«Du wirst nie wissen, was Kunst ist. Manchmal ist sie eine Luke zur Welt, manchmal ein Ausweg. Und manchmal ist sie einfach nur eine grosse Lüge»

Lieber Gallus

Soeben habe ich Jens Steiners «Die Ränder der Welt» fertiggelesen.

«Dieses Ich, so nah und unausweichlich. Du kannst dich nicht daran vorbeilügen, du bist ich, und so stehe ich jetzt auf von meinem Stein, drehe mich um und blicke zurück aufs Land»

Zurückblicken auf ein Leben vor der letzten entscheidenden Begegnung mit seinem Freund: Ich bin tief berührt, begeistert, nachdenklich und angeregt nach dieser Lektüre. Mit anderen Worten: Ich lege diese eindrückliche Suche, dieses Werk voll Liebe und Leiden, Verzweiflung und auch Versöhnung, voller Fragen nach dem Sinn des Lebens, auch der Kunst, bereichert und glücklich zur Seite. Eine klare, sehr bildhafte Sprache mit Witz und Humor zeichnet dieses Buch aus. Kristian hofft auf seiner Reise durch viele Länder und mit wechselnder Beziehung zu seinem Freund Mikkel seit Kindertagen, angeregt durch einen Brief von ihm, auf der dänischen Insel Christianso endlich bei sich anzukommen. Die Auseinandersetzung mit bildender Kunst und das Bearbeiten Kristians von Stein und Fels sind Bilder, die bleiben.

«Du wirst nie wissen, was Kunst ist. Manchmal ist sie eine Luke zur Welt, manchmal ein Ausweg. Und manchmal ist sie einfach nur eine grosse Lüge»

Ich bin gespannt auf deine Meinung zu diesem lesenswerten Buch.

Herzlich
Bär

***

Lieber Bär

Eben habe ich „Die Ränder der Welt“ beiseite gelegt, zumindest haptisch, denn das Buch wird mich zu meiner grossen Freude noch weiterbegleiten. Ich werde es nicht gleich ins Regal schieben zwischen die anderen Perlen aus seiner „Feder“, so wie man nach einem besonderen Stück Leben nicht einfach in die Mühlen des Alltag zurückkehren will.

Manchmal fühle ich mich als Leser Zeuge von etwas Besonderem. Schon sein Romandebüt „Hasenleben“ gewann meine Aufmerksamkeit. Auf meinem dritten Literaturblatt schrieb ich über jenen Roman: „Man ist den ProtagonistInnen ganz nah, bleibt ein Buch lang und darüner hinaus bei ihnen, fühlt mit. Die eigentliche Katastrophe ist die Summe vieler kleiner Katastrophen. Was darauf folgt, schmerzt, zerreist, fügt tiefe Wunden zu.“ „Hasenleben“ gefiel nicht nur mir. Das Debüt schaffte es gar auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. „Carambol“, Jens Steiners Zweitling, glänzte dann endlich auch mit Preisen, nicht zuletzt mit dem Schweizer Buchpreis 2013. Mit diesem Buch war Jens Steiner Gast einer meiner traditionellen Hauslesungen in Amriswil. Seither sind weitere Romane dazugekommen, solche für Kinder und Erwachsene, Romane, die die Vielschichtigkeit des Autors wiederspiegeln und seine Lust, stets neues Terrain zu erkunden.

Jens Steiner «Die Ränder der Welt», Hoffmann und Campe, 2024, 304 Seiten, CHF ca. 34.00, ISBN 978-3-455-01710-6

Sein neuster Roman „Die Ränder der Welt“, im Frühling bei Hoffmann und Campe erschienen, ist die Geschichte eines Mannes, der die Nabe seines Lebens sucht und dabei, wie im Titel, an die Ränder der Welt gerät, und das ist nicht nur geographisch gemeint. „Die Ränder der Welt“ ist die Reise eines Mannes ins Epizentrum seines Lebens, eine Reise von Kleinhüningen, über Paris nach Kopenhagen, von Italien bis nach Patagonien, die keine dänische Insel Christianso immer immer wieder nach Estland, wenn auch nur im Herzen. Die Reise eines Suchenden. Ein Roman, der meines Erachtens so gar nicht helvetisch erzählt, sondern mit fast südamerikanischem Gestus, ohne diesen kopieren zu wollen. Ein Roman, der mich ungeheuer mitnahm, inspirierte, manchmal gar belehrte, in gutem Sinne, und während Tagen nicht mehr losliess.

Jens Steiner ist seit vielen Jahren Redaktor der Zeitschrift „Kunst und Stein“, dem Verbandsorgan der Schweizer Bildhauer und Steinmetze. Jens Steiner hat dänische Wurzeln, lebte einige Jahre in Flensburg und heute im Burgund. Er erzählte mir einmal, als er noch in Zürich lebte, seine Schreibklause sei damals bloss wenige Quadratmeter gross gewesen. Jens Steiner öffnet die Welt, vom Kleinen ins Grosse, er fokussiert und schweift mit dem suchenden Blick in die Weite. Sein Tun ist Aufforderung!

Liebe Grüsse

Gallus

Constantin Schreiber «Die Kandidatin», Hoffmann und Campe

Wenn sich ein Roman in meine Träume schleicht, wenn er mich auch tagsüber nicht loslässt, dann muss etwas bei der Lektüre passiert sein. Constantin Schreibers Roman „Die Kandidatin“ schlägt einem ins Gesicht, lässt mich ratlos, in einer Mischung zwischen Faszination und Ernüchterung zurück. Ein Leseerlebnis aber ist er mit Sicherheit.

