Karl Rühmann «Die Wahrheit, vielleicht», rüffer & rub

Felipe ten Holt ist Dolmetscher. Ein Beruf zwischen den Wahrheiten. Er übersetzt, steht bei Gesprächen zwischen den Parteien, zwischen den Fronten. Felipe ten Holts Leben stand schon immer zwischen den Wahrheiten, zwischen den Welten. Karl Rühmann begibt sich in seinem neuen Roman „Die Wahrheit, vielleicht“ auf einen schmalen Grat.

Karl Rühmann liest am 26. Internationalen Literaturfestival Leukerbad

Überall, wo gesprochen wird, prallen Wahrheiten, verschiedene Realitäten aufeinander. Die beiden Pandemiejahre machten offensichtlich, das Wahrheiten völlig unterschiedlich, manchmal unvereinbar, in nichts deckungsgleich sein können. Gespräche in unterschiedlichen Sprachen. Wenn bei Gesprächen die Sprache an sich schon verschieden ist und man sich nur über DolmetscherInnen verständigen kann, wenn Parteien aufeinander stossen, deren Ziele, Absichten und Hoffnungen diametral auseinander liegen, dann wird Wahrheit zu einem flirrenden Etwas; unfassbar, kaum einzugrenzen.

Felipe ten Holt wuchs in einer Familie auf, in der Sprachen schon immer eine übergeordnete Rolle spielten. Muttersprache seiner Mutter war Spanisch, Vatersprache Deutsch. Felipe ten Holts Vater sprach mit ihm in einer Mischung aus Niederländisch und Deutsch. Wäre es nach dem Wunsch Felipes Mutter gegangen, hätte sie noch viel mehr Sprachen gelernt. Sprachen schienen so etwas wie Gewänder und Kleider, in denen man sich ganz anders bewegte. Aber die Geschichte der Mutter sollte nicht nach ihren Wünschen verlaufen. Pappie, ihr Mann, wurde eines Tages von der Polizei abgeholt und verschwand im Gefängnis. Die Gründe für das Verschwinden von Felipes Vater liess seine Mutter im Dunkeln. Das war nichts für einen kleinen, sensiblen Jungen.

Karl Rühmann «Die Wahrheit, vielleicht», rüffer & rub, 2022, 224 Seiten, CHF 26.00, ISBN 978-3-907351-00-0

In der ganz eigenen Welt seiner Mutter beginnt der junge Felipe Eigenheiten zu entwickeln, die er bis in sein Erwachsensein mitnehmen wird; seine Sehnsucht nach Klarheit und Ordnung, seine stetige Suche nach Zusammenhängen und Zuordnungen. Aber eine neue Bekanntschaft seiner Mutter zu einem Maler, die zu Beginn noch wie Liebe aussieht, bringt nicht nur das Leben von Felipe in einen Sturm aus Emotionen und Verunsicherung. So sehr der Neue Felipe als Störfaktor in seiner Beziehung sieht, so sehr ist Felipe überzeugt, das die Motive des Neuen an der Seite seiner Mutter keine redlichen sind. Es entbrennt ein Kampf um die Gunst der Mutter, ein Krieg verschiedener Wahrheiten. Bis die Situation eskaliert.

Sprachen werden auch Felipes Leidenschaft. Er studiert sie, wird dank seiner kombinatorischen Fähigkeiten zum Verhörspezialisten ausgebildet, bis ihn seine Reisen und Einsätze wieder zurück an jene Orte führen, aus denen er in seiner Jugend gerissen wurde. Felipe wird Dolmetscher, manchmal in Spitälern oder Schulen, manchmal bei Ämtern oder auf Polizeiposten. Felipe versucht sich tunlichst aus den Leben herauszuhalten, die an solchen Gesprächen teilnehmen, auch wenn er als ehemaliger Verhörspezialist genau spürt und aus den Formulierungen heraushört, dass sich die Wahrheit versteckt hält, dass man Lügen aufsitzt, man sich nicht versteht, obwohl Formulare ausgefüllt und Abmachungen festgelegt werden. 

