Annie Ernaux «Das Ereignis», Suhrkamp, Nobelpreis 2022

2022 heisst die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux. Für einmal eine fast einhellig positiv kommentierte Entscheidung der Schwedischen Akademie, auch wenn man sich in den Medien im Nachgang wie die Geier auf das politische Engagement der Autorin stürzte. Aber den wenigen Misstönen zum Trotz: Annie Ernaux repräsentiert als Nobelpreisträgerin eine Stimme, die sich ganz nah ins 20. Jahrhundert schrieb, unmittelbar.

Auch in „Das Ereignis“ schreibt sich Annie Ernaux in die eigene Geschichte zurück. „Wer weiss, ob Erinnerung nicht bedeutet, auf den Grund der Dinge zu sehen“ heisst es vor dem Roman – ein Zitat von Yûko Tsushima, einer japanischen Schriftstellerin, die ebenfalls stark autobiographisch schrieb. Annie Ernaux war 1963 23-jährig schwanger. Ungewollt, mitten im Studium, in einer Zeit, als in Frankreich ein Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stand, unter Strafe für alle; die Schwangere, Ärztin oder Engelmacherin, selbst für jene, die einen solchen Akt in die Wege leiteten. Wer 1963 in Frankreich ungewollt schwanger war und händeringend nach Hilfe suchte, stiess auf eine Wand der Angst, des Schweigens und der Scham.

Annie Ernaux «Das Ereignis», Suhrkamp, 2021, aus dem Französischen von Sonja Finck, 104 Seiten, CHF 25.90, ISBN 978-3-518-22525-7

Für Annie Ernaux muss diese Erinnerung in mehrfacher Hinsicht zu einer schriftstellerischen Notwendigkeit geworden sein. Zum einen war das Ereignis eine Zäsur in einem noch jungen Leben, dass damals dachte, alles im Griff zu haben. Zum andern war und ist sich sowohl die Frau, die Schriftstellerin, wie auch die Kämpferin für die Rechte der Frau bewusst, was mit jenem Schritt in und mit ihrem Körper passierte. Annie Ernaux beschreibt die verschiedenen Momente des Verlusts derart plastisch, dass es einem schaudert. Seien es die Momente des Alleinseins mit einer Entscheidung, die sie damals gerne geteilt hätte, sei es die beschämende Suche nach Hilfe, die Abweisung all jener, die sonst eigentlich zu Beistand verpflichtet wären, der Gang in Hinterhöfe, der Schmerz, die Leere, die unsäglich Angst, gleich in mehrfacher Hinsicht für eine Entscheidung büssen zu müssen.

So schmal das Buch ist, hundert Seiten, so schwergewichtig ist nicht nur der Inhalt, die Auseinandersetzung, sondern auch die Sprache, die absolut ehrliche und unmittelbare Nähe ihres Schreibens, die ungeheuerliche Blösse preisgibt. Annie Ernaux schrieb das Buch Ende 1999, mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Ereignis. Ein Ereignis, dem sie sich stellen muss, das ihr alles abverlangte damals und es noch einmal tat, als sie sich den Erinnerungen mit aller Konsequenz stellte. „Das Ereignis“ ist weder Erklärungsversuch noch Entschuldigung. Annie Ernaux geht es weder um das eine noch um das andere. „Das Ereignis“ ist die schonungslose Auseinandersetzung mit sich selbst, das Verhindern von Vergessen, die Tatsache, dass sich damals Weichen stellten, die bis in die Gegenwart wirken, dass sie sich auch Jahrzehnte später immer und immer wieder jenem Ereignis stellen muss.

Während pseudoklerikale, reaktionäre und konservative Kräfte ganze Demonstrationszüge mobilisieren können, amerikanische Bundesstaaten den Schwangerschaftsabbruch kriminalisieren, selbst dann, wenn Frauen das Opfer von Gewalt sind und auch in Europa Tendenzen sichtbar werden, die der Selbstbestimmung der Frau entgegenwirken, wird ein Buch wie dieses zu einer Stimme, die mit aller Deutlichkeit klarmacht, wie schwerwiegend ein solcher Entscheid ist, wie fatal es sein kann, wenn Frauen in solchen Situationen keine Optionen zur Verfügung stehen, wie grauenvoll es sein muss, bis eine Frau aus lauter Verzweiflung mit einer Stricknadel hantiert.

„Das Ereignis“ ist ein Ereignis!

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermassen gefeiert worden. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Nobelpreis für Literatur.

Sonja Finck übersetzt aus dem Französischen und Englischen, darunter Bücher von Jocelyne Saucier, Kamel Daoud, Chinelo Okparanta und Wajdi Mouawad. Für ihre Ernaux-Übersetzungen wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet.
 

Rezension von «Die Frau» von Annie Ernaux auf literaturblatt.ch

Rezension von «Der Platz» von Annie Ernaux auf literaturblatt.ch

Mein kurzes Fazit zum Film: Absolut sehenswert, mit einer beeindruckenden Hauptdarstellerin, eine gelungene Literaturverfilmung.