Sabah Hussein ist vierundvierzig und Kanzlerkandidatin. Sie steht, wetzt, redet, networkt und reist vor den Wahlen, ist kurz davor das zu erreichen, was in einem Deutschland in naher Zukunft mehr und mehr logische Konsequenz wird. Sabah Hussein ist politisches Programm in Person. Ihre Eltern flohen aus Syrien, das in Krieg und Elend versank. Sabah kam in einem libanesischen Flüchtlingslager zur Welt, verbrachte die ersten sechs Lebensjahre dort, kam mit ihrer Familie über die Balkanroute nach Deutschland in eine Flüchtlingsunterkunft, fing mit acht an, Deutsch zu lernen, übersprang eine Schulklasse und begann sich früh in Gesellschaft und Politik zu engagieren, wurde Mitglied der ÖP, der „Ökopartei“ und als Sinnbild und Identivikationsfigur schnell zu einem grossen politischen Versprechen. Bis klar wurde, dass die nächste Kanzlerin feministisch, divers und moslemisch sein musste.

Constantin Schreiber «Die Kandidatin», Hoffmann und Campe, 2021, 208 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-455-01064-0

Während auf der grossen politischen Bühne China mit seiner aggressiven Wirtschaft und Politik sämtliche Systeme unterwandert, nichts mehr ohne den unzähmbaren Riesen im fernen Osten geht, Taiwan annektiert und von China überrannt wird und nichts im Internet mehr ohne den Riesen geht, rotten sich im Deutschland der Zukunft die Extreme auf den Strassen zusammen, schreien von rechts und von links, wüten wüste Strassenschlachten unter den Augen einer staatlichen Polizei, die  sich immer mehr im Einfluss rechter Kräfte verstrickt. Sabah Hussein weiss, dass sie all jene auf ihrer Seite hat, die sich weltoffen, antikapitalistisch, feministisch und antirassistisch heissen. Und seit in jenem Deutschland alle Sechszehnjährigen, auch jene mit Aufenthaltsstatus wählen dürfen, dafür die über Siebzigjährigen nicht mehr, scheint einem Wahlsieg der linken Kandidatin nichts mehr im Weg zu stehen.

Das spüren auch all jene, die mit der Politik Sabah Husseins nichts anfangen können, allen voran den Rechten und Ultrarechten, die sich nicht nur im Netz, sondern auch ganz offen nicht nur verbal bewaffnen und die Kanzlerkandidatin mit allen Mitteln in den Dreck zu ziehen zu diffamieren versuchen. Allen voran Jonas Klagenfurt, der mit anderen für das Boulevard-Magazin AKUT schreibt, einer Onlineplattform für Rechte und Rechtsextreme. Unabhängige, gedruckte Medien gibt es keine mehr. Meinungsbildung machen Blogger, YouTuber, Tritter-Stars und „Freie“ oder die offiziellen Accounts der Ministerien selbst. Während der Mob, Wutbürger und ewig Unzufriedene von allen Seiten mit Molotowcocktails aufeinander losgehen, schaut man aus der Ferne beunruhigt auf ein auseinanderbrechndes Deutschland. Auf jene menschenleere Ecke Deutschlands, wo ein Staat im Staat gedeihen soll, in dem sich unter dem Namen Neu-Gothafen rechtes Gedankengut gepaart mit evangelikal-konservativer Kirche, ein alternatives Deutschland, in dem kein einziger Nichtweisser leben darf, formiert. Während die gesellschaftliche Ursuppe kippt, kein Stein mehr auf dem anderen bleiben soll, liefern sich die Exponenten eines zukünftigen Deutschlands erbitterte Schlachten, bei denen kein Opfer zu viel sein kann.

Constantin Schreibers Szenario ist erschreckend. Erschreckend gut konstruiert, erschreckend realistisch aus der Sicht der momentanen Strukturen und Situationen, erschreckend realistisch gezeichnet und erschreckend blutleer in seiner Figurenzeichnung und einem Plot, der einem ganz einfachen Muster entspringt. Schreibers Roman schmerzt und fasziniert. Der Autor weiss, dass das Haus, das er baut, auf solidem Grund gebaut sein soll. Aber die Fassaden sind spiegelglatt und lassen keinen Blick in die Tiefe zu. Die Figuren bleiben Kontur, der Konflikt in den Protagonisten nur ansatzweise sichtbar. Ich fiebere nicht mit den Menschen, sondern mit dem Szenario. Und das Szenario ist bestechend. Die Feuer, die schon lange zu brennen begonnen haben, von denen man glaubte, sie würden sich von alleine löschen, sind unkontrollierbar geworden. Was heute wachsende Realität ist, ist in Constantin Schreibers Roman endzeitlicher Flächenbrand. All jene lesen dieses Buch gerne, die „Ich habs schon immer gesagt“ längst zu ihrer Maxime machten. All jene, die in die Tiefe schauen wollen, werden am grossen Spektakel abprallen.

Trotzdem ein wichtiges Buch, denn es bietet Zündstoff für Diskussionen!

Constantin Schreiber, geboren 1979, moderiert die Tagesschau und ist einer der besten Kenner der arabischen Welt. Für die deutsch-arabische Talkshow Marhaba – Ankommen in Deutschland, in der er Geflüchteten das Leben in unserem Land erklärt, wurde er 2016 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Mit seiner 2019 gegründeten Deutschen Toleranzstiftung setzt er sich für interkulturellen Austausch im In- und Ausland ein. Seine Bücher «Inside Islam, Kinder des Koran» und das von ihm herausgegebene Buch «1000 Peitschenhiebe» über den saudiarabischen Blogger Raif Badawi waren Spiegel-Bestseller. Bei Hoffmann und Campe erschien von ihm zuletzt «Marhaba, Flüchtling!» (2016). Schreiber lebt mit seiner Familie in Hamburg.

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Beitragsbild © Marlene Gawrisch

Das 54. analoge Literaturblatt ist versandfertig!