Karl Rühmann schildert ein Leben, das sich im Dazwischen festgesetzt hat, eine Existenz, die schon in der Jugend erfahren musste, dass sich Wahrheit diametral spiegeln kann. „Die Wahrheit, vielleicht“ ist zum einen die Geschichte eines Mannes, der an den Spiegelungen der Wahrheiten zu zerbrechen droht und ein Roman über die Wahrheit selbst. Trägerin dieser Wahrheiten ist die Sprache. Und so sehr Verständigung unter Sprachen, selbst in der gleichen, schwierig bis unmöglich ist, so sehr verhält es sich mit den Wahrheiten selbst. Sprache suggeriert Eindeutigkeit. Aber so sehr Deutung und Interpretation das Gehörte und Gelesene erreichen können, so sehr kann die Suche nach Wahrheit zerreissen. Karl Rühmanns Protagonist hofft auf Strategie, Technik, nicht zuletzt auf die Psychologie, um irgendwann festzustellen, dass nicht einmal der eigenen Wahrnehmung, der eigenen Wahrheit zu trauen ist.

Karl Rühmann erzählt auf drei Ebenen. Szenen aus der Lebensgeschichte des Protagonisten sind verwoben mit Schilderungen verschiedenster Gesprächssituationen, in die Filipe ten Holt gerufen wird – und Auswertungsgesprächen zwischen ihm und seinem Ausbildner, als man im zum Verhörspezialisten machte. Alle drei Ebenen erzählen vom Kampf eines Mannes, sich aus fremden Geschichten heraushalten zu wollen. Ein Kampf, der letztlich nur zu verlieren ist. Ein Kampf, bei dem es keinen Trost gibt.

„Die Wahrheit, vielleicht“ ist keine leichte Kost, auch keine Geschichte, die klärt. Karl Rühmanns Roman ist die Aufforderung, sich mit seinem eigenen Sehen und Hören auseinanderzusetzen, sich diesem einen „Vielleicht“ auszusetzen!

Karl Rühmann wurde 1959 in Jugoslawien geboren und wuchs dort auf. Er studierte Germanistik, Hispanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft in Zagreb und Münster und war Sprachlehrer und Verlagslektor. Heute lebt er in Zürich als Literaturübersetzer und Autor von Romanen, Hörspielen und zahlreichen, international erfolgreichen Kinderbüchern. Sein Roman «Der Held» war nominiert für den Schweizer Buchpreis 2020. Für seinen ersten Roman «Glasmurmeln, ziegelrot» wurde Karl Rühmann 2015 mit dem Werkjahr der Stadt Zürich ausgezeichnet. Publikationen, die nicht bei rüffer&rub erschienen: «Der alte Wolf» (2019), «Eine wundersame Reise» (2018), «Komm mit zum Fluss» (2017), «Leseglück» (2015), «Wer bist denn du?» (2010) u. a.

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Beitragsbild © Franz Noser

«Was für ein besonderer Abend», Karl Rühmann mit der Schauspielerin Martina Schütze

Ein General und eine Frau. Ein Soldat und eine Mutter. Karl Rühmann, der 2020 mit seinem Roman «Der Held» auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises stand, performte zusammen mit der Schauspielerin Martina Schütze Passagen aus dem Roman, liess Literatur lebendig werden.

Hintergrund des Romans «Der Held» ist der Bosnienkrieg von 1992 bis 1995. Ein Krieg, dessen Ursprung und Verlauf für viele in vielen Belangen undurchsichtig ist, weil er nicht in Vorstellungen passt. In der Vorstellung, dass Kriege immer solche sind von Angreifern und Angegriffenen, Guten und Bösen, Tätern und Opfern. Die Tatsache, dass in diesem Roman diese Unterscheidung ebenso unmöglich wird, unterstreicht die Verwirrung, die dieser Roman auslösen kann.

General Morodan ist «Der Held», freigesprochen vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Ein Held für sein Volk, sein Land, sein Dorf, die Veteranen seiner Armee. Oberst Bartok ist kein Held, zumindest kein offizieller, nicht freigesprochen, im Gegenteil aller Wahrscheinlichkeit nach ein Verurteilter. Schuldig – unschuldig nach der Rechtssprechung ist ganz etwas anderes als schuldig – unschuldig vor sich selbst und den Mitmenschen.
General Morodan und Oberst Bartok sind beide Insassen dieses Gefängnisses, warten auf ihren Prozess. Sie begegnen sich auf dem Gefängnishof, korrespondieren brieflich, auch nach der Freilassung des Generals. Sie korrespondieren in einer Art und Weise, dass ihnen die Zensur nicht zu Leibe rücken kann, weder dem einen in seiner Freiheit noch dem andern im Gefängnis. Diese Briefe deuten an, verschlüsseln vieles.
Ana, die Haushälterin des Generals ist die eigentliche Erzählstimme im Roman, einem Briefroman zwischen General und Oberst, Freigesprochenem und Verurteiltem. Ana richtet ihre Stimme an ihren toten Mann, einem «gefallenen» Soldaten, der auf der Seite des Generals kämpfte und nicht überlebte. Ana liest als Haushälterin heimlich die Briefe zwischen General und Oberst in der Hoffnung hinter das Geheimnis um den Tod ihres Mannes zu kommen. 