Beitragsbild © Catherine-Hélie Gallimard

Franco Supino «Spurlos in Neapel», Rotpunktverlag

Franco Supinos Eltern kamen einst aus dem Umland von Neapel nach Solothurn. Franco Supino ist nicht nur als Schriftsteller ein neugierig Suchender. Ein Suchender nach dem Warum. Sein aktueller Roman „Spurlos in Neapel“ ist eine literarische Recherchereise in ein Land, mit dem er viel mehr als seine Sprache teilt.

Mafiafilme wie „Der Pate“, „Once opon a time in America“ oder „Goodfellas“, die etwas von der italienischen Ehrengemeinschaft, die sich ausserhalb jedes Rechtssystems nicht nur in Italien und in den Bronx etablierte, brannten sich in ein kollektives Bewusstsein. Die Camorra ist eine kriminelle Organisation mit Jahrhunderte langer Tradition. Und wenn es eine Stadt gibt, die sich untrennbar mit der Geschichte dieser Mafiafamilie verbunden hat, dann ist es Neapel. Jenes Leben jenseits des Rechtsstaates übt eine Faszination aus, die sich diametral unterscheidet von einer gutbürgerlichen „Spiesserexistenz“ (Auch der Schreibende zählt sich zu den Spiessern!) in der Schweiz.

Und seit man mit Buch und Film zu „Meine geniale Freundin“ gar den Duft dieser Stadt in der Nase zu finden glaubt, trägt auch Neapel selbst eine Aura in sich, die auch mich, der ich noch gar nie in dieser Stadt war, fasziniert. Ausgerechnet eine Stadt, die nicht weit von einem immer noch in der Tiefe aktiven Vulkan pulsiert, eigentlich auf einem Pulverfass, von dem die Wissenschaft schon lange warnt, er könne jederzeit zur Hölle werden.

Franco Supino «Spurlos in Neapel», Rotpunktverlag, 2022, 256 Seiten, CHF 33.00, ISBN: 978-3-85869-958-9

Aber vielleicht ist die Realität dieser Stadt die perfekte Metapher: Eine Stadt, die sich nicht um ein Morgen kümmert.
Franco Supinos Familie stammt aus Neapel. Seine Eltern kamen von dort in die Schweiz, und wären, wenn ein schweres Erdbeben im November 1980 nicht alle Rückreisepläne vernichtet hätte, damals wahrscheinlich ins Umland Neapels zurückgekehrt. Franco Supino, damals mitten in der Schulzeit, wohl immer wieder in den Ferien in der Stadt seiner Eltern, wehrte sich gegen die Pläne seiner Eltern. Aber das Beben in Irpinia, nicht weit von Neapel, vernichtete nicht nur das Haus seiner Eltern, sondern eine mögliche Familienexistenz dort. Franco Supino blieb in Solothurn, genauso wie in seinem Schreiben über die Existenzen aller, deren Herz an zwei Orte gebunden ist.

Bis in die Gegenwart gibt es für Franco Supino viele Gründe für einen Besuch in Neapel. Und wie immer bei solchen Besuchen schnappt Franco Supino Bilder und Geschichten von Menschen auf, die sich mit seinem eigenem Leben verschlingen. So wie das Leben von Nì, einem afrikanisch-stämmigen Mann, der während ein paar Jahre eine Rolle in der neapolitanischen Camorra spielte, um dann irgendwann scheinbar unauffindbar von der Bildfläche zu verschwinden. Magisch von dieser Person fasziniert, beginnt sich Franco Supino immer tiefer in die Geschichte um diesen Mann, um die Geschichte der Camorra in diesen Jahren zu interessieren. Eine Geschichte, die auch zu seiner hätte werden können, weil es in dieser Stadt kein Leben ganz ohne die Camorra gibt.

Was wäre wenn? Eine Frage, die dickflüssiger Stoff für Literatur ist. Eine Frage, die sich nicht nur Schriftstellerinnen und Schriftsteller stellen. Was wäre geworden, wenn Franco Supino damals nach Neapel zurückgekehrt wäre? Franco Supino lässt sich in eine Recherche fallen, die sich aus meiner Sicht ganz nahe an die Selbstaufgabe begibt. Jene Faszination, die die Was-wäre-wenn-Frage sich mit den Leben der Familie Esposito, einer jener Dynastien, die während einiger Jahrzehnte die Spielregeln in Neapel bestimmte, vermischt. Franco Supino besucht immer wieder seinen Schneider, jene Sorte Handwerker, die auszusterben drohen. Aber auch diese Besuche scheinen Metapher zu sein, denn Franco Supino probiert Kleider, einen Anzug, schaut sich an in einem Spiegel.

Damals, als die Rückreise nach Süditalien drohte, begann der junge Supino in seiner Verzweiflung gar zu beten. Und die Erde bebte 90 Sekunden lang. Lange genug, um einem Leben eine ungeliebte Wendung zu verunmöglichen. Ein Gebet, das den Autor bis in die Gegenwart begleitet.

Franco Supino macht viele Türen auf, nimmt mich mit auf eine Reise in eine Welt, die sich komplett von der meinigen unterscheidet, eine Reise in das 20. Jahrhundert eines Landes, das eigentlich unser Nachbarland ist, sich aber in vielem wie Leben auf einem anderen Stern anfühlt. Ein Leben, das seine Fäden aber längst bis in die Schweizer Provinz gesponnen hat. Franco Supino hält sich eng an Tatsachen. Sein Roman „Spurlos in Neapel“ ist eine literarische Recherche, die spannend und mit grosser Empathie geschrieben ist. Unbedingt lesenswert!