«Die sind aber auch wirklich wunderschön gemacht, war auch einmal Teil davon und sehr begeistert!» Jürgen Bauer

«… und dann schwimmt vor Jahresende noch so eine zauberisches Literaturpost in meine Wohnung . Das ist wirklich eine Besonderheit! Vielen lieben Dank» Katharina J. Ferner

«Gibt’s denn sowas noch? Handgeschriebene, gezeichnete Buchempfehlungen. Dochdoch, die gibt’s bei literaturblatt.ch!» Joachim B. Schmidt

«Lieber Schweizer Initiator des Literaturblattes, dass es so etwas Schönes und liebevoll Gestaltetes wie das analoge Literaturblatt noch gibt, begeistert mich. Als ich das Literaturblatt sah, war es um mich geschehen. Ich freue mich sehr und denke, die Zusendungen werden Jahreshighlights sein.» Birgitta Nicola, Buchhändlerin und Illustratorin

Für mindestens 50 Fr./€ schicke ich ihnen die kommenden 10 Nummern der Literaturblätter. Die Literaturblätter erscheinen ca. 5 – 6 Mal jährlich.

Für mindestens 100 Fr/€ schicke ich ihnen als Freunde der Literaturblätter 10 Literaturblätter, 5 – 6 pro Jahr. Zudem sind sie auf literaturblatt.ch vermerkt.

Für mindestens 200 Fr./€ sind Sie als Gönner stets eingeladen, als Gönner der Literaturblätter auf literaturblatt.ch vermerkt bekommen 10 Literaturblätter (5 – 6 pro Jahr), also etwa zwei Jahre lang und werden einmalig auf Wunsch mit einem Buch beschenkt.

Kontoangaben:
Literaturport Amriswil, Gallus Frei-Tomic, Maihaldenstrasse 11, 8580 Amriswil
Raiffeisenbank, Kirchstrasse 13, 8580 Amriswil
CH16 8137 3000 0038 6475 8
SWIFT-BIC: RAIFCH22

Sandra Gugić «Zorn und Stille», Hoffmann und Campe

Man findet sich, lernt sich zu lieben, bekommt Kinder, kleine, zarte Geschöpfe. Man sieht die Kinder wachsen. Sie werden zu Jugendlichen, zu Erwachsenen. Und mit einem Male muss man sich eingestehen, sie ganz loslassen zu müssen, vielleicht sogar verloren zu haben, unwiederbringlich. Und wenn hinter dem Ganzen auch noch ein Krieg sein Gift über die Familie speit, dann ätzt sich der Schmerz tief in die Seelen.

Davon erzählt Sandra Gugić, vom Zersetzungsprozess in einer Familie. Ein Prozess, der nicht selbst gewählt wird, für den man in den meisten Fallen nicht die Schuld allein trägt, weil man immer Teil eines Ganzen ist, Teil einer Geschichte, Teil einer Gesellschaft, Teil eines Prozesses in einem Land und dessen politischen Wirren. Wie sehr „Zorn und Stille“ die eigenen Erlebnisse der Autorin umsetzt, ist irrelevant. Aber weil Sandra Gugić ihre Geschichte so sehr vorstell- und nachvollziehbar macht, wird ihr Roman exemplarisch für all jene Familien, die in den Stürmen ihrer eigenen Geschichte auseinanderbrechen, in denen sich all die einstmals guten Absichten ins Gegenteil umzukehren scheinen.

„Wahrscheinlich sind wir alle ebenso verbunden, wie wir voneinander getrennt sind, ob wir es nun anerkennen oder nicht.“

Billy Bana ist Fotografin, eine junge Frau, die die Welt durch ein Okular sieht, ein Auge das immer einzurahmen versucht, zu inszenieren. Fotografie als Versuch der Ordnung. Aber Billy Bana ist auch auf der Flucht, aus der Ordnung geraten. Auf der Flucht vor sich selbst und ihrer Geschichte. Billy Bana hiess einst Biljana Banadinović, die ihr Familienband abreissen liess, um unter anderem Namen eine neue Existenz als Künstlerin aufzubauen. Sie liess abbrechen, sogar ihre starke Bindung zu ihrem jüngeren Bruder, mit dem sie sich als Kind unzertrennlich fühlte. Mit siebzehn verlässt sie das Elternhaus, um nicht wiederzukehren. Einziger Fixstern in Billys neuem Leben ist Ira, eine junge Frau, in die sich verliebt, die einzige, von der sie sich ganz verstanden und „gelesen“ fühlt.

„Mein Leben bestand aus … versteckten Räumen, doppelten Böden und gesiegelten Perspektiven.“

Sandra Gugić «Zorn und Stille», Hoffmann und Campe, 2020, 240 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-455-00976-7

Der Ausbruch aus ihrem Elternhaus war ein Bruch mit dem nach totaler Integration trachtender Eltern, von Eltern die sich ihrer Herkunft aus Exjugoslawien mit allen Mitteln zu entfernen versuchten. Biljanas Eltern wurden ihr peinlich, fremd. Als Billy versucht sie sich  zu emanzipieren, scheint ihr das zu gelingen, auch wenn ihre Eltern auf die ihr jeweils eigene Art versuchen, die Bande nicht gänzlich reissen zu lassen. Bis zu dem Moment, wo Billy erfährt, dass ihr Vater gestorben und ihr kleiner Bruder nach einem letzten Treffen mir ihr spurlos verschwunden ist. Jene neue Ordnung, die sie aufzubauen versuchte, zerbricht. Ist ihr Bruder Opfer eines Verbrechens oder Opfer seiner selbst? Hat sie nicht wahrgenommen, dass ihr eigenes Leiden das ihres Bruder verdeckte?

„Alles, was wir machen, tun wir nur, um glücklicher zu werden. Selbst derjenige, der sich umbringt, tut das, weil er glaubt, im Tod glücklicher zu sein.“

Alles in Billys Leben ist flirrend. Das einzige, was klare Konturen bekommt, sind ihre Fotografien. Sandra Gugić erzählt aus den Perspektiven aller in der Familie. „Zorn und Stille“ ist ein Erklärungsversuch – keine Erklärung. Ebenso ein Versuch, Ordnung in ein Lebenschaos zu bringen, wie es das Fotografieren oftmals versucht. Eine Auslegeordnung, denn hinter den verkrampften Integrationsbemühungen Billys Eltern stecken wiederum Geschichten, setzt sich fort, was sich über Generationen anbahnte, glüht weiter, was in der Vergangenheit brannte. Auch das Leben ihrer Mutter Azra und das ihres Vaters Sima war ein Versuch sich zu emanzipieren. Aber weil der Mensch nur den nebelhaften Rauch sieht, verschwindet der Nachhall jener Feuer, die in der Vergangenheit brannten.

