Han Kang «Weiss», Aufbau

Seit ihrem Roman „Die Vegetarierin“ gehört Han Kang zu Koreas wichtigsten literarischen Stimmen. Während eines Aufenthalts in einer europäischen Stadt, konfrontiert mit der Erinnerung an ihre Schwester, die in den Armen ihrer Mutter starb, entstand „Weiss“, ein Buch, reduziert bis auf das, was sich nicht mehr wegdenken lässt. 

Die Frau, von der erzählt wird, ist in der Fremde, an einem Ort, an dem während der Hälfte des Jahres Kälte herrscht; der Nebel, die Wolken, der Schnee. In einer Stadt, in der sie die Sprache nicht versteht, in der kein Schild zu entziffern ist, in der sie sich fremd und verunsichert fühlt, tauchen im Weiss Bilder auf, die sie in die Erinnerungen zurückreissen.

Han Kang «Weiss», Aufbau, 2020, 151 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-351-03722-2

An die Mutter, die noch ganz jung, ganz allein, weit weg und ohne Zugang zu medizinischer Hilfe lange vor dem Geburtstermin ein Mädchen zur Welt bringt, unvorbereitet und in stiller Verzweiflung. Aber nicht einmal zwei Stunden lang dauert das kurze Leben des Mädchens. Es stirbt. Und nachdem Stunden später der Vater nach Hause kommt, hüllt er dieses in weisse Wickeltücher und beerdigt es auf einem nahen Hügel. Eine Tragödie, von der sich die Mutter nie ganz erholt, die immer wieder im Konjunktiv aufflackert. Eine Tragödie, die auch die Erzählende begleitet, denn trotz ihres kurzen Lebens bleibt das namenlose Mädchen ihre Schwester. Noch mehr, denn es hätte sie selbst nicht gegeben, hätte die Erstgeborene weiter gelebt.

Jahrzehnte später in den kalten Wintermonaten in einer fernen Stadt, allein gelassen mit sich selbst und mit Bildern, die sonst verborgen bleiben, tauchen Erinnerungen wieder auf. Erinnerungen gekoppelt mit der Farbe Weiss. Während die Erzählerin als erstes eine Liste erstellt mit Dingen, die sie mit Weiss verbindet, tauchen weisse Fetzen aus dem Vergessen auf. Aus der Liste werden die Überschriften zu den kurzen Kapiteln, die sich wie Meditationen, Betrachtungen lesen; Wickeltuch, Babyhemdchen, Mondförmiger Reiskuchen, Nebel, Weisse Stadt, Weisse Kerze…

„Hättest du doch nicht aufgehört zu atmen.“

Die Texte reflektieren nicht nur Erinnerung, sie beschäftigen sich auch mit dem Warum, warum sich ausgerechnet in dieser fremden Stadt, diesem fremden Land längst Vergessenes an die Oberfläche drängt. Woher dieses Bedürfnis, dieses Sehnen nach Reinheit und Sauberem, Makellosigkeit und Keuschheit.

Von den Erzählungen der Mutter weiss die Erzählende, wie sehr die Mutter flehte: „Stirb nicht, bitte stirb nicht.“ Mit dem Schreiben, dem Erzählen wandelt sich dieses Flehen an die Erinnerung: „Stirb nicht, bitte stirb nicht.“ Selbst wenn die Augen des kleinen Mädchens nur kurz schauten, der Atem wieder versiegte und die Haut des Mädchens erkaltete – die Erinnerung darf es nicht. „Stirb nicht, bitte stirb nicht“, wird zum Amulett, zuerst für die Mutter, dann für die zweite Tochter.

„Weiss“ ist ein ganz zartes Buch, ein Hauch im kalten Winter. Der Beweis dafür das wir leben, nicht bloss existieren. 

Wer das Buch liest, scheut sich, es so einfach in ein Regal zu schieben.

Han Kang ist die wichtigste literarische Stimme Koreas. 1993 debütierte sie als Dichterin, seitdem erschienen zahlreiche Romane. Seit sie für «Die Vegetarierin» gemeinsam mit ihrer Übersetzerin 2016 den Man Booker International Prize erhielt, haben ihre Bücher auch international grossen Erfolg. Auch der Roman «Weiss» war für den Booker Prize nominiert, »Menschenwerk« erhielt den renommierten italienischen Malaparte-Preis, zuletzt erschien bei Aufbau «Deine kalten Hände». Derzeit lehrt sie kreatives Schreiben am Kulturinstitut Seoul.

Ki-Hyang Lee, die Übersetzerin, , geboren 1967 in Seoul, studierte Germanistik in Seoul, Würzburg und München. Sie lebt in München und arbeitet als Lektorin, Übersetzerin und Verlegerin.