Martina Schütze, Schauspielerin und Bilderbuchautotin

So sassen Schriftsteller und Schauspielerin voneinander abgewandt auf der Bühne, der General und Ana, tauchten ein in Leben, in Rechtfertigung und Schmerz, beide auf der Suche nach ihrer Wahrheit. Dass eine Schauspielerin in eine solche Rolle schlüpfen kann, scheint selbstverständlich. Dass ein Schriftsteller derart überzeugend in die Haut seines Protagonisten schlüpfen kann, ist ausserordentlich. So war es auch nicht erstaunlich, dass man gebannt den beiden Akteueren zuhörte, erst recht, als sie selbst für Fragen in ihren Rollen blieben.

«Die Lesung klingt noch nach, die Fragen über die Wahrheit schwirren noch im Kopf umher. Mir hat das Konzept sehr gut gefallen, gern würde ich es weiterziehen. Wie wertvoll wäre das für Schulklassen.» Martina Schütze 

«Was für ein besonderer Abend: Eine szenische Lesung im Bodmanhaus mit der wunderbaren Martina Schütze. Danke, Gallus, für die Gelegenheit, ein etwas anders geartetes Programm zu wagen, und auch für deine klugen Fragen, die unser Gespräch beflügelt haben. Das Bodmanhaus ist ein besonderer Ort und ein grossartiges Zuhause für Geschichten und für die Fantasie.» Karl Rühmann

Karl Rühmann, Illustration von Lea Frei / leafrei.com

Rezension von «Der Held»

«Der alte Wolf»

Rezension «Glasmurmeln, ziegelrot»

«Ich pass von oben auf dich auf» von Martina Schütze, Herder Verlag

Karl Rühmann «Der Held», rüffer und rub #SchweizerBuchpreis 20/7

Zwei Soldaten lernen sich im Gefängnis von Scheveningen kennen. Beiden wird nach dem Bosnienkrieg vor dem Den Haager Tribunal, dem Internationalen Gerichtshof der Prozess gemacht. Auf den Spaziergängen im Gefängnishof werden aus den ehemaligen Frontgegnern „Freunde“. Freunde, weil der neue Gegner eine drohende Verurteilung ist, das Urteil „schuldig“ oder „nicht schuldig“.

Erstaunlich ist vieles an diesem Roman und die Tatsache, dass er es auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises schaffte. „Der Held“ ist nicht einfach ein Roman über die Auswirkungen eines Krieges. Karl Rühmann taucht so sehr in die Szenerie dieses Krieges, seiner Verwicklungen und Verwirrungen hinein, wie es nach blosser Recherche kaum möglich ist. Zum einen hat der Autor stundenlang die Verhörvideos des Den Haager Tribunals studiert, zum andern war Karl Rühmann selbst Soldat der jugoslawischen Volksarmee, selbst von diesem Wahnsinn betroffen. Karl Rühmann macht den Krieg aber nicht einfach zu einer spektakulären Kulisse einer explosiven Geschichte. Karl Rühmann geht es um die grossen Themen des Lebens; um Schuld, Vergebung, die Last der Vergangenheit, Verantwortung und das Gewissen. Grosse Themen, an denen man leicht scheitern könnte und die in der Schweizer Literatur nur selten in dieser Direktheit angegangen werden. Aber Karl Rühmann schafft es, mich mitten in die Fragestellungen hineinzuziehen, liefert keine Antworten, aber Stoff genug, um meine festgefahrenen Meinungen aufzuweichen.