© Franco Supino

Interview

Ein Grundmotto vieler Romane ist das „Was wäre wenn“. Was wäre passiert, wenn damals jenes Beben nicht passiert wäre, wenn du mit deinen Eltern zurück in ihre Heimat gezogen wärst, wenn du nicht viel später immer wieder an den Ort deiner Herkunft zurückgekehrt wärst.  Dieses „Was wäre wenn“ wird umso gewichtiger, je mehr man sich mit seiner Herkunft beschäftigt. Sind SchriftstellerInnen mit einem besonderen Gen ausgerüstet, das sie dauernd mit diesem „Was wäre wenn“ beschäftigen lässt?
Ich glaube, dass die Mehrheit der Menschen ein solches Gedankenspiel gar nicht zulässt. Autor:innen schreiben Geschichten, sie leben in Geschichten. Auch viele lesende Menschen tun das. Das ‘Was-wäre-wenn Gen’ stammt aus diesem Leben in Geschichten und hat wahrscheinlich nichts damit zu tun, dass sie mit ihrem Leben nicht zufrieden wären. Mein Gedankenspiel: was wäre aus mir geworden, wenn wir tatsächlich nach Neapel zurückgekehrt und das Erdbeben nicht gewesen wäre, ist der Motor für meine Geschichte, der Erzählanlass – das siehst du ganz richtig. Der Erzähler fühlt sich ja für das Erdbeben sogar verantwortlich!
Lesen ist immer ein «Was wäre wenn», respektive die Aufforderung, ein anderer Mensch zu werden. Eine Aufforderung, die wir während der Lektüre gerne annehmen – und dann kehren wir in unseren Alltag zurück. Weil wir gerne lesen, lieben wir dieses Was- wäre-wenn-Gen – nicht weil wir unglücklich sind und am Leben leiden. Weil das Leben nun mal ist, wie es ist, lesen wir. Das Leben kann man nicht immer verändern, aber wir können lesen. Lesen ist die beste Art, unser Leben zu ändern. Wenigstens eine Zeitlang. Das glaube ich. Das gleiche gilt für mich als Schreibender: Ich will eine gute Geschichte schreiben, ich schreibe nicht, weil ich leide – zum Beispiel an einer ‘gespaltenen’ Identität. Dass Schreiben und Geschichten Erzählen nebenher auch ein Nachdenken auslösen, ist das Geschenk, das gute Literatur mit sich bringt.

Am Begriff „Secondo“ lastet etwas. Ein Klotz, ein Hemmnis. Oder scheint das nur so? Kann „Secondo“ zu einem Geschenk, zu einem Schatz, einer Quelle werden? 
Secondo ist die Möglichkeit, auch Primo zu sein. Ich kann sehr gut den Italiener spielen, wie auch den Schweizer, und sehr gut alles dazwischen. All die Secondos, also all die Menschen, die von der Generation der Eltern eine andere Kultur mitbekommen als die, die ihre Umgebungswelt, in der sie aufwachsen, bereitstellt, sind eine der wichtigsten Bindemittel der Schweiz; ein Bindemittel zwischen Gemeinschaft der hier Lebenden (ob  zu ‘Ur’-Einwohner oder zu anderen Migrant:innen) wie auch zur Gemeinschaft des Herkunftslandes der Familie.  Mushinga Kambundji fühlt sich ebenso als Schweizerin wie Granit Xhaka oder Murat Yakin. Und untereinander sehen sie sich auch als Schweizer:innen, tragen dazu bei, ein gut funktionierendes Land weiter gedeihen zu lassen. Umgekehrt, in den Ursprungsländern, siehe unten, ist es schwierig, ein System Schweiz aufzubauen.

© Franco Supino

Dein Roman, deine Reisen, deine Recherchen, dein Forschen, dein Suchen – alles scheint ein Versuch des Verstehens zu sein. Warum gedeihen seit Jahrhunderten mafiöse Strukturen, nicht nur in Italien, die sich ausserhalb aller gutbürgerlicher Vorstellungen und Gesetzmässigkeiten organisieren? Haben sich Fragen geklärt oder bloss weitere Türen aufgemacht?
Das für mich Unglaublichste ist der Unterschied zwischen der Schweiz und Italien. Es sind Nachbarländer, aber die Lebensumstände sind diametral. Hier in der Schweiz haben alle mehr oder weniger Sicherheit: in Bezug auf Lohn, Arbeit, Altersvorsorge, Gesundheitswesen, Schule, Staat (im Sinne, dass der ÖV funktioniert, Müllabfuhr, es keine Korruption gibt, o.ä.) – das alles gibt es in Italien nicht oder viel weniger. Es gibt keine Garantie Napoli, dass der Müll abgeholt wird oder die U-Bahn fährt, dass man einen guten Arzt findet, wenn man ihn nicht privat bezahlt – und schon gar nicht als junger Mensch beispielsweise eine Arbeit. Und deshalb fragen sich die Leute: wozu zahle ich eigentlich Steuern?
Die Armut, die Not der Menschen einerseits, die Unfähigkeit des Staates und der absolute Mangel an Vertrauen in den Staat andererseits sind der Nährboden für das organisierte Verbrechen.
Oder, anderes Beispiel: Italien hat jetzt eine Regierung mit einer postfaschistischen Ministerpräsidentin – genau vor 100 Jahren kam Mussolini mit dem Marsch auf Rom an die Macht. Eine wirkliche, durchgehende und durchdringende Distanzierung vom Faschismus gibt es in Italien im Gegensatz zu Deutschland und dem Nationalsozialismus nicht. Viele Italiener:innen denken: Mussolini war nicht so schlimm wie Hitler – er hat vieles auch gut gemacht. In Neapel hat die Mehrheit übrigens für die ‹5 Stelle› gestimmt und nicht etwas rechts – weil sie auf den reddito minimo – das bedingungslose Grundeinkommen – hoffen. Man hat keine Hoffnung mehr in die Politik, hofft auf Gnadengeld, das von irgendwoher kommt.