Beitragsbild © Baek Dahum

Lana Lux «Jägerin und Sammlerin», Aufbau

Tanya hat ihre Heimat, die Ukraine, verlassen. Sie will vergessen. Ihre Herkunft, ihre Vergangenheit. Alisa, ihre Tochter, hat nicht nur im Leben ihrer Mutter keinen Platz. Sie versucht zu korrigieren, zu kompensieren, den Tritt zu fassen in einem Leben, das keinen Halt findet. „Jägerin und Sammlerin“ ist der Lebenskampf zweier Frauen, von Mutter und Tochter, der unterschiedlicher nicht sein könnte.

Suchen wir uns unsere Probleme aus oder werden wir von ihnen aus- oder heimgesucht? Alisa wird in kein einfaches Leben hineingeboren. Ihre Mutter Tanya und ihr viel älterer Vater suchen ein neues Leben in Deutschland, als jüdische Kontingentflüchtlinge und lassen die Ukraine hinter sich. Die Tochter Alisa wächst in Deutschland auf, wenig geliebt und umsorgt von einer arbeitenden, „jagenden“ Mutter und einem enttäuschten, immer griesgrämiger werdenden Vater. Ein Zuhause, das in lauten und unnachgiebig geführten Streitereien zu ersticken droht, das weit weg ist von Nestwärme und Geborgenheit.

Obwohl Alisa alles tun möchte, um ihrer Mutter zu gefallen, ein Lächeln der Zufriedenheit zu provozieren, genügt sie nie; zu hässlich, zu ungeschickt, zu lasch, zu faul. Obwohl Alisa in der Schule beste Noten zeigt, orientiert sich die Mutter ganz an den aus ihrer Sicht offensichtlichen Mängel der Tochter; keine Freunde, und wenn, dann die falschen, kein Talent fürs Ballet, obwohl die hübsche und zierliche Mascha aus der Nachbarschaft, ebenfalls aus der Ukraine, vormacht, was durch Selbstdisziplin zu erreichen wäre.

Lana Lux «Jägerin und Sammlerin», Aufbau, 2020, 304 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-351-03798-7

Tanya ist nicht nur mit ihrer Tochter Alisa nicht zufrieden. Sie ist mit ihrem ganzen Leben, der Welt und den Brosamen, die man ihr lässt nicht zufrieden. Von Familie und Pflichten daran gehindert, das zu werden und zu sein, was eigentlich in ihr steckt, sich dauernd mit den falschen Männern herumschlagend, von allen missverstanden und nie belohnt für das, was sie tut, wird Tanya nicht nur für ihre Tochter zur Tretmine. So sehr Tanya die Schlechtigkeit der Welt für ihr Unglück verantwortlich macht, so sehr leidet ihre Tochter Alisa darunter, dass sie sich das Glück schlicht nicht zutraut.

Was man ihr einimpft, bewahrheitet sich. Obwohl Alisa ein halbes Leben lang zeichnet, stempelt ihre Mutter dies bloss Unsinn. Obwohl Alisa über Jahre nach der Schule einkauft, putzt und kocht, obwohl sie der Mutter in ihrer Ausbildung hilft, Bewerbungen für die Arbeitsämter schreibt, genügt sie nie. Tanya kritisiert gnadenlos die Mängel ihrer Tochter. Alles, was Alisa tut, wird nach Nützlichkeit taxiert. Und so werden aus den Zeichen der Tochter, eines pubertierenden Körpers, den zunehmenden Schwierigkeiten mit Essen, der Figur, dem Gewicht, den Pickeln im Gesicht keine Zeichen, die einer Mutter sagen würden, dass sie helfen müsste, sondern das infernale Schlachtfeld der Tochter ganz allein.

„Ich bin die geborene Jägerin“, sagt Mutter Tanya ganz am Schluss des zweiten Romans der Schriftstellerin Lana Lux und meint damit eigentlich ihre Tochter Alisa, von der sie im gleichen Atemzug sagt: „Sie hat keinen Biss. Sie hat keinen Jagdtrieb.“ Ohne dass Tanya ihre Tochter klassifiziert, ist sie doch die, die die Probleme sammelt, eben eine Sammlerin. Niemand, der die Probleme beim Namen nennt, der die Probleme anpackt, sie besiegt.
Dabei ist das Leben der Mutter alles andere als eine Siegerstrasse. 

Man kann „Jägerin und Sammlerin“ auf den Lebenskampf zweier Frauen reduzieren. Auf den Kampf einer jungen Frau, der Tochter, einen unsäglichen Kampf gegen den eigenen Körper, das eigene Ungenügen, die Angst vor dem Verlust letzter Selbstkontrolle. Den Kampf einer noch immer jungen Frau gegen die Angst an den Versprechungen des Lebens nicht teilhaben zu können, vom Unglück und allgegenwärtigen Missverständnis verfolgt zu sein. Manchmal sind beide Lebenskämpfe bei der Lektüre kaum auszuhalten. Jener der Tochter in dem ihr selbst zugeführten Schmerz, jener der Mutter in der offensichtlichen Empathielosigkeit. Aber es sind zwei Schlachtfelder der Gegenwart, Schlachtfelder von Ursache und Resultat.

