Janna Steenfatt «Die Überflüssigkeit der Dinge», Hoffmann und Campe

Reduziert man die Dinge, die einem ein Leben lang umtreiben, auf das Wesentliche, bleibt wenig, auch wenn das zuweilen viel ist. Aber wahrscheinlich beschäftigt man sich zu gerne mit den überflüssigen Dingen, die trotz aller Einsicht oben aufschwimmen und die Sicht auf all das verbergen, was die Verdrängung, die schiere Menge der Dinge, die einem umtreiben, ausmacht. Janna Steenfatt hat mit ihrem Debüt einen erstaunlich reifen Roman geschrieben, auch wenn der Titel sperrig tönt.

Inas Mutter ist mit ihrem Auto gegen einen Baum gefahren. Alles spricht dafür, dass sie es aus Absicht tat. Ein mässig theatraler Abgang aus einem Theaterleben mit mässigem Erfolg. Inas Mutter hatte an den grossen Bühnen Deutschlands gespielt. Aber irgendwann dünnten die Verpflichtungen aus, die Rollen wurden immer unbedeutender. Und als sie ganz ausblieben, wurde der Rausch der Bühne durch den des Alkohols ersetzt. Das Leben ihrer Mutter verlor sich, so wie sie sich mit ihrem Selbstunfall ausradierte. Nicht das der Tod der Mutter Ina in eine Krise gerissen hätte, dafür hatten sie sich schon lange zuvor verloren. Aber ihr Tod und alles, was sie mit ihm mitgenommen hatte, all die Fragen, die nie eine Antwort bekamen, zwingen Ina, sich mit dem Unvermeidlichen auseinanderzusetzen, auch wenn Falk, ihr Mitbewohner fast alles regelt, was mit dem plötzlichen Sterben Inas Mutter anfällt.

„… das Warten auf das richtige Leben machte bereits der unguten Ahnung Platz, dass es das hier tatsächlich schon sein sollte.“

Janna Steenfatt «Die Überflüssigkeit der Dinge», Hoffmann und Campe, 2020, 240 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-455-00831-9

Ina studierte Germanistik und Philosophie. Aber daraus wurde nie wirklich etwas, so wie sich bei ihrer Mutter das verflüchtigte, was vielversprechend begonnen hatte, ein Dasein als erfolgreiche Schauspielerin. Das Leben Inas Mutter dümpelt im Alkohol weiter, das Leben Inas in Unentschlossenheit. Bis sie in der Hinterlassenschaft ihrer Mutter Spuren ihres Vaters findet.
Und als eben dieser Mann zurück nach Hamburg kommen soll, um am Theater Shakespeares Sommernachtstraum zu inszenieren, wird klar, dass Ina ihr Leben nur weiterführen kann, wenn sie sich nicht nur dem Vater stellt, sondern ihrem im gemässigten Unglück eingerichteten Leben. Ina schafft es, in der Theaterkantine einen Aushilfsjob zu ergattern, auch wenn diese Arbeit nur Vorwand ist, ein Versteck, um „den richtigen Moment“ zu erwischen. Noch so ein Moment, der Ina zu entwischen droht.

„Ich dachte darüber nach, dass man andauernd etwas Neues, Aufregendes wollte, aber dann war das nach kurzer Zeit nicht mehr neu und aufregend, sondern normal, und dann wollte man wieder etwas anderes. Und immer weiter so.“

Am Theater lernt Ina die Schauspielerin Paula kennen, die in dem von ihrem Vater inszenierten Stück den Puck spielt, eine schelmische Fee. Zwischen Ina und Paula wächst eine Liebe, etwas was mit anderen zuvor nie entstehen wollte. Paula wird zu einem Puck in Inas Leben, bringt Inas Leben aus dem Zustand des permanenten Wartens. Aber so wie die vor Wolf Eschenbach dem Regisseur, den Menschen um sie herum, nicht einmal Falk, mit dem sie schon so lange die WG teilt und auch nicht bei Paula preisgibt, wonach sie wirklich sucht, kulminiert in Janna Steenfatt Roman alles auf den einen, unausweichlichen Punkt hin.

„… ich wusste damals noch nicht, dass sich nie etwas ergab, in diesem Rohrkrepiererleben.“

„Die Überflüssigkeit der Dinge“ ist eine Suche nach der Herkunft. Darüber, was bleibt, was bleiben soll, wenn ein Mensch stirbt. Was bedeutet Mutter- und Vaterschaft? Was passiert, wenn Verbindungen wissentlich gekappt werden? Heilt die Zeit Wunden wirklich? Gibt es Fragen, die man unbeantwortet stehen lassen kann?
Aber „Die Überflüssigkeit der Dinge“ ist auch ein Theaterroman, ein Roman, der sich das Theater und den ganz eigenen Kosmos mit aller Selbstverständlichkeit zur Kulisse macht. Für einmal ein Theaterroman nicht über die hausinternen Frustrationen und Intrigen. Janna Steenfatt beschreibt einen Kampf. Und selbst wenn dieser Kampf autobiographische Züge hätte, schafft es die Autorin, mit kluger Distanz zu erzählen. Ich hätte es dem Roman gegönnt, wenn der Titel nicht durch den sperrigen Genitiv verzerrt worden wäre, denn Janna Steenfatt erzählt direkt, gradlinig und frech. Von diesen Eigenschaften des Romans verspricht der Titel nichts.