Sind wir Gefangene unserer Rollen? Was passiert, wenn sich Menschen von ihren angestammten Rollen entfernen oder gar emanzipieren, bekommen wir immer wieder demonstriert. Nicht zuletzt im Literaturbetrieb, wenn ein Buchpreisträger wegen Glitzer und Lippenstift Todesdrohungen erhält. Ist „Spurlos in Neapel“ auch ein Versuch, sich von einer fixen Rolle zu emanzipieren?
Wir sind, was die Umgebung in uns sieht, aus uns macht. Meine Protagonisten, ob der Erzähler oder der Nirone, sie wollen sich in ihrer jeweiligen Umgebung bewähren, beides sind Migranten und werden ein Produkt der Umstände. Einer ein Autor, der andere ein Mafioso. Der Versuch sich davon zu emanzipieren, wenn man mal etwas ‘geworden’ ist,  fällt schwer. Wir können noch so viel tun, was objektiv beweist, zu was wir fähig werden, das wir anders sind und auch etwas anderes könnten, aber die Einschätzung unserer Umwelt grenzen uns ein. Du, Gallus, bist ja ein gutes Beispiel, wie du auch im Literaturbetrieb eine fixe Rolle zugewiesen bekommen hast, die zu verlassen fast nicht möglich ist. Hättest du vor 30 Jahren irgendeinen akademischen Titel erworben, würdest du heute der führende Literaturkritiker des Landes sein und hättest irgendeinen Posten an einer Hochschule oder sonst einer Institution wie Pro Helvetia, BAK, etc.

© Franco Supino

Du bist in der Schweiz aufgewachsen, bewegst dich aber immer wieder zwischen zwei Kulturen. In diesem Hinundher stellt sich die Frage nach Heimat und Zuhause ganz anders, als bei Menschen, bei denen Herkunft und Gegenwart fast deckungsgleich sind. Was macht die Auseinandersetzung mit der „Heimatfrage“ mit dem Schriftsteller und Privatmann Franco Supino?
Entscheidend ist für mich die Sprache, sind die Sprachen: ich bin ein Deutschschweizer, für mich ist die Mundart als mündliche Sprache und das Deutsche als Schriftsprache meine Existenz. Gleichzeitig bin ich einer aus der Umgebung Neapels, rede mit meiner Mutter neapolitanischen Dialekt und lese italienische Bücher, das ist auch meine Heimat. Ich bin gerne beides zu 100%. Als Autor macht diese Auseinandersetzung, dass ich zum Beispiel die Stadt Neapel anders beschreiben und erzählen kann als irgendjemand anders: Als Schweizer und Italiener, als Solothurner und Neapolitaner – und das spürt man hoffentlich im Text. Deshalb habe ich mich auch getraut, dieses Buch zu schreiben.

Franco Supino, 1965 geboren in Solothurn, wuchs als Kind italienischer Eltern zweisprachig auf. Er studierte in Zürich und Florenz Germanistik und Romanistik. Supino ist Dozent an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz und freier Autor. Sein erster Roman «Musica Leggera» erschien 1995. Es folgten fünf weitere Romane, in denen Supino die eigene Migrationsgeschichte und verschiedene Künstlerbiografien erzählerisch erforscht. In den letzten zehn Jahren hat er sich vermehrt der Kinder- und Jugendliteratur zugewandt. Supino lebt mit seiner Familie in Solothurn.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Nina Dick

Ein AutorInnen-Kollektiv stellt junge Texte zur Diskussion. Ein Beitrag auf arttv

10 AutorInnen aus der Schweiz; Dieter Boller, Gianna Olinda Cadonau, Marc Philippe Gallus, Corina Heinzmann, Rebecca Holzer, Agnes Weber, Alessandro Weiler, Stefan Wenger-Ledermann, Pascal Witschi und Katharina Wüthrich lasen aus ihren Texten und diskutieren über ihr Schreiben.

Klicken Sie auf das Bild und sehen Sie den Beitrag in voller Länge.

Schreibkurse, Schreibschulen gibt es viele. Diskussionen darüber, ob „kreatives Schreiben“ erlernt werden kann werden zuweilen heftigst geführt. Auch wenn ihre Wirksamkeit umstritten ist, sind Schreibschulen, sei es eine Vollzeitschule wie das Schweizerische Literaturinstitut in Biel oder Schreibkurse wie das Schreibwerk Ost oder die SAL Zürich, Orte, an denen Schreibbegeisterte ihren Willen, ihre Energie fokussieren. Man will mit dem Schreiben und der Auseinandersetzung darüber Perspektiven öffnen, Techniken erlernen, Mut finden.