In „Jägerin und Sammlerin“ erzählen Mutter und Tochter. Und es wird deutlich, wie unvereinbar Wahrheiten sein können, die auf die Schnelle betrachtet fast deckungsgleich sein könnten. Der Roman zeigt, wie sehr Empfindung und Wahrnehmung, Ursache und Wirkung auseinanderdriften können, selbst in allergrösster „Nähe“, zwischen Mutter und Tochter, Tochter und Mutter. Der Roman ist eine Schlacht, eine der vielen Schlachten der Gegenwart. Der Roman spiegelt die Welt zwischen Konsum, Rausch, Sehnsucht und Erwartungen.

© Joachim Gern

Lana Lux, geboren 1986 in Dnipropetrowsk/Ukraine, wanderte im Alter von zehn Jahren mit ihren Eltern als Kontingentflüchtling nach Deutschland aus. Sie machte Abitur und studierte zunächst Ernährungswissenschaften in Mönchengladbach. Später absolvierte sie eine Schauspielausbildung am Michael Tschechow Studio in Berlin. Seit 2010 lebt und arbeitet sie als Schauspielerin und Autorin in Berlin. 2017 erschien ihr vielbeachtetes Debüt «Kukolka», das in mehrere Sprachen übersetzt wurde, 2020 ihr neuer Roman «Jägerin und Sammlerin».

Beitragsbild © Lea Frei

Gianna Molinari «Hier ist noch alles möglich», Aufbau

Eine Fabrik, deren Maschinen immer mehr stillstehen. Eine junge Frau, die sich als Nachtwächterin einstellen lässt. Ein Chef, der den Wolf auf dem Firmengelände vermutet. Ein Kantinenkoch mit einem Gewehr auf dem Rücken und Fallgruben auf dem Fabriksgelände, mit denen man hofft, den Wolf zu fangen.

«Hier ist noch alles möglich» – nicht nur Titel von Gianna Molinaris Debütroman, sondern Programm eines ganzen Buches. Die junge Frau, die sich als Nachtwächterin in einer Fabrik in der Verpackungsindustrie einstellen lässt, arbeitete zuvor in einer Bibliothek. Von dort ging sie weg, weil Arbeit nicht aus Sortieren von Büchern bestehen konnte. Aber auch die Nachtwache in der Frühschicht, zusammen mit Clemens, ist bloss Übergang, zeitlich befristet. Alles ist möglich. Die junge Frau erreicht, dass sie ihr Wohnquartier direkt über dem Überwachungsraum mit den Bildschirmen einrichten kann; ein Bett, ein Stuhl. Alles ist möglich. Man glaubt, dass sich ein Wolf an die Essensreste aus der fabrikeigenen Kantine hermacht, dass das wilde Tier damit zu nahe an den Innenbereich des Fabrikgeländes kommt und damit die Sicherheit gefährdet. Alles wartet auf Zeichen des Wolfes, auf die Sichtung des Tieres, lenkt ab von der Tatsache, dass hier eine Fabrik seine Maschinen gänzlich stilllegen wird und Menschen nach und nach ihre Arbeit verlieren. Man hofft auf den Wolf. Man hofft auf eine gute Wende in den Verhandlungen des umtriebigen Chefs. Alles ist möglich. In der Nähe des Fabrikgeländes ist ein Flughafen. Kein grosser, aber ein Tor zur Welt. Und nicht weit vom Fabriksgelände fiel ein Mann vom Himmel, wurde Tage später gefunden, ein Schwarzer, ein Flüchtling, wahrscheinlich aus dem Fahrwerkschacht eines Flugzeugs gefallen. Alles ist möglich. Ein Mann ohne Identität, erfroren oder an Sauerstoffmangel gestorben. Alles ist möglich.

«Ich zweifle daran, dass die Sicherheit, in der ich lebe, der Realität entspricht. Ich sehne mich nach Unsicherheit, nach mehr Echtheit vielleicht, nach Wirklichkeit. Ich möchte unterscheiden können, was wichtig ist und was nicht. Ich möchte Teil einer Geschichte sein oder vieler Geschichten zugleich.»

Gianna Molinaris eigenwilliger Roman liest sich wie ein Kammerstück, spärlich möbliert, mit wenig Personal. Wenig ist eindeutig, vieles ist mehrdeutig. Die L-förmige Fabrik Metapher für eine Welt im Umbruch. Die Angst vor dem Wolf als Angst vor der Ungewissheit, der Unberechenbarkeit, dem Wilden, den Träumen. Clemens und die junge Frau, die beiden Nachtwächter sitzen in ihrem Überwachungsraum mit all den Bildschirmen wie in einem Cockpit eines Raumschiffs. Man sucht nach dem Feind, dem Fremden, während nicht weit von der Fabrik ein junger Mann vom Himmel fällt, beobachtet von einem Jäger, der seiner Beobachtung aber erst dann traut, nachdem die Zeitung von dem Vorfall berichtet.
Und dann spitzt sich auch noch die Situation in der Fabrik zu, nachdem die junge Nachtwächterin von der übrig gebliebenen Belegschaft mehr als eigenartig gemustert wird, nachdem im Ort, nicht weit von der Fabrik, nach einem Banküberfall, Phantombilder der Polizei auftauchen, die dem Gesicht der jungen Frau ähneln. Alles ist möglich.

