt, setzt sie ihn nicht nur vor die Tür, sondern kündigt an, ihn förmlich auszuweiden. Was einst die Liebe seines Lebens war, hatte er verraten. Nichts und niemand scheint ihn mehr vor den Verwüstungen eines Ehe- und Berufskriegs zu schützen.

Hartmut und Ines reisen nach Kenia. Erik erwartet sie nach einer beschwerlichen Reise in seinem noblen Zuhause, einem Ferien- und Fluchtressort im Meer für Reiche und reiche Flüchtlinge. Schon am ersten Tag, als ein ganzes Hotel auf einen Mister Jack zu warten scheint, einen gefallenen Anwalt, der sich auf der Insel durch Beziehungen und Geld unentbehrlich machte und dem es zu huldigen gilt, macht sich Unbehagen breit. Was ungut beginnt, potenziert sich in seiner Unberechenbarkeit. Alles scheint sich dem «deutschen» Verständnis von Recht und Ordnung zu entziehen. Nichts ist so, wie es sich Hartmut erhofft. Auch vor paradiesischer Kulisse reissen die Ankerketten, die Ereignisse überstürzen sich. Endgültig, als auf der Insel geschossen wird. Was als Versöhnungsreise begonnen hatte, wird zur wilden Konfrontation zweier Welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten.

Georg M. Oswald spielt geschickt mit Spannung, unerwarteten Wendungen, den Hoffnungen des Lesers und dem Reiz, seinen Protagonisten in ein immer grösser werdendes Desaster fallen zu lassen, ohne je die Bodenhaftung zur Realität zu verlieren. Spannungsliteratur mit Niveau!

Georg M. Oswald, geboren 1963, arbeitet seit 1994 als Rechtsanwalt in München. Seine Romane und Erzählungen zeigen ihn als gesellschaftskritischen Schriftsteller, sein erfolgreichster Roman »Alles was zählt«, ist mit dem International Prize ausgezeichnet und in zehn Sprachen übersetzt worden. Zuletzt erschienen von ihm der Roman »Vom Geist der Gesetze« und der Band »Wie war dein Tag, Schatz?«.