Literaturhäuser sind keine Elfenbeintürme, sondern Orte des Wortes, der Poesie, für Stimmen aller Couleur, für ein Publikum, das sich nicht allein mit dem Endprodukt „Buch“ auseinandersetzen will, sondern mit Prozessen, Auseinandersetzung.

Und weil solche Prozesse nie ein Ende finden, haben sich 10 AutorInnen aus allen Teilen der Schweiz in einem Kollektiv zusammengefunden, dass sich auch nach abgeschlossener Ausbildung immer wieder zum gegenseitigen Austausch trifft. Das Literaturhaus Thurgau ermöglichte es diesem Kollektiv, Auszüge aus ihrem Schaffen einem Publikum zu präsentieren. In drei Blöcken mit kurzen Diskussionen gaben AutorInnen mit ganz unterschiedlichen literarischen Absichten einen konzentrierten Einblick in ihr Schaffen.
Während des Apéros im Anschluss bot sich auch für das Publikum Zeit, um auf das Gehörte zu reagieren, sowohl direkt durch Gespräche oder indirekt über Kommentare auf Plakate.

Delphine de Vigan «Die Kinder sind Könige», DuMont

Als Mélanie jung war, wäre sie am liebsten ein Star in einem der blühenden Big Brother Formate geworden. Aber man wollte sie nicht. Jahre später, zusammen mit ihren Kindern, wird sie begehrte Youtuberin mit Hunderttausenden Followern, beginnt mit einem sphärenhaften Flug ins scheinbare Glück. Bis zur Katastrophe. „Die Kinder sind Könige“ von Delphine de Vigan sticht mitten hinein.

Zugegeben, ein erstes Mal legte ich das Buch nach den ersten 30 Seiten weg. Ich hatte keine Lust, mich mit der Welt von YoutuberInnen und FollowerInnen zu beschäftigen, all dem hohlen Nachrennen um Sichtbarkeit, Anerkennung und medialer Präsenz. Vielleicht hatte ich keine Lust, weil mich das Thema als Schreiberling für meine Internetseite und Nutzer von digitalen Plattformen selber betrifft, weil es Zeiten gab, in denen ich sehr wohl mit Neugierde meine Klicks in den Statistiken meiner Webseiten „überprüfte“. Dann nahm ich das Buch doch noch einmal zur Hand, nicht zuletzt darum, weil ich Delphine de Vigan bisher stets schätzte für die Art, wie sie Themen der Zeit mit dem Personal ihrer Romane verknüpft, weil ihre Auseinandersetzung nie platt ist und sie mich stets zwingt, mich mit meiner eigenen Wahrnehmung auseinanderzusetzen. 

Eine junge Frau, gekränkt in ihrem Selbstwertgefühl, mit der Angst drohender Bedeutungslosigkeit, beginnt, ermuntert durch ihren Mann, der spürt, dass seiner Frau etwas fehlt, auf den Tummelplätzen von Social Media zu spielen. Erst ganz zaghaft. Aber sie merkt, wie gut ihr all die Zeichen auf dem Bildschirm tun, immer mehr und irgendwann auch mit ihren beiden Kindern. Mit Kimmy und Sammy. Was als Spass und Beschäftigung beginnt, wird mit der Zeit zu einem Geschäft, das jeden Tag bestimmt, sieben Tage in der Woche. Was sie zu Beginn nur aus der Sehnsucht nach Resonanz tat, wird durch Verträge mit der Freizeitindustrie zum lukrativen Unternehmen. So sehr, dass Bruno, Melanies Mann, seinen Posten im IT-Bereich aufgibt und sich nur noch im Hintergrund seines medial inszenierten Familienglücks engagiert. Melanie ist glücklich. Sie und ihre beiden Kinder repräsentieren das Glück. Das Leben ist ein grosses Spiel und ihre Familie die Gewinner.

Bis alles in sich zusammenbricht. Bis Sam zu seiner Mutter kommt und erklärt, Kim, seine kleine Schwester, sei verschwunden, beim Versteckspiel im Quartier nicht mehr aufgetaucht. Melanie, von sich selbst überzeugt, die Fürsorglichkeit in Person zu sein, macht sich auf die Suche nach ihrer kleinen Tochter, irgendwann die ganze Nachbarschaft, dann die Polizei. Aber das Mädchen finden sie nicht. Es bleibt verschwunden, spurlos.

Delphine de Vigan «Die Kinder sind Könige», DuMont, aus dem Französischen von Doris Heinemann, 2022, 320 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-8321-8188-8

Zum Polizeiteam, das sich auf die Suche nach der kleinen Jimmy macht, gehört Clara. Eine stille, introvertierte Frau, die früh und schnell nacheinander ihre Eltern verloren hatte und sich nur mehr schwer in die Anhängigkeiten einer Beziehung traut. Claras Fähigkeiten, die Stecknadel im Heuhaufen zu finden, ihre Empathie für die kleinen, unscheinbaren menschlichen Regungen, ihre Verbissenheit sich durch nichts abschütteln zu lassen, machen Clara zu einem eigentlichen Gegenpart zur haltlosen Verzweiflung der jungen Mutter Melanie. So sehr die eine den Boden unter den Füssen verliert, den klaren Blick und jede Fähigkeit, das eigene Verhalten zu reflektieren, so sehr krallt sich Clara in den Fall des verschwundenen Mädchens. Bis es völlig überraschend auftaucht und klar wird, dass es nicht um Mord oder Erpressung geht, sondern eigentlich um einen blinden Rettungsversuch.