Ein Buch, das von skurrilen Ideen und Einfällen lebt. Ein Buch, das inhaltlich und stilistisch aus der Reihe tanzt. Ein Buch mit Wortschöpfungen und Szenen, die ans Theater mehr erinnern als an die Wirklichkeit. Eine irgendwie entmenschte Welt, eine posthumane Welt, nicht dystopisch, aber so als hätte sich die Masse der Menschen bereits «verabschiedet». Ein Buch, das auf erfrischende Art und Weise ratlos macht. Ein Abenteuer!

Ein kleines Interview mit Gianna Molinari:

Die junge Nachtwächterin führt ein Universal-General-Lexikon, in dem sie fortlaufend neue Einträge hineinschreibt oder solche ergänzt. Ein Lexikon, das ihre Welt erklären soll. Ein Tagebuch wäre naheliegend, ein Universal-General-Lexikon so seltsam wie vieles in ihrem Roman. Wie kamen sie auf die Idee?

Ein Lexikon ist ein Instrument, um die Welt in wenigen Worten zu fassen, mittels Sprache die Welt zu definieren. Auch die Ich-Erzählerin versucht ihre Umgebung zu fassen, zu erfassen, zu ordnen. Diesem Ordnungswunsch kann sie im Ergänzen und Weiterführen des Lexikons nachgehen. Auch ist das Lexikon, im Gegensatz zum Tagebuch, das linear verläuft, vielmehr in einer Netzstruktur gebaut. Innerhalb dieses Netzes sind Bezüge und Verweise möglich. Dies entspricht sehr der Welt in diesem Roman. Auch ist der Kontrast der Lexikonsprache zur literarischen Sprache interessant. Die Sprache des Lexikons, die Fakten zusammenführt und keine Vermutungen anstellt im Gegensatz zur literarischen Sprache, die Fragen stellen kann, die Vermutungen äussert, Möglichkeiten aufzeigt, die vor allem auch die Fiktion bedienen kann. Das ist dem Lexikon, so wie wir es kennen, fremd.

Während sich ihre Protagonistin nach Unsicherheit sehnt, wird sie zur Sicherheit in und um die Fabrik eingestellt. Nichts will der Mensch heute mehr als Sicherheit. Vor nichts fürchtet er sich mehr als vor der Unsicherheit. Dem bösen Wolf der Gegenwart. Wo stehen sie?

Mir stellt sich die Frage, wer über das Gefühl von Unsicherheit und Sicherheit entscheidet. Das Gefühl der Unsicherheit wird oft von aussen hergestellt und verinnerlicht sich zu einem Gefühl der Angst. Die Frage stellt sich: Ist der Wolf tatsächlich die Unsicherheit, oder ist er nicht vielmehr derjenige, der uns über unser Gefühl der Unsicherheit nachdenken und uns unser Sicherheitsbedürfnis hinterfragen lässt? Der Wolf an sich ist ja nicht gefährlich. Er wird zu einer Bedrohung gemacht. Der Wunsch nach Sicherheit führt dazu, dass wir Grenzen aufbauen, (Fabrik)Zäune ziehen. Sperren wir damit die Bedrohung aus, oder sperren wir uns selber ein?

Lose, ein Mann, der einst in der Fabrik arbeitete und als Jäger den Mann vom Himmel fallen sah, sammelt in einer Mappe alles über diesen jungen Mann (eine tatsächliche Geschichte, die im Mai 2010 durch die Presse ging). Ein Jäger, der zum Sammler wird! Im Nachwort zum Roman erzählen sie von der Inspiration dieser Geschichte, die vom Schriftsteller Christoph Keller zu einer Radiogeschichte wurde. Da ist eine junge Frau, eine Fabrik, ein Wolf und ein Mann, der vom Himmel fiel. Eine besondere Konstellation für einen Roman. Fügten sich diese Bausteine leicht zusammen?

Die Bausteine zusammenzubringen war zu Beginn nicht einfach. Der Text ist lange gewuchert und dann durch viele Streichungs- und Komprimierungsphasen gegangen. Der Prozess des Verdichtens führt den Text und somit auch die Bauteile zusammen. Die Konstellation mag besonders scheinen, die einzelnen Teile haben für mich aber sehr viel miteinander zu tun. Hier greift wiederum der Netzgedanke. Die Literatur vermag gegensätzlichste Dinge in einen Bezug zueinander zu stellen, vermag sie in einem einzigen Satz nebeneinander zu bringen. Das ist das Schöne an der Literatur, dass sie das kann.

