Charles Lewinsky «Der Stotterer», Diogenes

Charles Lewinsky glänzt mit Witz, beissendem Zynismus, ungebrochener Schreibfreude und elektrisierender Spannung. «Der Stotterer» ist die Geschichte eines jungen Mannes, der zurückschlägt. An den Rand gedrängt, blossgestellt und abgestempelt macht Johannes Hosea Stärckle seine Schwäche zur Stärke, seinen Makel zum Schwert. An Alexandre Dumas «Der Graf von Monte Christo» erinnert dreht ein Eingesperrter den Spiess um und wandelt seinen Niedergang zum Triumphzug.

Er sitzt in der JVA, Justizvollzugsanstalt. Wohl für eine ganze Weile. Betrügereien. Und weil ihm als Stotterer das Schreiben leichter fällt als das Sprechen, geht er auf den Deal des Anstaltsgeistlichen, den er nur Padre nennt, ein und beginnt zu schreiben. Zuerst nur an den Padre, selbstzensuriert, später auch in ein Tagebuch, ungefiltert. Er schreibt und schreibt, erzählt aus seinem Leben, zuerst mit einiger Distanz, dann immer ungehemmter, schreibt Geschichten, Briefe. Zuerst als Geschäft mit dem Geistlichen. Dieser verspricht sich Läuterung, Johannes den einen Posten als Gefängnisbibliothekar. Weg von den dröhnenden Stanzmaschinen, die einem nicht nachdenken lassen. Zuerst ist das Schreiben nur Deal, dann immer mehr Hoffnung, bis Johannes, ermutigt auch durch einen Ehrenplatz bei einem Schreibwettbewerb (ausgerechnet zum Thema Gerechtigkeit in einer Zeitschrift für Geistliche), ermuntert durch den Priester und einen Verleger immer mehr an ein Buch glaubt. So sehr, dass er befürchtet, die Zeit im Knast könnte knapp werden.

«Die Wahrheit ist ein Sicherheitsgurt für Leute, die keine Phantasie haben.»

Er hatte es nicht leicht, schon als Kind in einer Familie, die sich einer Sekte angeschlossen hatte, einem Vater ausgeliefert, der dem Bibelzitat näher stand als seiner Familie, der seinen Glauben durch Zucht und Ordnung unterstrich und seinen Sohn letztlich in die gierigen Fänge des Sektenoberhauptes Bachofen auslieferte und einer Mutter, die sich lieber an ihrer Kochschürze festhielt, als an der Liebe zu ihren drei Kindern. Nach dem Suizid der Schwester, der keiner sein durfte, und einer traumatischen Beerdigung nimmt er Reissaus, um sich aus den Fesseln seiner Familie zu befreien, flieht in eine Stadt, mittellos und ohne Bindung.

«Die Schriftstellerei ist ein Art der Hochstapelei, nur eben gesellschaftlich anerkannt und nicht strafbar. Der einzige Beruf, in dem man gelobt wird, wenn man gut gelogen hat.»

Er, dem man in der Schule auch mal «Schwächle» über den Pausenhof nachrief, findet überraschend schnell eine Arbeit. Und ganz nach dem literarischen Vorbild Felix Krull schärft er in unscheinbarer Gestalt seine Superkräfte: zum einen seine Kunst des geschliffenen Schreibens, zum andern seine Fähigkeit der Empathie! Wie nur wenig andere ist Johannes fähig, sich in die Seele eines Gegenübers zu versetzen, seine geheimen Wünsche, Sorgen und Sehnsüchte zu ergründen. Die besten Voraussetzung, um mit geschriebener Sprache, dem richtigen Ton und überdurchschnittlicher Intelligenz zu viel Geld zu kommen. Wohl auf dem Rücken eines Opfers. Aber wer tut das nicht? Tut der Padre in seinen Gefängnisgottesdiensten am Sonntag etwas anderes? Einfach ohne materiellen Gewinn.

«Geschichtenerzähler müssen keine Bekenner sein, sondern gute Lügner.»

Johannes versteht es, selbst im Gefängnis, seine Fähigkeiten als Schreibkünstler hinter der Fassade des unbeholfenen Stotterers zu seinen Gunsten einzusetzen. Es bekommt die Stelle als Gefängnisbibliothekar, erreicht die Gunst des stillen Herrschers in der JVA, des «Advokaten», die Unterstützung des Padre, der ihn soweit unterstützt, bis er als gemachter Mann die Gefängnismauern verlässt.

«Eine nette Lüge ist besser als eine unangenehme Wahrheit.»

«Der Stotterer» ist vielschichtig, raffiniert komponiert und leichtfüssig erzählt. Ich spüre förmlich die Lust des Autors an den sich überlagernden und überschlagenden Stoffen. Was aus der Geschichte des Stotterers bestimmt «autobiographisch» ist, ist Charles Lewinsky grosse Meisterschaft, sich in einen Menschen hineinzuversetzen. Ganz bestimmt mit der Einsicht, gar nicht so sehr anders zu sein. Jeder kämpft mit seinen Waffen.

Maurice Haas © Diogenes

Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, hat Germanistik und Theaterwissenschaft studiert und als Dramaturg und Regisseur an diversen Bühnen gearbeitet, bevor er als Autor von Shows und Serien zum Fernsehen ging. Seit 1980 ist er freier Schriftsteller, international berühmt wurde er mit seinem Roman «Melnitz». Er gewann zahlreiche Preise, darunter den französischen Prix du meilleur livre étranger sowie den Preis der Schillerstiftung. Sein Werk erscheint in 14 Sprachen. Charles Lewinsky lebt im Sommer in Vereux (Frankreich) und im Winter in Zürich.

Beitragsbild © Sandra Kottonau