Klar erzählt Delphine de Vigan spannungsreich und clever vom Ausbeuten von Kindern im Netz, von einem Kriminalfall, der eine ganze Nation in Atem hält. Noch viel mehr erzählt die Autorin von Liebe, von instrumentalisierter Liebe, fehlender Liebe, der Sehnsucht nach Liebe. So blind die Sucht nach Publicity die Mutterliebe pervertieren kann, so blind macht Clara die Angst, verletzt zu werden. Delphine de Vigan seziert das Zuviel und Zuwenig, wie sehr die Angst der Liebe die Luft abschnüren kann.

Im letzten Teil des Romans, in nicht zu ferner Zukunft, die beiden Kinder sind erwachsen geworden, radikal von der Mutter emanzipiert, schnappt Melanie, die noch immer ihr ganzes Leben im Netz produziert und verkauft, die Meldung auf, dass ihre Tochter Jimmy sie vor Gericht verklagt.

Das Netz ist voller Bilder von Kindern. Wir wissen um die Untiefen des World Wide Web, tummeln uns aber in naiver Bedenkenlosigkeit in eben diesen Untiefen. Menschlicher Voyeurismus scheint keine Grenzen zu kennen. Ein Paradox in einer Zeit, in der alles nach Privatsphäre schreit, der Begriff der Menschenwürde inflationär verwendet wird. Delphine de Vigans Roman ist ein subtiler Griff in die eiternde Wunde einer Gesellschaft!

Delphine de Vigan, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman «No & ich» (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman «Nach einer wahren Geschichte» (2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Zuletzt erschien bei DuMont ihr Roman «Dankbarkeiten» (2019). Die Autorin lebt mit ihren Kindern in Paris.

Doris Heinemann, geboren 1957, studierte Romanistik und Germanistik in Köln und Montpellier, arbeitete als Sprachlehrerin, als Übersetzerin im Generalsekretariat des EG-Ministerrats und übersetzt seit 1997 Literatur, u. a. von Christian Gailly, Gabriel Chevallier, Theresa Révay, Yann Queffélec, Jean-Claude Derey und Olivier Rolin.

Beitragsbild © Francesca Mantovani Editions Gallimard

Alex Capus «Susanna», Hanser

Alex Capus ist längst eine Institution. Mag sein, dass ihn der Erfolg seiner Bücher bei den einen suspekt macht. Vielleicht ist es die scheinbare Leichtigkeit seines Erzählens, vielleicht die Tatsache, dass in seiner Sprache die Lust und nicht der Kampf die Töne bestimmen. 

„Susanna“ ist Alex Capus nicht über den Weg gelaufen. Sie wurde ihm zugetragen bei einem der regelmässigen Treffen mit seinem Freund Patrick Tschan, mit dem sich Capus regelmässig zu Pizza und Wein trifft. Bei einer Lesung in St. Gallen erzählte Capus, dass es immer wieder vorkomme, dass ihm Geschichten zugetragen werden, von denen andere überzeugt sind, es verstecke sich eine Perle in der Schale. Dieses eine Mal aber blieb eine solche Geschichte hängen. Die Geschichte einer Frau, die aus dem starren Gefüge einer pietistischen Frömmigkeit ausbrechen musste, die schon im 19. Jahrhundert ihr Leben in ihre eigenen Hände nahm, die stets jene kleine Lücke zur Freiheit offen lassen wollte, die es braucht, um an Selbstbestimmung zu glauben. Die Geschichte einer Frau, die sich den meisten Konventionen ihrer Gegenwart widersetzte und die bis an die Ränder der damals bekannten Welt getragen wurde, genau dorthin, wo staatlich institutionalisierte Unmenschlichkeit einem ganzen Volk die Freiheit entriss, bis zur Begegnung mit dem grossen Häuptling Sitting Bull.

Vor ein paar Jahren flimmerte mit „Die Frau, die vorausgeht“ ein Film über Leinwände und Bildschirme, der die Geschichte einer Catherine Weldon erzählte, die 1889 ins Dakota-Territorium reiste, um dort den Lakota-Häuptling Sitting Bull zu treffen und zu malen, ein Film in romantisch verklärter Hollywoodmanier, der mehr ausklammert, als dass er erzählt. So wie es Sitting Bull gab, der nach dem Sieg der Indianer 1876 am Little Bighorn in Indianershows wie ein wildes Tier in der westlichen Welt vorgeführt und 1890 feige umgebracht wurde, so gab es auch jene Frau – Catherine Weldon, die als Susanna Faesch 1844 in Basel geboren wurde. Susanna Faeschs Mutter, die wie ihre Tochter jenen Stachel der Freiheitsliebe stets in sich trug, entfloh mit der Tochter der Enge einer Stadt, einer Gesellschaft, einer Ehe und trat eine Reise ins Ungewisse, in jenes Land der unbegrenzten Möglichkeiten auf der anderen Seite des Ozeans an. Dort heiratete sie erneut, begann eine leidlich erfolgreiche Karriere als Porträtmalerin, um wie Jahre zuvor ihre Mutter dereinst ihre Koffer zu packen, um erneut jene Reise ins Ungewisse anzutreten, zusammen mit ihrem Sohn und der Idee, dort im Westen des Kontinents jene Freiheit zu finden, nach der sie ein Leben lang suchte, für die sie sich ein Leben lang einsetzte.