So wie der Wolf eine ganze Fabrik und ihre Belegschaft vom eigentlichen ablenkt, braucht die Gesellschaft Dinge, Geschichten, um vom wirklich Wichtigen abzulenken. Lenken sie ab oder zeigen sie auf?

Ablenken und Aufzeigen sind in diesem Roman keine Gegensatzpaare. Sie gehen Hand in Hand. Einerseits sucht die Ich-Erzählerin in den Geschichten Zuflucht, sie geht ihnen nach und möchte Teil von ihnen sein. Andererseits haben Geschichten auch die Fähigkeit, Dinge sichtbar zu machen, die davor unsichtbar waren, Zusammenhänge herzustellen, aufzuzeigen. So ist es auch beim Wolf: Ich denke nicht, dass der Wolf eine Ablenkung ist. Vielmehr ist er ein Element, das, obwohl er selber fast unsichtbar bleibt, Dinge sichtbar macht und aufzeigt. 

Das Buch ist illustriert. Zeichnungen aus dem Universal-General-Lexikon der jungen Nachtwächterin. Zudem sind in den Roman zwei Fotofolgen eingefügt, ganzseitige Fotos, die nicht erklären, aber wie Kulissen das Leseerlebnis verstärken. War das schwierig, den Verlag für ein solches Experiment zu gewinnen?

Die Skizzen und Fotografien waren von Beginn weg wichtige Bestandteile des Romans. Wie der Text sind auch die Bilder durch einen Lektoratsprozess gelaufen. Im Gespräch mit meiner Lektorin Sarah Iwanowski stellten sich Fragen wie: Wo braucht es Kürzungen, was erzählen die Bilder, wo erzählen sie zu viel oder zu wenig? Der Verlag stand immer hinter dem Verwenden des Bildmaterials.

Ich danke Gianna Molinari für das spannende Interview.

Gianna Molinari wurde 1988 in Basel geboren und lebt in Zürich. Sie studierte von 2009 bis 2012 Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut Biel und danach Neuere Deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Sie war Stipendiatin der Autorenwerkstatt Prosa 2012 am Literarischen Colloquium Berlin und erhielt im selben Jahr den Preis sowie den Publikumspreis des 17. MDR-Literaturwettbewerbs. Bei den „Tagen der deutschen Literatur“ 2017 in Klagenfurt wurde sie für einen Auszug aus ihrem Debüt „Hier ist noch alles möglich“ mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet.

Buchpremiere: Gianna Molinari liest erstmals in Zürich aus ihrem Debütroman «Hier ist noch alles möglich» am 28.08.2018, Beginn: 19.00, Sphères, Hardturmstrasse 66, 8005 Zürich. Der Eintritt ist frei!

Lana Lux «Kukolka», Aufbau

Es ist die Geschichte von Samira. Das kleine Mädchen wächst im Waisenhaus auf, haut mit sechs ab und gerät von einem Seelengefängnis in ein nächstes. Eine lange Geschichte, von der wir sonst nur ganz kurz in der Presse lesen; Kinderprostitution, Menschenhandel, Verwahrlosung. Ein Buch, das ebenso fasziniert wie bestürzt.

Es ist ein hartes Buch, das mich unerwartet heftig mitriss, das ich las mit einer Mischung aus Betroffenheit, Ekel und Faszination.

Betroffenheit: «Weil die Leute da draussen nicht deine Freunde sind. Kapiert? Sie waren es nie und werden es nie sein.»

Nichts im jungen Leben Samiras erinnert an Normalität. Nichts. Sie wächst in einem Waisenhaus in der Ukraine in den 90er Jahren auf, in dem nicht nur die Betten und Böden kalt sind. Frauen richten kleine Kinder zu willigen Puppen ab, einzig dazu da, mit möglichst kleinem Aufwand maximale Wirkung zu erzielen, wenn an Samstagen «hoher Besuch» kommt, mit der Absicht diese Verlorenen zu adoptieren. Mit sechs haut sie aus dem Waisenhaus ab, ohne jede Ahnung, wie die Welt ausserhalb dieser Mauern funktioniert. Am Bahnhof wird sie von Rocky, einem kleinen Ganoven aufgegabelt. Er nennt Samira «Kukolka», sein Püppchen, und lässt sie mit anderen Kindern auf den Strassen der Stadt klauen, betteln und singen, um sie in seiner Unberechenbarkeit auch einmal zurechtzuschlagen. Wieder haut sie ab, wieder «gerettet», von ihrem Prinzen, der sie singen hört, ihr Geschenke macht, sie badet und für Tage in seiner Wohnung einsperrt, «damit sie sich erholen kann». Samira ist 10 und getrieben von ihrem Wunsch, ihre einzige Freundin Marina aus der Zeit im Waisenhaus wiederzufinden. Eines jener Mädchen, das an einem der Samstage neue Eltern aus Deutschland bekam und plötzlich verschwand. Aber Dina ist wie Rocky wieder nur ein Blender, der die 12jährige zum Anschaffen zwingt, um ihn vor seinen angeblichen Häschern zu retten. Das Karussell dreht sich unaufhaltsam. Samira, die kaum je ehrliche Zuwendung erfährt, sich in einer Welt der Ruchlosigkeit, Gewalt und Perversion behaupten muss, nichts ausser ihrem Namen und einen Brief von Marina besitzt, strauchelt ungewollt, geschupst, gestossen, gezwungen und geschlagen, von einer Katastrophe zu nächsten. Ein Schicksal, dass sie mit Tausenden teilt, die mit falschen Versprechungen an den Strassenstrich und in Bordelle gezerrt werden.

