David Vann «Momentum», Hanser Berlin

Schon eines seiner ersten Bücher „Legend of a Suicide“ (Im Schatten des Vaters, Suhrkamp, 2011) drehte sich thematisch um die Selbsttötung seines Vaters. Sein neuster Roman „Momentum“ (engl. Halibut on the moon) ist ein schmerzhafter Roadtripp zweier Brüder. Der eine gelähmt durch seine Hilflosigkeit, der andere zerfressen von einem Schmerz, der ihn von allem wegreisst und unaufhörlich auf ein selbstzerstörerisches Ende zutreibt.

Ich fragte einen Freund, ob er in diesen Zeiten ein aussergewöhnliches Buch gelesen habe. Er zögerte keinen Augenblick und nannte „Momentum“ von David Vann. Er musste den Namen buchstabieren, hatte ihn noch nie gehört, obwohl ich im Nachhinein feststellen musste, dass Suhrkamp ein halbes Dutzend Bücher dieses Autors preist, die alle an meiner Wahrnehmung vorbeigingen. Ein Versäumnis!

Jim wird an einem Flughafen in San Francisco von seinem jüngeren Bruder Gary abgeholt. Gary, dessen Bruder für ihn lange sein grosser Bruder, sein Vorbild war, wird vom kleinen Bruder zum Beschützer, zum Behüter seines Bruders. Jim ist Ende dreissig und schwer depressiv. In der halbvollen Ledertasche, die er von Alaska mitgebracht hat, liegt ganz unten eine 44er Ruger Magnum und in seinem Koffer die dazugehörige Munition. Dr. Brown, der Jim Medikamente verschreibt, warnt, dass diese erst nach zwei Wochen zu wirken beginnen und man Jim auf keinen Fall alleine lassen dürfe, weder am Tag noch in der Nacht.

„Du bist wie ein Kompass neben einem Magneten.“

So fährt Gary am Steuer seines Pick-ups, neben ihm sein Bruder. Gary will seinen Bruder zurück und Jim steuert entschlossen auf den von ihm bestimmten Endpunkt seines Lebens entgegen. Für ihn gibt es nichts zu retten, schon gar nicht sein beschissenes Leben, ein Leben, das ausser Kontrolle geraten ist, das ihn hin- und herschlägt von überbordender Euphorie in abgrundtiefe Depression. Das einzige, was ihm Sicherheit gibt, ist die Knarre in seinem Gepäck und die Gewissheit, dass sie ihn in einem einzigen kontrollierten Moment aus dem permanenten Schmerz wegreissen kann, für immer befreien.

David Vann «Momentum», Hanser Berlin, 2020, 304 Seiten, 35.90 CHF, ISBN 978-3-446-26594-3

Jim, der in der Schule zu den Besten gehörte, wie sein Vater Zahnarzt wurde und einen Haufen Geld verdiente, zweimal verheiratet war, zwei Kinder hat und nichts lieber tat, als mit seinem Bruder zu jagen, hat allen Halt verloren, alle Sicherheit, jede Hoffnung. Er stellt alles in Frage, stellt dauernd Fragen, die jene, die ganz in der Gegenwart zu leben versuchen, gar nie stellen, sich gar nie zu stellen trauen. Jim reisst alle Fassaden, alle Kulissen nieder. Selbst als er seine Ex noch einmal besucht und einen Ausflug mit seinen beiden Kindern zu machen versucht, endet alles im Fiasko von Fragen, überbordender Reaktionen und der Hilflosigkeit aller Beteiligten. Unversöhnliche Gegensätze zerschmettern das wenige, das geblieben ist, da der fatalistische Frontalangriff auf alles, dort die immer gleichen religiösen und konformistischen Litaneien. Jim kann nicht mehr. Das Theater seines Lebens formiert sich zu einem finalen Ende.

„Wir kommen nirgends hin und entkommen auch nicht meiner Zukunft.“

Gary und Jim fahren zu ihren Eltern, beide alt geworden, müde vom Leben. Irgendwann sitzen sich Jim und sein Vater im Halbdunkeln gegenüber. Beide verstehen nicht. Bis der Vater sagt: „Alles ist ein Haufen Scheisse. Das ganze Leben. Nichts ist so, wie es sein sollte.“ Jim kann nicht fassen, dass sein Vater für einen kurzen Moment sein Versteck verlässt. Und doch ist Jim unrettbar verloren, die Fahrt mit seinem Bruder eine Fahrt auf den Abgrund zu.

Zugegeben, es tut weh. Erst recht, wenn einem bewusst wird, dass der Autor Jims Sohn den Namen David gegeben hat, etwas von seinem eigenen Leben erzählt, der Depression, dem Suizid seines Vaters. Wenn David die Szenen mit Jims Kindern schildert, die Ausweglosigkeit, die Verzweiflung des Bruders, die Ratlosigkeit einer ganzen Familie, dann wird deutlich, wie tief das Leiden, wie gross die Verzweiflung war.
Und doch braucht es solche Bücher, die an Fassaden und Kulissen reissen, die Fragen stellen, die sonst nicht gestellt werden, existenzielle Fragen über Sinn und Erlösung, über Wahrheiten und Liebe. David Vann tut es mit seinem Buch unmittelbar. Wer während der Lektüre nur ein Fünkchen Selbstreflexion zulässt, wird das Buch nicht atemlos lesen können, wird es weglegen müssen, weil sich Eigenes aufdrängt. Was will Literatur mehr!

© Mathieu Bourgois Agency

David Vann wurde 1966 auf Adak Island/Alaska geboren. Seine Romane sind vielfach preisgekrönt und erscheinen in 22 Ländern. David Vann lebt in Neuseeland und ist derzeit Professor an der University of Warwick in England.

Der Übersetzer Cornelius Reiber, 1963, studierte Germanistik, Geschichte und Kulturwissenschaften in Köln, Berlin und Princeton und lebt in Berlin. Daneben lehrt er gelegentlich an der Universität Basel. Zuletzt übersetzte er Bücher von Forrest Leo, Paul Theroux sowie einen Gesprächsband mit David Bowie.

Webseite des Autors