Alex Capus «Susanna», Hanser, 2022, 288 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-446-27396-2

Zu Beginn des Romans wird uns von der fatalen Begegnung der kleinen Susanna mit dem Wilden Mann erzählt, einer Kultfigur, die in einem Basler Brauch vom Schiff ans Ufer springt, wilde Tänze aufführt und durch die Stadt zieht. Susanna gerät in den Griff des Wilden Mannes und wehrt sich, in dem sie durch die Maske des Mannes mit dem Finger in sein Auge sticht. Ganz am Schluss des Romans findet die stets Suchende Sitting Bull, die Verkörperung des Wilden Mannes, eine Begegnung, die das Herz der Malerin ein Leben lang nicht mehr loslassen sollte.

Ein historischer Stoff, vielleicht sogar eine Korrektur jenes schmächtigen Films. Aber Alex Capus Intension war es nicht, historischen Stoff nachzuerzählen, schon gar nicht die Begegnung zwischen einer Basler Malerin und eines Sioux Häuptlings, der zur Ikone eines drangsalierten Volkes wurde. „Susanna“ ist ein vielschichtiges Porträt einer Frau und ihrer Zeit. Mit der Freiheit eines Schriftstellers hätte Alex Capus von der Härte eines pietistischen Elternhauses erzählen können, vom leidvollen Kampf einer Frau, die ihren Weg gehen will, von den Mühen einer Porträtmalerin in einem Amerika, das von den Wellen des Fortschritts und der Technisierung überspült wird, vom Freiheitsdrang einer Frau, die sich nicht beugen lassen will. All das schien Alex Capus nur nebensächlich zu interessieren. „Susanna“ ist das feinsinnige Porträt einer suchenden Frau in einer Zeit, in der Frauen auf beiden Seiten des Ozeans nur wenig Spielraum gegeben wurde.

Und „Susanna“ ist ein Fest des Erzählens. Vielleicht ist Alex Capus jüngster Roman einer seiner stärksten. Capus muss nichts mehr beweisen. Er kann es. Es ist schlicht ein Genuss, wenn er sich mit grossem sprachlichem Gestus in eine Szenerie hineingibt, wenn er Blicke offenbart, wenn durch sein Erzählen jene Weisheit spricht, die aus all den Begegnungen von Mensch zu Mensch, seien es auch jene in seiner Bar, die Vielfarbigkeit des Menschseins zeigen. Da wird eine Geschichte erzählt, eine gute Geschichte. Aber was mich viel mehr überzeugt, ist die Art seines Erzählens. Da schreibt einer, dem ein vielstimmiges Orchester zur Verfügung steht, dem ich mit Verzückung lausche, sei es nun im Stillen bei der Lektüre mit den cineastischen Bildern, die aufsteigen oder wenn der Schriftsteller in seiner unnachahmlichen Art hinter einem Stehtischchen steht und vor Publikum erzählt.

„Susanna“ ist Genuss pur.

Alex Capus, geboren 1961 in der Normandie, studierte in Basel Geschichte und Philosophie und lebt heute als freier Autor in Olten. 1994 veröffentlichte er seinen ersten Erzählungsband «Diese verfluchte Schwerkraft», dem seitdem viele weitere Bücher, Kurzgeschichten, Romane und Reportagen folgten. Neben seiner Arbeit als Schriftsteller führt Alex Capus in Olten die Galicia-Bar, die längst zu einem überregionalen Kulturort wurde.

Beitragsbild © Beni Blaser

Helena Adler «Fretten», Jung und Jung

Ich musste während der Lektüre von „Fretten“ immer wieder einmal Luft holen. Helena Adler hat sich auch mit ihrem neuen Roman in einen Rausch geschrieben. Ein Rausch, der mich einsaugt und mich in Sphären trägt, die mich trunken machen. Die Schreibe der Salzburgerin ist wie ein Meteorit; sie schlägt ein und wenn man ihren Kern zu fassen bekommt, schillert er!

Sie schreibt. Aber ihr Schreiben ist anders! Man muss diesen Funkelstein nicht gegen das Licht halten. Er leuchtet von selbst. Sie spielt mit der Sprache in einer Virtuosität, der man in dieser Intensität und Kunstfertigkeit nur ganz selten begegnet. Kann gut sein, dass da etwas zu wachsen beginnt, das dereinst alles andere überstrahlen wird. Dabei ist ihre Sprache längst mächtig genug, dass ich mich als Schreibender in Ehrfurcht verneige. 2020 war Helena Alder mit ihrem Zweitling „Die Infantin trägt den Scheitel links“ in der Shortlist des Österreichischen und der Longlist des Deutschen Buchpreises – und nun 2022 bereits wieder in der Shortlist des Österreichischen Buchpreises. Als ob die Jury noch einmal nachdoppelt – und nun, als logische Konsequenz, der Autorin den Buchpreis ihres Landes zuspricht.