Ekel: «Jeder hat eine Mama.» «Ich nicht.» «Doch, es gibt immer eine Fotze, aus der man rauskam.»

Meine Welt ist genauso real wie jene Samiras. Leider. So wie Olga Grjasnowa in ihrem Roman «Gott ist nicht schüchtern» mir als Leser das Schicksal zweier syrischer Flüchtlinge vor Augen führt, so tut es Lana Lux mit «Kukolka» mit jenem von osteuropäischen, minderjährigen Zwangsprostituierten. Der Ekel darüber, was Unmenschlichkeit, Gier und seelische Verkommenheit anrichten können, wirkt bei der Lektüre von «Kukolka» beinahe körperlich schmerzhaft. Soll man sich die Lektüre dieses Romans antun? Wo sind die Grenzen zwischen Voyeurismus und echter Betroffenheit? Was tu ich mit dem, was sich während der Lektüre ansammelt? Immerhin ist es bedeutend mehr als eine Zeitungsmeldung oder ein zweiminütiger Klipp. Lana Lux fordert mich mit ihrem hemmungs- und schonungslosen Schreiben heraus. Und Samira, das Mädchen mit den schönen blaugrünen Augen, berührt mich mehr, als ich mir bei all den gnadenlos realistischen Szenen der Unmenschlichkeit zugestehen möchte. Samiras Schicksal ist ein Teil meiner Welt, obwohl ich mich sonst mehr ärgere über Drängeler im Supermarkt oder nasse Socken beim Wandern. Bücher wie «Kukolka» braucht es. Sie peitschen mich aus meiner satten Zufriedenheit.

Faszination: «Samira, wiederholte ich, und es klang, als würde ich den Namen aus einer Plastikfolie auswickeln.»

«Kukolka» ist nicht zuletzt ein moderner Schicksals- oder Abenteuerroman, der sich ganz der aktuellen Realität verschrieben hat. Beim Lesen trieb mich eine ähnliche Faszination wie damls als Kind, als ich «Die schwarzen Brüder» von Lisa Tetzner, «Die rote Zora» von Kurt Held oder als Jugendlicher «Papillon» von Henri Charrière gelesen hatte. Ich lese, weil ich wissen will, ob sie/er es schafft. Nur ist heute die Desillusionierung so stark, dass sich der Schmerz nicht verringern lässt angesichts der vielen Schicksale, die es nicht «schaffen». Ob «Kukolka» tröstet, bezweifle ich. Darf es nicht.

Lana Lux, geboren 1986 in Dnipropetrowsk/Ukraine, wanderte im Alter von zehn Jahren mit ihren Eltern als Kontingentflüchtling nach Deutschland aus. Sie machte Abitur und studierte zunächst Ernährungswissenschaften in Mönchengladbach. Später absolvierte sie eine Schauspielausbildung am Michael Tschechow Studio in Berlin. Seit 2010 lebt und arbeitet sie als Schauspielerin und Autorin in Berlin.

Titelfoto: Sandra Kottonau

… und ich freue mich noch immer über jede Stimme bei der Absimmung um den 1. Buchblog-Award, bei dem ich seit dem 1. September auf der Longlist stehe. Besuchen Sie die Webseite www.buchblog-award.de und klicken Sie für literaturblatt.ch. Vielen Dank!

Olga Grjasnowa «Gott ist nicht schüchtern», Aufbau

Ich las Olga Grjasnowas neuen Roman «Gott ist nicht schüchtern» mit heissem Kopf, einem fiebrigen Gefühl, als täte ich etwas Unrechtes. Was Olga Grjasnowa beschreibt, tut weh. Dieses Buch im Garten auf einer Liege zu lesen, ist beinahe unerträglich. Aber Olga Grjasnowa klagt nicht an, sondern beschreibt mit messerschafem Blick.

Soll Literatur bloss unterhalten? Hat Literatur eine Aufgabe? Muss sie wirken? Wer mit einem Buch ausspannen will, wer die harte Wirklichkeit vergessen will, wer austreten, ausschwärmen, abdriften will, der darf den Roman der jungen Olga Grjasnowa nicht lesen. «Gott ist nicht schüchtern» fährt ein, lässt nicht locker, nistet sich mit seinen intensiven Bildern in meinem Bewusstsein ein.