„Alles, was ich tat, führte dazu herauszufinden, was ich nicht wollte, aber ich dachte, dass auf diese Weise immerhin irgendwann einmal das, was ich wollen könnte, übrig bleiben müsse.“

Eintauchen und lesen!

Interview mit Janna Steenfatt:

Ina verliebt sich in Paula. Paula spielt in der Inszenierung von Shakespeares Sommernachtstraum den Puck, ein buntes, rätselhaftes Fabelwesen, „wild und schön und nicht von dieser Welt“. Sie kommen sich sehr nahe; doch je näher, desto mehr entschwindet Paula. Ist das Entschwinden wirklich Resultat eines Verrats oder nicht viel mehr das Resultat von Unfähigkeiten?
Ich würde sagen: ein Verrat ist immer ein solcher, wenn die verratene Person ihn als solchen empfindet. Und das tut Ina. Natürlich sind Unfähigkeiten – sich zu artikulieren, sich zu zeigen, miteinander zu kommunizieren – die Grundproblematiken meiner Figuren. Das Wort Verrat im Klappentext ist natürlich ein sehr starkes und kommt im Übrigen von meiner Lektorin, nicht von mir.

Inas Mutter stirbt. Und doch hat Ina ihre Mutter damit nicht verloren. Das Verlieren hat schon viel früher begonnen. Ina verliert auch den Vater, verliert die Orientierung, Freundschaft, die Liebe, fast alles. Und trotzdem schildern sie Ina nicht als Geschundene, Verletzte, Verlorene. Ina strahlt Kraft aus, obwohl ihr Leben fast nur aus Warten besteht, dem Warten darauf, dass sich Dinge ergeben. Ist Leben Verlust, wenn man zurückschaut und Gewinn, wenn man die Hoffnung nicht verliert?
Ich glaube, das Leben ist keine Kosten-Nutzen-Rechnung und lässt sich somit nicht so leicht in Verlust und Gewinn unterteilen. Aus Verlusten kann Gewinn entstehen und zurückschauen sollte man vielleicht trotzdem ab und an, um die Dinge klarer zu sehen. Es kommt nur darauf an, wie man es tut und nicht auf alle Fragen gibt es Antworten. Was Ina auf ihrer Suche lernen muss: die Dinge gutsein lassen. Die Hoffnung nicht zu verlieren ist dabei die Grundvorraussetzung, überhaupt am Leben zu sein.

Wolf Eschenbach, Inas Vater, hat sich vor Jahrzehnten aus dem Staub gemacht. Und Inas Mutter hat sich den Annäherungsversuchen Inas Vaters verschlossen. Heiner, der Koch aus der Theaterkantine sagt: „Es gibt Dinge, die kann man nicht wiedergutmachen.“ Etwas, was Ina auch gar nicht will. Aber ist es die Absicht, Ordnung zu machen? Nicht Ordnung in die Umstände, aber Ordnung in ihr selbst. 
Ja, ich glaube schon. Das hat auch mit Erwachsenwerden zu tun, damit, die eigene Geschichte zu begreifen und sich nicht als das Opfer der Umstände zu sehen. Ina will letztlich ihren Frieden machen, denn für eine direkte Konfrontation mit der Mutter ist es zu spät, also bleibt nur der Vater.

Ina verrät, das sie noch nie zu jemandem „Ich liebe dich“ gesagt habe. In der Schweiz ist dieser Satz noch viel fremder. Eigentlich ein Satz, der nur in Schrift und Bild vorkommt. Doch eigenartig, wo sich dermassen viel Leben um diesen Satz dreht? 
Das habe ich schon mal gehört, dass man diesen Satz in der Schweiz eigentlich gar nicht sagt. Ich finde das schade. Es ist so ein gewaltiger Satz. Er ist natürlich auch beängstigend, die Worte wiegen so stark im Deutschen, anders als beispielsweise im Englischen, wo dieser Satz etwas inflationärer gebraucht wird, nicht nur in romantischen Beziehungen. Ich weiss gar nicht, wie diese Stelle in einer Übersetzung funktionieren würde.

Für ein ganzes Stück in Inas Leben reichte ein Auskommen, genug Schlaf, etwas Sex und Gin Tonic. Was braucht Janna Steenfatt? 
Ebenfalls diese vier Dinge! Plus Inspiration, Liebe, Sonne, Wind, Bücher, Filme, Musik und gutes Essen.

Janna Steenfatt, geboren 1982 in Hamburg, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und arbeitet als freie Autorin und Moderatorin für verschiedene Filmfestivals. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, Teilnehmerin des 19. Open Mike und erhielt zahlreiche Aufenthaltsstipendien. Die Überflüssigkeit der Dinge ist ihr erster Roman.

Beitragsbild © Sascha Kokott