„Vielleicht hätte er besser achtgeben müssen und versuchen, all die Augenblicke und kleinen Ereignisse zu bemerken, die Veränderungen zu lesen, die sich ankündigten.»

Sandra Gugić beschreibt unsägliche Momente, schildert Situationen, die sich einprägen, weil sie stellvertretend sind für vieles, was Leserinnen und Leser in ihrem eigenen Leben gespiegelt finden. Unauslöschlich der Moment, als Billys Vater am Tag vor ihrem 18. Geburtstag ein Treffen mit seiner Tochter provoziert und ihr in einem Café ein dickes Kuvert über den Tisch schiebt auf dem in Blockbuchstaben Alles Gute steht. Was als Versuch der Annäherung beginnt, als linkischer Liebesbeweis, als Rückeroberung, wird zum unverzeihlichen Fiasko.

„Zwischen den Farben und dem Lärm des Draussen habe ich die Vergangenheit vorsichtig begraben.“

Ich las den Roman unter Schmerzen, weil ich sie alle verstand und verstehe. Die nach Freiheit ringende Tochter, die verzweifelnden Eltern, den halt- und ratlosen Bruder. Sandra Gugić schreibt mit inniger Empathie ohne je die Grenze zur Sentimentalität zu überschreiten. „Zorn und Stille“ beschreibt schon im Titel wie weit es der Schriftstellerin gelingt, den Bogen zu spannen. Auch wenn sie alle scheitern, tun sie es nicht in der Ansicht zerstören zu wollen. Alles ist ein Schrei nach Liebe.

Grossartig!

«Zorn und Stille» auf dem 54. analogen Literaturblatt

Sandra Gugić, geboren 1976 in Wien, ist eine österreichische Autorin serbischer Herkunft. 2009 begann sie zu schreiben. Sie studierte an der Universität für Angewandte Kunst in Wien und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet. 2012 gewann sie den Open Mike. Ihr erster Roman «Astronauten» erschien 2015 und erhielt den Reinhard-Priessnitz-Preis. 2019 erschien ihr Lyrikdebüt «Protokolle der Gegenwart» im Verlagshaus Berlin. Zuletzt wurden ihr das Stipendium des Berliner Senats und das Heinrich-Heine-Stipendium zugesprochen. Sandra Gugić lebt als freie Autorin mit ihrer Familie in Berlin.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Dirk Skiba

Janna Steenfatt «Die Überflüssigkeit der Dinge», Hoffmann und Campe

Reduziert man die Dinge, die einem ein Leben lang umtreiben, auf das Wesentliche, bleibt wenig, auch wenn das zuweilen viel ist. Aber wahrscheinlich beschäftigt man sich zu gerne mit den überflüssigen Dingen, die trotz aller Einsicht oben aufschwimmen und die Sicht auf all das verbergen, was die Verdrängung, die schiere Menge der Dinge, die einem umtreiben, ausmacht. Janna Steenfatt hat mit ihrem Debüt einen erstaunlich reifen Roman geschrieben, auch wenn der Titel sperrig tönt.

Inas Mutter ist mit ihrem Auto gegen einen Baum gefahren. Alles spricht dafür, dass sie es aus Absicht tat. Ein mässig theatraler Abgang aus einem Theaterleben mit mässigem Erfolg. Inas Mutter hatte an den grossen Bühnen Deutschlands gespielt. Aber irgendwann dünnten die Verpflichtungen aus, die Rollen wurden immer unbedeutender. Und als sie ganz ausblieben, wurde der Rausch der Bühne durch den des Alkohols ersetzt. Das Leben ihrer Mutter verlor sich, so wie sie sich mit ihrem Selbstunfall ausradierte. Nicht das der Tod der Mutter Ina in eine Krise gerissen hätte, dafür hatten sie sich schon lange zuvor verloren. Aber ihr Tod und alles, was sie mit ihm mitgenommen hatte, all die Fragen, die nie eine Antwort bekamen, zwingen Ina, sich mit dem Unvermeidlichen auseinanderzusetzen, auch wenn Falk, ihr Mitbewohner fast alles regelt, was mit dem plötzlichen Sterben Inas Mutter anfällt.

„… das Warten auf das richtige Leben machte bereits der unguten Ahnung Platz, dass es das hier tatsächlich schon sein sollte.“

Janna Steenfatt «Die Überflüssigkeit der Dinge», Hoffmann und Campe, 2020, 240 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-455-00831-9

Ina studierte Germanistik und Philosophie. Aber daraus wurde nie wirklich etwas, so wie sich bei ihrer Mutter das verflüchtigte, was vielversprechend begonnen hatte, ein Dasein als erfolgreiche Schauspielerin. Das Leben Inas Mutter dümpelt im Alkohol weiter, das Leben Inas in Unentschlossenheit. Bis sie in der Hinterlassenschaft ihrer Mutter Spuren ihres Vaters findet.
Und als eben dieser Mann zurück nach Hamburg kommen soll, um am Theater Shakespeares Sommernachtstraum zu inszenieren, wird klar, dass Ina ihr Leben nur weiterführen kann, wenn sie sich nicht nur dem Vater stellt, sondern ihrem im gemässigten Unglück eingerichteten Leben. Ina schafft es, in der Theaterkantine einen Aushilfsjob zu ergattern, auch wenn diese Arbeit nur Vorwand ist, ein Versteck, um „den richtigen Moment“ zu erwischen. Noch so ein Moment, der Ina zu entwischen droht.