Olga Grjasnowa beschreibt eine Flucht, die Not, eine Heimat, ein Zuhause, ein Land, ein Leben, Menschen verlassen zu müssen, um in der Fremde neu beginnen zu können, immer in der Hoffnung, dereinst zurückkehren zu können. Olga Grjasnowa floh als Jugendliche selbst 1996 zusammen mit ihren Eltern aus Aserbaidschan und lebt heute mit ihrem Mann in Berlin. Ihr Mann floh aus Syrien und leitet das Exil-Ensemble des Gorki-Theaters in Berlin. Als in Damaskus der Arabische Frühling durchzubrechen schien, floh ihr Mann aus Syrien. Aus vielen Gesprächen mit ihrem Mann, mit Freunden und direkt Betroffenen baute sie ihre Geschichte, die Leben von Vertriebenen und einem Land, das zerrissen ist, in dem kaum jemand den immer brutaler werdenden Konflikt, den Krieg gegen ein willkürlich agierendes Regime kommen sah, über Menschen, die einst ein ganz normales Leben führten und sich mit einem Mal verloren sehen. Olga Grjasnowa recherchierte vor Ort, an unerträglichen Orten wie der türkischen Küstenstadt Izmir, in der das ganze Elend auf eine Reise weg aus dem Trauma hofft.

Olga Grjasnowa verwebt die Geschichten von Amal und Hammoudi. Amal wächst in Damaskus als Tochter eines reichen Vaters auf, Hammoudi in der Provinz. Amal wird Schauspielerin und träumt von der grossen Karriere, Hammoudi steht nach einem äusserst erfolgfreichen Studium der Medizin in Paris zusammen mit seiner Verlobten kurz davor. Bis in den Wirren des Arabischen Frühlings nichts mehr so ist, wie es einmal war.

Olga Grjasnowa schildert eindringlich, nie voyeuristisch. Ich spüre ihre Betroffenheit ebenso wie ihre Hilflosigkeit. Olga Grjasnowa gibt den Abertausenden, die sich nach Europa retten, ein Gesicht, ohne zu beschönigen, nie mit dem Mahnfinger. Ein wichtiges Stück Literatur!

Foto: René Fietzek

Olga Grjasnowa, geboren 1984 in Baku, Aserbaidschan. Längere Auslandsaufenthalte in Polen, Russland, Israel und der Türkei. Für ihren vielbeachteten Debütroman «Der Russe ist einer, der Birken liebt» wurde sie mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis und dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien 2014 „Die juristische Unschärfe einer Ehe“. Beide Romane erschienen beim Hanser Verlag und wurden für die Bühne dramatisiert. Olga Grjasnowa lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Olga Grjasnowa liest an den Solothurner Literaturtagen vom 26. bis 28. Mai 2017 aus ihrem Roman «Gott ist nicht schüchtern». Am Freitag, den 26. Mai beteiligt sich Olga Grjasnowa zusammen dem Schriftsteller Jonas Lüscher («Kraft», C.H. Beck) und dem SRF-Korrespondent Peter Voegeli an einer Podiumsdiskussion zum Thema «Die Macht der Geschichten». Moderiert wird die Diskussion von Hans Ulrich Probst, SRF-Literaturredaktor.

literaturblatt.ch fragt, Teil 7, Michèle Minelli antwortet.

Hoch über dem Thurtal mit weitem Blick auf die Alpenkette leben die Schriftsteller Michèle Minelli und Peter Höner in einem alten Bauernhaus, dass sie nicht nur für sich als Wohn- und Arbeitshaus benutzen, sondern dieses mit einem Coachingangebot für Schreibende zu einem Schreibhaus werden lassen. Michèle Minelli war bereits einmal Gast in Amriswil zu einer Hauslesung aus ihrem neusten Roman «Die Verlorene».

Peter Höner und Michèle Minelli
Peter Höner und Michèle Minelli

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was willst du mit deinem Schreiben? Ganz ehrlich!
Mich treibt die Dringlichkeit der Geschichte. Aber wenn ich genauer hinschaue, ist da in jeder Geschichte die Geschichte eines Bruchs, und wenn ich den Bruch anschaue, dann sehe ich, dass es das ist, was ich erzählen will. Wie Menschen mit Brüchen umgehen. Mag sein, dass eine Tiefenpsychologin darin etwas Spannendes sieht, über das sie schreiben würde mit der ihr eigenen Dringlichkeit. Mir reicht es, die Geschichte, angetrieben durch den Bruch, schreibend zu erfahren und erfahrbar zu machen.