Nach Jahren des Wartens, der Verteidigung, nach einem Gefecht der Worte kommt General Modoran frei und kehrt als Held in sein Land, sein Dorf zurück, vom Gericht freigesprochen, von seinem Volk gefeiert, zurück zu seinem Haus, seiner Linde im Garten, wo er hofft, nach der langen Zeit des Ausfechtens Ruhe zu finden. Ganz im Gegensatz zu seinem Zellennachbarn in Scheveningen, Oberst Bartok, der weiss, dass er auf einen negativen Schuldspruch warten muss. Nachdem sie über Jahre in Gesprächen von Feinden zu Soldatenfreunden wurden, schreiben sie sich weiter Briefe, der eine aus der Zelle, der andere von seinem langen Tisch im Garten unter der Linde.

«Die einzige Wahrheit liegt im Erzählen.»

Karl Rühmann «Der Held», rüffer & rub, 2020, 260 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-906304-63-2

Ana Tironi wohnt mit ihrem zwölfjährigen Sohn im gleichen Dorf wie der General. Sie verlor, als ihr Sohn noch klein war, ihren Mann im Krieg, in eben jenem Krieg, in dem sich jener Oberst und der General als Strategen und Befehlende gegenüberstanden. Ana ist die Zurückgebliebene, die Verlassene, die Verwundete. Was sie vom Tod ihres Mannes weiss, reicht nicht zum ganz eigenen Frieden, schon gar nicht für die bohrenden Fragen ihres Sohnes. Sie wird Haushälterin im Haus des Generals und beginnt in unbeobachteten Momenten in den Briefen zwischen Oberst und General zu lesen.

„Der Held“ ist ein Briefroman. Zum einen ein buchlanger Brief Anas an ihren Mann, von dem es heisst, er hätte in Gefangenschaft Suizid begangen, und das Protokoll der Briefe zwischen den beiden Soldaten.

Die beiden Soldaten bringt eine Schicksalsgemeinschaft einander nahe, das gemeinsame Warten auf ein Urteil, das gegenseitige Verstehen, weil man Soldat war, in erster Linie Soldat und erst hernach mehr oder weniger Mensch. In ihren Briefen geht es wie im Krieg um die Position, den Blick auf das grosse Ganze, um Funktionen, die aus den einen Verlierer und den andern Helden machen. Im Gegensatz zu den beiden Männern, die Unversehrte zu bleiben scheinen, ist Ana eine Versehrte, ein Opfer, jene die man in der Strategie der Soldaten nicht einmal zu den Verlusten zählt. Eine Frau, um die sich kein Gericht bemüht, der man Antworten verweigert, Antworten, die sie für sich und ihren Sohn braucht.

«Ich weiss so wenig, und deshalb halte ich mich an Geschichten.»

Karl Rühmann will nicht erklären, kein Insiderwissen verkaufen. Das Buch bleibt schwer greifbar, lässt mich als Leser in der Schwebe, genau das, was ein solcher Krieg und seine Auswirkungen auch tut. Leichte Erklärungen kann es keine geben. Ein überraschend starkes Stück Literatur, das in erstaunlich poetischen Sätzen und Momenten den Gegensatz zwischen Strategie und Emotion nur noch verstärkt. Dass die Jury des Schweizer Buchpreises diesen Roman und damit den Schriftsteller Karl Rühmann aufs Podest hievt, ist die Überraschung dieses Jahrgangs. Eine Überraschung, die es in sich hat!

Karl Rühmann (Mladen Jandrlic) wurde 1959 in Jugoslawien geboren und wuchs dort auf. Er studierte Germanistik, Hispanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft in Zagreb und Münster und war Sprachlehrer und Verlagslektor. Seit 2006 lebt er in Zürich als Literaturübersetzer und Autor von Romanen, Hörspielen und zahlreichen, international erfolgreichen Kinderbüchern. Für den Roman «Glasmurmeln, ziegelrot» wurde Karl Rühmann 2015 mit dem Werkjahr der Stadt Zürich ausgezeichnet, für das Manuskript von «Der Held» erhielt er den Werkbeitrag des Kanton Zürichs.

Rezension von «Glasmurmeln, ziegelrot» auf literaturblatt.ch

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Illustrationen © leafrei.com

Die Shortlist ist da! #SchweizerBuchpreis 20/2

Die Mischung hätte illustrer nicht sein können. Eine Mischung, die es in sich hat. Charles Lewinsky gehört seit Jahrzehnten zu den Grossen im deutschsprachigen Literaturhimmel. Die Ostschweizerinnen Dorothee Elmiger und Anna Stern zählen noch immer zu den Geheimtipps. Tom Kummer weiss sich zu inszenieren, nicht erst seit dem Klagenfurter Wettlesen. Und Karl Rühmann? Karl Rühmann ist die Überraschung!