„Ich dachte darüber nach, dass man andauernd etwas Neues, Aufregendes wollte, aber dann war das nach kurzer Zeit nicht mehr neu und aufregend, sondern normal, und dann wollte man wieder etwas anderes. Und immer weiter so.“

Am Theater lernt Ina die Schauspielerin Paula kennen, die in dem von ihrem Vater inszenierten Stück den Puck spielt, eine schelmische Fee. Zwischen Ina und Paula wächst eine Liebe, etwas was mit anderen zuvor nie entstehen wollte. Paula wird zu einem Puck in Inas Leben, bringt Inas Leben aus dem Zustand des permanenten Wartens. Aber so wie die vor Wolf Eschenbach dem Regisseur, den Menschen um sie herum, nicht einmal Falk, mit dem sie schon so lange die WG teilt und auch nicht bei Paula preisgibt, wonach sie wirklich sucht, kulminiert in Janna Steenfatt Roman alles auf den einen, unausweichlichen Punkt hin.

„… ich wusste damals noch nicht, dass sich nie etwas ergab, in diesem Rohrkrepiererleben.“

„Die Überflüssigkeit der Dinge“ ist eine Suche nach der Herkunft. Darüber, was bleibt, was bleiben soll, wenn ein Mensch stirbt. Was bedeutet Mutter- und Vaterschaft? Was passiert, wenn Verbindungen wissentlich gekappt werden? Heilt die Zeit Wunden wirklich? Gibt es Fragen, die man unbeantwortet stehen lassen kann?
Aber „Die Überflüssigkeit der Dinge“ ist auch ein Theaterroman, ein Roman, der sich das Theater und den ganz eigenen Kosmos mit aller Selbstverständlichkeit zur Kulisse macht. Für einmal ein Theaterroman nicht über die hausinternen Frustrationen und Intrigen. Janna Steenfatt beschreibt einen Kampf. Und selbst wenn dieser Kampf autobiographische Züge hätte, schafft es die Autorin, mit kluger Distanz zu erzählen. Ich hätte es dem Roman gegönnt, wenn der Titel nicht durch den sperrigen Genitiv verzerrt worden wäre, denn Janna Steenfatt erzählt direkt, gradlinig und frech. Von diesen Eigenschaften des Romans verspricht der Titel nichts.

„Alles, was ich tat, führte dazu herauszufinden, was ich nicht wollte, aber ich dachte, dass auf diese Weise immerhin irgendwann einmal das, was ich wollen könnte, übrig bleiben müsse.“

Eintauchen und lesen!

Interview mit Janna Steenfatt:

Ina verliebt sich in Paula. Paula spielt in der Inszenierung von Shakespeares Sommernachtstraum den Puck, ein buntes, rätselhaftes Fabelwesen, „wild und schön und nicht von dieser Welt“. Sie kommen sich sehr nahe; doch je näher, desto mehr entschwindet Paula. Ist das Entschwinden wirklich Resultat eines Verrats oder nicht viel mehr das Resultat von Unfähigkeiten?
Ich würde sagen: ein Verrat ist immer ein solcher, wenn die verratene Person ihn als solchen empfindet. Und das tut Ina. Natürlich sind Unfähigkeiten – sich zu artikulieren, sich zu zeigen, miteinander zu kommunizieren – die Grundproblematiken meiner Figuren. Das Wort Verrat im Klappentext ist natürlich ein sehr starkes und kommt im Übrigen von meiner Lektorin, nicht von mir.

Inas Mutter stirbt. Und doch hat Ina ihre Mutter damit nicht verloren. Das Verlieren hat schon viel früher begonnen. Ina verliert auch den Vater, verliert die Orientierung, Freundschaft, die Liebe, fast alles. Und trotzdem schildern sie Ina nicht als Geschundene, Verletzte, Verlorene. Ina strahlt Kraft aus, obwohl ihr Leben fast nur aus Warten besteht, dem Warten darauf, dass sich Dinge ergeben. Ist Leben Verlust, wenn man zurückschaut und Gewinn, wenn man die Hoffnung nicht verliert?
Ich glaube, das Leben ist keine Kosten-Nutzen-Rechnung und lässt sich somit nicht so leicht in Verlust und Gewinn unterteilen. Aus Verlusten kann Gewinn entstehen und zurückschauen sollte man vielleicht trotzdem ab und an, um die Dinge klarer zu sehen. Es kommt nur darauf an, wie man es tut und nicht auf alle Fragen gibt es Antworten. Was Ina auf ihrer Suche lernen muss: die Dinge gutsein lassen. Die Hoffnung nicht zu verlieren ist dabei die Grundvorraussetzung, überhaupt am Leben zu sein.

Wolf Eschenbach, Inas Vater, hat sich vor Jahrzehnten aus dem Staub gemacht. Und Inas Mutter hat sich den Annäherungsversuchen Inas Vaters verschlossen. Heiner, der Koch aus der Theaterkantine sagt: „Es gibt Dinge, die kann man nicht wiedergutmachen.“ Etwas, was Ina auch gar nicht will. Aber ist es die Absicht, Ordnung zu machen? Nicht Ordnung in die Umstände, aber Ordnung in ihr selbst. 
Ja, ich glaube schon. Das hat auch mit Erwachsenwerden zu tun, damit, die eigene Geschichte zu begreifen und sich nicht als das Opfer der Umstände zu sehen. Ina will letztlich ihren Frieden machen, denn für eine direkte Konfrontation mit der Mutter ist es zu spät, also bleibt nur der Vater.

Ina verrät, das sie noch nie zu jemandem „Ich liebe dich“ gesagt habe. In der Schweiz ist dieser Satz noch viel fremder. Eigentlich ein Satz, der nur in Schrift und Bild vorkommt. Doch eigenartig, wo sich dermassen viel Leben um diesen Satz dreht? 
Das habe ich schon mal gehört, dass man diesen Satz in der Schweiz eigentlich gar nicht sagt. Ich finde das schade. Es ist so ein gewaltiger Satz. Er ist natürlich auch beängstigend, die Worte wiegen so stark im Deutschen, anders als beispielsweise im Englischen, wo dieser Satz etwas inflationärer gebraucht wird, nicht nur in romantischen Beziehungen. Ich weiss gar nicht, wie diese Stelle in einer Übersetzung funktionieren würde.