Die authentische Geschichte der Frieda Keller. Ein Justizskandal. Als Friedas Dienstherr die Tür verriegelt und sich an sie drängt, ist sie verloren. Hinter ihr liegt eine unbeschwerte Kindheit im thurgauischen Bischofszell, vor ihr die jahrelange Schmach einer unerlaubten Mutterschaft. Im aufstrebenden St. Gallen kann sie in der Anonymität der Stadt untertauchen, das Kind hält sie vor allen in einer Kinderbewahranstalt versteckt. Weil der Junge dort aber nicht bleiben darf und sie nicht für ihn sorgen kann, ergreift allmählich ein düsterer Plan von ihr Besitz …
Die authentische Geschichte der Frieda Keller.
Ein Justizskandal:
Als Friedas Dienstherr die Tür verriegelt und sich an sie drängt, ist sie verloren. Hinter ihr liegt eine unbeschwerte Kindheit im thurgauischen Bischofszell, vor ihr die jahrelange Schmach einer unerlaubten Mutterschaft. Im aufstrebenden St. Gallen kann sie in der Anonymität der Stadt untertauchen, das Kind hält sie vor allen in einer Kinderbewahranstalt versteckt. Weil der Junge dort aber nicht bleiben darf und sie nicht für ihn sorgen kann, ergreift allmählich ein düsterer Plan von ihr Besitz …

Wo und wann liegen in deinem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen du dich fürchtest?
Für mich ist der schönste Moment, wenn ich die Schlussszene in einem Manuskript schreibe. Ich spare sie mir auf. Ich spare mir diesen Moment auf und will ihn mit viel Zeit geniessen. Den Schluss sehe ich wie auf einer Leinwand vor mir, auf den Schluss schreibe ich zu, und wenn er dann vor mir steht, ist da immer auch ein Moment voll Ehrfurcht, Atemlosigkeit.

Lässt du dich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Ja, ich höre Musik. Jedes Buch, das ich geschrieben habe, jede Geschichte, hat ein besonderes Lied. Ich lasse mir jeweils Zeit, es zu finden, bevor ich mit dem Schreiben beginne. Und wenn ich es habe, höre ich es in Endlosschlaufe im Hintergrund. Sobald ich also in mein Schreibzimmer gehe, mich hinsetze, den Tee neben mir, und diese Musik einschalte, weiss mein Gehirn: Aha, es geht wieder los! Und dann geht es los.

Inwiefern schärft dein Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
Ich glaube, ich denke klarer, wenn ich schreibe. Scharf genug?

Das Wohn- und Schreibhaus auf dem Iselisberg TG
Das Wohn- und Schreibhaus auf dem Iselisberg TG

Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibende mögen oder tust du aktiv etwas dafür/dagegen?
Wenn damit der Ort in meinem Inneren gemeint ist, an dem ich an mein entstehendes Werk glaube und nicht zweifle, dann ist dieser Ort tatsächlich keine Festhalle. Und doch gibt es Menschen, mit denen ich mich über das Schreiben austauschen kann, die an diesem Ort zugelassen sind, auch wenn die Dinge noch im Prozess sind; das sind dann eben gute Freunde, die wissen, wie man sich an einem solchen Ort benimmt. Das sind, wie ich: Schreibende, die das Schreiben als eine Mischung aus Zauber und Arbeit verstehen und genau wissen, dass Schreiben Bewegung ist, Prozess.
Das wäre eine erste Antwort.
Eine zweite lautet: Ja, diese Einsamkeit gibt es, es ist aber viel mehr ein Alleinsein mit sich und dem Text, denn eine Einsamkeit. Da ist keine Trauer, da ist nur Konzentration.

Zähl bitte drei Bücher auf, die dich prägten, die du vielleicht mehr als einmal gelesen hast und in deinen Regalen einen besonderen Platz haben?
Geprägt haben mich in meiner Jugend die Bücher von Jakob Wassermann («Christian Wahnschaffe» oder «Caspar Hauser» oder die Trilogie «Der Fall Mauritzius», «Etzel Andergast» und «Joseph Kerkovens dritte Existenz»; Joyce Carol Oates (einfach alles, was ich auf Deutsch oder Englisch in die Hände bekam)) und Philippe Djian mit seiner „Betty Blue“. Hin und wieder blättere ich in diesen Büchern auch heute noch und entdecke darin die Michèle von 15, von 17, von 20 Jahren.

headerMichèle Minelli, 1968 in Zürich geboren, ist dort Dozentin für kreatives Schreiben. Sie hat Dokumentarfilme gedreht, Sachbücher, eine Reisereportage und einen Roman veröffentlicht, bevor 2012 ihre grandiose Familiensaga «Die Ruhelosen» erschien. 2013 folgte der Kriminalroman «Wassergrab» Sie erhielt verschiedene Preise und Stipendien. Ihr neuer Roman «Die Verlorene» (2015) erzählt die authentische Geschichte der Frieda Keller, die 1904 in St. Gallen in einem aufsehenerregenden Justizskandal verurteilt wurde. Ebenfalls im Jahr 2015 veröffentlichte Michèle Minelli zusammen mit der Fotografin Anne Bürgisser beim Verlag Hier und Jetzt den Foto- und Textband «Kleine Freiheit» zu den Jenischen in der Schweiz.

Homepage von Michèle Minelli