© Lea Frei

Charles Lewinsky «Der Halbhart», Diogenes
Charles Lewinsky ist das Schwergewicht unter den Nominierten. Nur schon deshalb, weil er bereits zweimal unter den Nominierten zum Schweizer Buchpreis sass: 2011 mit seinem Roman «Gerron» und 2016 mit dem Roman «Andersen». Auch im Wettbewerb zum Deutschen Buchpreis stand und steht sein Name schon auf der Liste. Aber ein Wettbewerb soll überraschen! Charles Lewinsky ist einer der Namen, den man längst für seine literarischen Verdienste hätte adeln sollen. Wäre ich König, hätte ich dem Schriftsteller, Drehbuch-, Theater- und Hörspielautor, Musical- und Songtexter schon längst für sein Lebenswerk den Titel «Sir» verliehen. Charles Lewinsky ist eine Grossmacht, ein Tausendsassa, ein Schriftsteller, der sich stets neu erfindet.
Rezension von «Der Stotterer» (2019) auf literaturblatt.ch

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Dorothee Elmiger «Aus der Zuckerfabrik», Hanser
Dorothee Elmigers neues Buch ist kein Roman. Dorothee Elmiger versucht mit «Aus der Zuckerfabrik» die Welt zu verstehen, nimmt mich mit ihrem Buch mit auf ihre Kopfreise in die Tiefen des Denkens. Mit ihrem dritten Buch erscheint sie zusammen mit Charles Lewinsky nicht nur auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises, sondern auch auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2020. Erinnern wir uns an «Tauben fliegen auf» der Schweizerin Melinda Nadj Abonji. 2010 gewann sie mit ihrem zweiten Roman sowohl den Deutschen wie den Schweizer Buchpreis. Und Dorothee Elmiger hätte mit Sicherheit das Zeug dazu, es Melinda Nadj Abonji gleich zu tun. «Elmiger ist Dichterin, Historikerin, Analytikerin, Theoretikerin und begnadete Erzählerin in einem», schreibt die Presse.

© Lea Frei

Anna Stern «das alles hier, jetzt», Elster & Salis
Anna Stern, Umweltnaturwissenschaftlerin und Autorin, schreibt sich mit jedem neu erscheinenden Buch tiefer, höher, prägnanter in die Szene. Anna Stern stellt die grossen Fragen der Zeit und die ewig grossen Fragen des Menschseins, experimentiert mit ihrem Schreiben, verbindet in ihren Büchern die verschiedensten Sparten der Kunst. Sie schreibt kompromisslos und wer Anna Stern schon einmal lesend und argumentierend erlebt hat, weiss, was es heisst, ganz für eine Sache einzustehen. Es ist längst Zeit, dass Anna Stern einen grossen Preis für ihr Schreiben verliehen bekommt. Es ist längst Zeit, dass man Anna Stern den Platz einräumt, der ihr gebührt.
Rezension von «Wild wie die Wellen des Meeres» (2018) auf literaturblatt.ch

© Lea Frei

Tom Kummer «Von schlechten Eltern», Tropen
Tom Kummer – ein bunter Vogel, der weiss, wie Geschichten erzählt werden müssen, nicht nur weil er einst die Hollywoodstories fürs Schweizer Publikum aufbereitete, weil er ein ausgezeichneter Journalist ist, sondern weil er in seinem Schreiben zeigt, dass Dichtung und Wahrheit nicht in zwei verschiedenen Schubladen gebettet liegen. Das eine mischt sich mit dem andern, unweigerlich, ob man es wahrhaben (wieder so ein Wort) will oder nicht. Sein neuer Roman «Von schlechten Eltern», von den einen gefeiert, von den andern mit Distanz quittiert (wie könnte es bei Tom Kummer anders sein). Tom Kummers Protagonist in seinem Roman ist ein VIP-Chauffeur, der vom Flughafen nach Bern oder Zürich fährt, ein Geschichtensammler, der noch viel mehr mit sich herumschleppt, alles zwischen Himmel und Hölle.