Für ein ganzes Stück in Inas Leben reichte ein Auskommen, genug Schlaf, etwas Sex und Gin Tonic. Was braucht Janna Steenfatt? 
Ebenfalls diese vier Dinge! Plus Inspiration, Liebe, Sonne, Wind, Bücher, Filme, Musik und gutes Essen.

Janna Steenfatt, geboren 1982 in Hamburg, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und arbeitet als freie Autorin und Moderatorin für verschiedene Filmfestivals. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, Teilnehmerin des 19. Open Mike und erhielt zahlreiche Aufenthaltsstipendien. Die Überflüssigkeit der Dinge ist ihr erster Roman.

Beitragsbild © Sascha Kokott

Kjersti A. Skomsvold «Meine Gedanken stehen unter einem Baum und sehen in die Krone», Hoffmann und Campe

Es gibt Bücher, die Geschichten erzählen. Es gibt Bücher, die phantasieren, solche, die entschlüsseln, andere, die verschlüsseln. Kjersti A. Skomsvolds Roman «Meine Gedanken stehen unter einem Baum und sehen in die Krone» ist so eigenartig wie sein Titel. Der Blick einer jungen Frau, einer Mutter, einer Schriftstellerin, einer Geliebten, einer Freundin, einer Ehefrau. Etwas wirr erzählt, als sässe man einer Freundin gegenüber, die nach langer Zeit zu erzählen beginnt, aber eigentlich dem Kind zugewandt, dessen Mutter sie wird.

Kjersti A. Skomsvold erzählt in ihrem Buch, der sich Roman nennt, keine zusammenhängende Geschichte, schon gar nicht chronologisch. Sie schreibt über ihr Leben, wie sie ihren Mann kennen lernte, ihre Familie, die Geburt ihrer beiden Kinder, ihr Schreiben, ihre Ängste, ihre Befürchtungen. Alles Banalitäten, über die andere kein Wort verlieren würden, weil es nach dem Eigenen klingen würde. Andere, die darüber schreiben würden, liessen es zu einer Nabelschau verkommen, einem Wehklagen darüber, wie klein die Welt mit Kindern und Pflichten geworden ist. Bei Kjersti A. Skomsvold liest sich das überraschend anders. Kjersti A. Skomsvold beobachtet sich selbst, lotet sich aus, folgt ihr selbst auf ihrer Spur, ohne den wehleidigen, schmerzerfüllten Blick in einen Spiegel, der nie das zeigt, was man sich erhofft.

«Ich dachte, die Liebe bedeutet, einen neuen Menschen zu entdecken, aber es bedeutet, sich selbst zu entdecken.»

Was sich in den ersten Seiten wie das Protokoll einer schwierigen Geburt liest, bei der man sich bei der Lektüre fragt, ob Mann sich dafür interessiert, weitet sich das Feld aus. Selbst im Moment der Geburt, werden Fragen existenziell. Kjersti A. Skomsvolds Blick auf ihren Ausschnitt der Welt wird zu einem Schaufenster in ein Stilleben der Moderne, in die Zerrissenheit der verschiedenen Gegenwarten, in die Erkenntnis, dass man sich selbst fremd bleibt, selbst dann, wenn aus der Sehnsucht nach Nähe Liebe wird, selbst dann, wenn neues Leben in einem wächst, selbst bei eigen Fleisch und Blut.

«Die Liebe ging schnell, eine dreiköpfige Familie und dann eine vierköpfige zu werden, noch schneller, nur das Schreiben geht unglaublich langsam.»

Sie erzählt von Bo, ihrem Mann, diesem ängstlichen Mann, den sie kennen lernte, mit dem sie zusammen kam, einen Hausstand gründete und irgendwann den gemeinsamen Wunsch, Kinder zu bekommen «in die Tat umsetzte». Beide verletzlich in ihren Ängsten und Befürchtungen. Wie mit den Kindern die Perspektive ändert, man mit einem Mal nicht mehr das Gefühl hat, es reiche, auf den eigenen Beinen zu stehen. Wie Fremde immer vertrauter werden, aber eigentlich doch Fremde bleiben, aussen vor, selbst die Kinder, die einem dirigieren. Bo ist Künstler, sie Schriftstellerin. Er arbeitet mit Gipsplatten, sie mit Worten, die sie in jeder freien Sekunde aufs Papier zu bringen versucht, so wie Per Olov Enquist, der am Tisch schrieb, während das Kind darunter mit seinen Socken spielt.

«Mein eigener Tod ist näher gerückt, seit ich Kinder habe, das Leben wirkt kürzer und länger zugleich. Kürzer, weil mir klar ist, dass ich nicht so wichtig bin, wie ich geglaubt hatte, sondern nur ein kleines Stück von etwas unendlich Grossem.»

«Meine Gedanken stehen unter einem Baum und sehen in die Krone» ist ein eigenartiges Buch, das mich bei der Lektüre hin- und herzerrte zwischen Begeisterung und Unverständnis. Vielleicht ist es die Fähigkeit der Autorin, aus sich herauszutreten. «Meine Gedanken stehen unter einem Baum und sehen in die Krone» ist kein Tagebuch, aber vielleicht ein Spiegelkabinett. Wer in den Spiegel schaut, sieht nicht sich selbst, sondern sein seitenverkehrtes Spiegelbild. Kjersti A. Skomsvold stellt ihren Spiegelgarten so, dass sich ihr Sein und Tun mehrfach spiegelt, dass ich mich selbst in diesen Spiegelungen sehe. Es offenbaren sich Abgründe und Höhen, Selbstzweifel und Euphorie, Leidenschaft und der ganz gewöhnliche Grabenkrieg einer Langzeitbeziehung.

Ein Roman über das Schreiben, von der Macht des Schreibens und der, schreiben zu wollen, um jeden Preis, um sich selbst und manchmal gar andere zu retten.