© Lea Frei

Karl Rühmann «Der Held», rüffer & rub
Und Karl Rühmann? Kennen sie Karl Rühmann? Karl Rühmann schrieb vor zwei Jahren den Roman «Glasmurmeln, ziegelrot», ein wunderbares Buch, das in der Öffentlichkeit niemals jene Aufmerksamkeit erreichte, die der Roman verdient hätte. Dass Karl Rühmann unter den Nominierten ist, freut mich ungemein. Und ich stelle mir seine Überraschung mit grösstem Vergnügen vor, die ihn heimsuchen wird, wenn er von seiner Nominierung erfährt! Lesen sie seinen Roman «Der Held» aus dem Verlag rüffer & rub, einem Verlag, in dem Karl Rühmann fast das ganze literarische Programm ausmacht. Ein Roman, der aus dem Internationalen Tribunal in Den Haag eine literarische Bühne macht – existenziell!
ein Interview mit Karl Rühmann auf der Verlagsseite
Rezension von «Glasmurmeln, ziegelrot» auf literaturblatt.ch

Ich bin von der Shortlist beeindruckt. Sie ist listengewordener Mut! Der Beweis dafür, wie vielfältig die Schweizer Literatur sein kann – und angesichts all derer, die sich nicht auf der Liste finden, aber das Zeug dazu absolut hätten, ein starker Jahrgang!

Illustrationen © leafrei.com

Karl Rühmann «Der alte Wolf»

Der Wolf entdeckte sie jedes Mal, lange bevor sie ihn sahen. Listig sind sie nicht, dachte er. Aber beharrlich.

Der Wald war sein Zuhause, er kannte Pfade, die andere für Dickicht hielten, und er wusste um Höhlen, die einem auch dann verborgen blieben, wenn man dicht davorstand.

Seine Verfolger hatten Hunde, die sich begierig auf jeden verdächtigen Duft stürzten und dann geifernd an ihren kurzen Leinen zerrten. Immer wieder musste der Wolf falsche Spuren legen. Er tat das mit Geschick und Gelassenheit. Aber er spürte deutlich, wie sehr ihn die Flucht ermüdete. Sein Fell wurde schütterer, sein Atem kürzer, seine Beine wurden schwerer.

Er verkroch sich unter die tiefen Äste einer Tanne und sah zu, wie seine Verfolger in die Irre stolperten. Wenn er nach ihnen spähte, brauchten seine Augen länger, um den Unterschied zwischen Jägern und Wanderern auszumachen.

Der Wolf empfand immer weniger Lust, die vertrauten Verstecke zu verlassen und neue zu suchen. Die Erschöpfung kroch an ihm hoch, legte sich auf seinen Rücken und drückte ihn Tag für Tag unerbittlicher auf den weichen Waldboden.

Ich muss weg von hier, sagte er sich. Irgendwohin, wo ich mich nicht mehr verstecken muss. An einen Ort, an dem Güte stärker ist als Niedertracht.

Er streckte sich, heulte ein letztes Mal auf und lief los.

Der Wolf wanderte viele Tage. Er erklomm dicht bewachsene Hänge, rutschte durchs tiefe Laub Böschungen hinab, und wenn ein Fluss sich ihm in den Weg stellte, suchte er nach Untiefen. Er überquerte sie, ohne sich umzusehen.

Der alte Wolf kam an eine Schlucht, ihre Wände fielen steil hinab. Doch er fand für jeden seiner Schritte einen Felsvorsprung, gerade breit genug für seine Pfoten. Unten überließ er sich kurz seiner Erschöpfung. Aber als das Mondlicht durch einen Felsspalt auf ihn fiel, sprang er auf und lief weiter.

Als er an einen großen See kam, hob er die Schnauze und versuchte, das andere Ufer zu erschnuppern. Der Duft war ein blasser Hauch, schwach und fremd, er franste immer wieder aus und seine Fäden verfingen sich im Schilf. Der See muss sehr groß sein, dachte der Wolf.

Dann sprang er.

(Der Text ist auch ein gleichnamiges Bilderbuch, erschienen im Jungbrunnen Verlag.)

Karl Rühmannverbrachte seine Kindheit in Jugoslawien. Er studierte Germanistik, Hispanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft in Zagreb und Münster, unterrichtete Deutsch und Spanisch in Skanderborg in Dänemark, wechselte in die Verlagswelt und arbeitete als Lektor und Lizenzmanager. Seit 2006 lebt er als freier Lektor, Literaturübersetzer und Autor in Zürich. Seine Kinderbücher sind in viele Sprachen übersetzt worden. Für den Roman «Glasmurmeln, ziegelrot» (Rüffer & Rub) erhielt er ein Werkjahr-Stipendium der Stadt Zürich.

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