© Agnete Brun

Kjersti A. Skomsvold, geboren 1979 in Oslo, gilt als die wichtigste Gegenwartsautorin Norwegens. Für ihren Debütroman Je schneller ich gehe, desto kleiner bin ich (Hoffmann und Campe 2011) wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Neben ihren Romanen veröffentlichte sie Lyrik und autobiographische Prosa.

Ursel Allenstein (1978) übersetzt Literatur aus den skandinavischen Sprachen. u. a. Sara Stridsberg und Christina Hesselholdt. 2013 erhielt sie den Förderpreis der Kulturstiftung NRW und 2019 den Jane Scatcherd-Preis.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Miriam Toews «Die Aussprache», Hoffmann und Campe

«Die Aussprache» ist das fiktive Protokoll einer Auseinandersetzung. Auf dem Dachboden einer Scheune entscheidet sich die unmittelbare Zukunft von Frauen und Kindern, die sich der Willkür der Männer und des von ihnen geschaffenen Systems entgegenstellen wollen. Miriam Toews hat etwas Einmaliges geschaffen!

In einer abgeschotteten Mennonitengemeinde in Bolivien, der Manitoba-Kolonie, werden zwischen 2005 und 2009 Frauen und Mädchen regelmässig nachts «von Teufeln heimgesucht». Sie wachen morgens blutend und mit Schmerzen auf, werden in der Folge oft krank und schwanger. Man beschuldigt sie des Ehebruchs, bezichtigt sie der Lüge, erklärt die Beteuerungen der Frauen als ungezügelte weibliche Fantasie. Bis eine der Frauen einen der Männer auf frischer Tat ertappt, dieser in der Folge sieben weitere Männer aus der Gemeinde verrät, die acht Männer festgenommen werden, Haftentlassung auf Kaution aber deren Rückkehr droht.

«Ich sehe, wie die Welt sich überschlägt, wie Wellen, aber ohne dass da ein Meer wäre oder ein Ufer.»

Miriam Toews hat aus diesen Tatsachen ein Buch geschrieben, das fast ausschliesslich von jenen Tagen berichtet, in denen sich die Frauen der Gemeinde, auch die Opfer, in einer Scheune treffen und beraten, wie zu reagieren ist, bevor die zurückkehrenden, schuldigen Männer sie vor vollendete Tatsachen stellen. Da alle Frauen Analphabeten sind, schreibt der in Ungnade gefallene Lehrer des kleinen Ortes ein Protokoll dieser «Aussprache».

«Die Aussprache» ist kein wirklicher Roman. Miriam Toews wollte weder die Geschichte der Frauen nacherzählen, noch Leser oder die Leserin zu nahe an die ProtagonistInnen heranlassen. Ich lese mit der Spannung, was geschehen wird, wenn die Männer zurückkehren, aber das ist den Gesprächen nur als tickende Uhr unterlegt. Auch die miteinander redenden Frauen in der Scheune bleiben Stimmen, bleiben eindimensional, selbst mit Namen und Status innerhalb der Frauengemeinschaft. Der einzige, der mir nahekommt, ist der Lehrer, August Epp, der sich einst traute, die Sekte zu verlassen, in der Stadt zu studieren und zu leben, der aus Naivität mit dem Gesetz in Konflikt kam, im Gefängnis sass, zurück nach Molotschna kam, aber nie mehr vollwertiges Mitglied der Gemeinde werden konnte – höchstens Lehrer (für die Knaben!).

Als Roman scheitert «Die Aussprache» grandios. Aber eigentlich nur darum, weil es für ein Buch wie dieses keine Nische gibt. «Die Aussprache» liest sich wie ein Theaterstück, ein Kammerspiel für ein Dutzend Frauen und einen Mann. Der Dachboden einer Scheune wird zur grossen Bühne der grossen Fragen und grossen Entscheidungen.

«Wo ist das Böse? In der Welt da draussen oder in der Welt hier drinnen?»

Trotzdem ist «Die Aussprache» ein wichtiges Buch. Eines der Bücher, die sich mit abgeschotteten, isolierten, patriarchalisch dominierter Gemeinschaften auseinandersetzt, die alles daran setzen, «gottgewollte» Machtstrukturen aufrecht zu erhalten. Frauen sind still gehaltene Gebär- und Bedienmaschinen. Strukturen, die sich auf der ganzen Welt hartnäckig halten, Strukturen, die als Pulverfass bei einer Eskalation ein ganzes System in den Abgrund reissen (Sonnentempler).
Aber «Die Aussprache» ist vor allem ein hoch philosophisches und gesellschaftskritisches Buch, das sich mit Fragen auseinandersetzt, von denen man leicht glaubt, die wären allgemeingültig beantwortet. Mitnichten! «Die Aussprache» ist die Geschichte darüber wie leicht aus Opfern Täter werden, wie leicht sich Opfer der Willkür der Täter selbst nach einer Verurteilung aussetzen müssen. Wie man Täter «schützt», man sperrt sie vorübergehend ein, und Opfer sich selbst überlässt.

Die Runde der Frauen muss entscheiden; bleiben, schweigen, «vergeben» und akzeptieren – bleiben und kämpfen gegen zementierte Strukturen – oder fliehen, in eine Welt, die die Frauen in der Abgeschiedenheit ihrer Gemeinschaft nicht kennen. Wie auch immer sich die Frauen entscheiden, sie bleiben weiterhin Opfer.

© Carol Loewen

Miriam Toews, geboren 1964 in Steinbach/Manitoba, ist eine der wichtigsten kanadischen Gegenwartsautorinnen. Mit «Ein komplizierter Akt der Liebe» wurde sie international bekannt. Für «Die fliegenden Trautmans» und «Das gläserne Klavier» erhielt sie den Rogers Writers› Trust Fiction Prize. Sie lebt und arbeitet in Toronto.

Monika Baark, die Übersetzerin, geboren 1968 in Tel Aviv, wuchs in Toronto, New York, Moskau, Bonn und Antwerpen auf. Sie studierte Anglistik und Kunstgeschichte in Heidelberg und lebt seit 1998 als freie Übersetzerin in Berlin. Zu den von ihr übersetzten Autorinnen gehören u. a. Jeanette Winterson, Margaret Atwood und Claire Messud.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Lieber Wolf Haas

Ich lief in Zürich der Limmat entlang und sah in Eile diesen Mann, den ich kannte. Ich war schon ein paar Schritte weiter, als es mir in die Erinnerung schoss. Das waren Sie, Wolf Haas, von dem ich eben ein weiteres Buch gelesen, über den ich mich gerade eben im Zug mit einem Freund unterhalten hatte. Ich ging die paar Schritte zurück und schaute durch die grosse Fensterfront. Sie sassen in einem tiefen Sessel, schauten in ihr Mobilephone. Auf dem Tischchen vor ihnen stand ein halb volles Glas Fruchtsaft. Oder zumindest sah es alkoholfrei aus. Ich zögerte einen Augenblick, entschied aber, dass es keiner dieser endlos vielen Augenblicke werden sollte, die ich in meinem Leben unter dem Titel „Ich hätte es tun sollen“ abbuche. Ich betrat das Lokal, überhörte den Gruss der jungen Frau hinter der Theke und stellte mich vor Sie. Ich grüsste Sie mit Namen, wollte die Reaktion prüfen, meine letzten Zweifel beseitigen, sieht doch jemand, den man sonst nur aus Interviews auf dem Bildschirm oder aus Reihe 28 bei einer Lesung in einem riesigen Saal kennt, in der eigenen Realität entscheidend anders aus. Sie hoben den Kopf, grüssten zurück und ich sagte meine Sätze, wie sehr ich ihr Buch mag, wie sehr ich ihr Schreiben bewundere und wie tief ich mich vor ihnen verneige. Sie lächelten, nahmen die Huldigung wie einer entgegen, der sich noch immer wirklich freut, was wiederum mich freute. Ich zog mich wieder zurück, liess sie wieder allein in Zürich an der Limmat, bei einem Fruchtsaft und ihrer Verbindung in den Äther.
Ich war unterwegs ins Literaturhaus, ein paar Blocks weiter. Delphine de Vignan las. Jetzt im Nachhinein frage ich mich, was geworden wäre, wenn ich noch ein paar Bissen Mut mehr gehabt hätte, wenn ich sie frech gefragt hätte, ob ich mich für ein paar Minuten hätte zu ihnen setzen dürfen. Ich tat es nicht, das war gut. Sie schenkten wir einen Blick, ihre Überraschung und ihre Freude. Und einen Augenblick, den ich wohl noch einige Male erzählen und ausschmücken werde, bis er eine Erinnerung wird, jener Moment, als ich Wolf Haas in Zürich traf.

Lieber Herr Frei-Tomic,
vielen Dank für Ihre Nachricht an Wolf Haas, die wir dem Autor weitergeleitet haben. Herzliche Grüße, der Verlag

Lieber Wolf Haas,
«Junger Mann» ist, was man von einem Haas erwartet. Er muss etwas anders sein, als alles andere, was man liest; der Schauplatz normaler, der Witz direkter,  die Pointen schlagender, das Personal in seiner Art so bieder, dass es einem im Kleid der 70er Jahre schon wieder schräg erscheint. «Junger Mann» ist ein echter Haas; mit Schalk erzählt, so gekonnt konstruiert, als würden Sie einfach bloss aus Ihrem Leben erzählen. Ein Buch, das nach seiner Verfilmung schreit, das im besten Sinn unterhält, ohne nie auch nur einen Hauch Oberflächlichkeit zu verströmen.

Ein Junge wächst auf, wo die High Society ihre Ruhe in grossen Häusern sucht und alle andern sonst nur weg wollen. Und wer es nicht schafft, hofft auf die Wende nach der Ausbildung oder das Geschäft mit denen, die in den Ferien in den grossen Häusern leben. Der Junge macht einen Ferienjob an der Tankstelle, nach einem Beinbruch von allzu viel tröstender Schokolade aufgequollenen einen orangen Overall gezwängt. «Danke Fräulein», piesackt man ihn. So wie Tscho in seinem Truck, wenn der Junge auftankt und das Insektenmassaker von der Frontscheibe putzt. Tschö hat eine Freundin, eine Frau, Elsa, die dem Jungen nach winterlichem Frontscheibenkratzen wie eine Erscheinung unauslöschlich ins Herz schiesst. Aber er, der Junge, von dem Sie, Herr Haas, bei Interviews verraten, dass einiges von Ihnen in der Geschichte steckt, in seiner Speckhülle vom Glück abgetrennt, bleibt weggeschlossen, irgendwie vom Leben abgetrennt. Also beginnt er zu fasten. Und so wie die Kilos schwinden, nimmt ihn das Leben im Dorf immer mehr mit, bis ihn Tscho heisst, in den Truck zu steigen. Er brauche ihn, den Gescheiten, als Dolmetscher. So wird der zweite Teil Ihres Romans ein Roadtripp. Tscho braucht seinen Begleiter aber nicht, um an der Grenze zu dolmetschen. Der Junge soll aber durchaus vermitteln, schlussendlich sogar mit einer Knarre in der Hand.

Lieber Herr Haas, Sie erzählen Geschichten, die anrühren, ohne je kitschig zu sein. Mit Ihrer unverwechselbaren Art des Humors entgehen Sie allen Untiefen der Rührseligkeit. Wer «Junger Mann» gelesen hat, mag Sie noch mehr als zuvor, denn Sie schneiden nie auf, nie. Auch nicht, wenn Sie vor vollem Saal hunderte von Begeisterten verzücken.

Wolf Haas wurde 1960 in Maria Alm am Steinernen Meer geboren. Seine Brenner-Krimis erschienen ab 1996 in acht Bänden, zuletzt «Brennerova» (2014). Der Roman «Das Wetter vor 15 Jahren» erschien 2006, «Verteidigung der Missionarsstellung» 2012 bei Hoffmann und Campe. Wolf Haas lebt in Wien.

Beitragsbild © Josef Perndl