„Wir tanzen um die Wette, und ich tanze um mein Leben. Wir tanzen dem Tod durch die Lappen, denn solange wir tanzen, passiert uns nichts.“

Helena Adler klärt ganz zu Beginn des Buches: fret/ten (süddeutsch / österreichisch) sich abmühen, sich plagen, mühsam über die Runden kommen, sich aufreiben, sich wundreiben.
„Fretten“ ist als Roman die Fortsetzung von „Die Infantin trägt den Scheitel links“. In seiner Art noch zorniger, noch stärker, noch konsequenter. Aus dem Mädchen ist eine junge Frau geworden, die in ihrem Sein, ihrer Wahrnehmung, ihrem Erleben in krassem Gegensatz zu dem steht, was die geranienbehängten Bauernhöfe, die schmucken Kapellen und das saftige Grün mit den schmucken Hügeln und Bergen sonst als Idyll hergeben müssen. 

Helena Adler «Fretten», Jung und Jung, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-99027-271-8

Eigentlich will sie nur weg; weg aus der Fassade, weg aus der Umklammerung von Geschichte und Gegenwart, der Unausweichlichkeit, der Selbstverständlichkeit des Immer-schon-so-Gewesenen. Am liebsten weg aus dem Kaff in die Stadt, auch wenn das Provinznest in der Nähe in nichts der grossen Freiheit entspricht, in die sie sich verbal verabschieden will. Sie, die schon auf einer versifften Rückbank einer Schrottkarre zur Welt kam. Sie schliesst sich als Wilde mit anderen zusammen, streift durch die Gegend, tut all das, wovon sie weiss, dass man es nicht tun sollte, zieht bandenmässig in der Provinzstadt herum. Sie brechen in Villen ein oder auch mal in einen Schlachthof, um die Fleischseiten vom Dach auf jene zu schmeissen, die mit Abendrobe zum Sehen-und-Gesehenwerden pilgern. Sie sind unentwegt auf der Suche, ohne ein Ziel. Sie passen nirgends hin und nirgends hinein, es ist ihnen zuwider, sich einzufügen und unterzuordnen. Rebellion ist Prinzip. Man wiegelt sich auf, ohne zu wissen wohin, wo hinaus. Sie will aus der Hexenküche, auch wenn sie keine Ahnung hat, wo ein Ausweg sein sollte. Die Erzählerin hext selbst. Es fühlt sich an, als wäre die ganze Welt längst zerbrochen und wir die Scherben, die niemand aufsammeln will.

Bis sie schwanger wird, ein Kind bekommt. Bis alles in ihr die Richtung wechselt, nur die Intensität nicht. Bis ihr Blick, der sonst immer nach aussen gerichtet war, mit einem Mal ganz nach innen gerichtet wird. Bis aus der Störerin, der Zerstörerin eine Beschützerin wird, während mich Demut überfällt. Eine noch nie dagewesene Demut, eine abhandengekommene Demut, die ich im Laufe der Jahre aus Trotz gegenüber jeglicher Vergänglichkeit abgelegt hatte… Alles, was zuvor auf Abwehr, Rebellion und Ablehnung eingestellt war, wird zu einem weichen, schützenden Schal um die empfindsame Existenz des Kindes.

„Die Distanz zum Mond ist lächerlich, gemessen an der Liebe zu dir.“

Die Kraft ihrer Sätze, ihrer Bilder ist das eine. Das andere die Melodie, die Musik, laut, kraftvoll, als wäre das Erzählblut mit gedopt, als würde beim Lesen der eigene Puls unmerklich schneller werden. Helena Adler sprüht vor Lust und Witz, vor Spielfreude und Fabulierkunst. Und nichts ist gekünstelt. Helena Adlers Sprache ist ihr ganz eigener, absolut solitärer Sound. Eine Sprachmusik, die unverkennbar nur die ihrige ist. Ich kann nicht behaupten, dass sich aus der Sprache allein heraushören würde, wer sie „spielt“. Bei Helena Adler kann man es! Da wird Wut und Zorn zu ästhetischer Kraft.

Ironie des Moments: Ich las „Fretten“ in einem Zisterzienserkloster. In einer Klause um den Tisch herumschreitend, laut lesend, vorbei an Heiligenbildern und dem gestrengen Blick in Öl gemalter Kirchenmänner. Diesen Roman, der durchsetzt ist mit katholischen Fragmenten aus Psalmen und Gebeten! „Fretten“ ist sprachliche Offenbarung! Man lese und staune!

Interview

Dein ganz eigener Ton, den Du in Deinem Roman anschlägst, steht durchaus in einer österreichischen Tradition. Eine Tradition, die ich so nicht in der Schweizer Literatur der letzten Jahrzehnte herausgehört hätte. Diese Mischung aus ungezügelter Leidenschaft, überbordender Fabulierlust und Wut. Ist das ein letzter Rest Aufbäumen gegen monarchische Obrigkeitsergebenheit?
Was genau das ist, weiss ich selbst nicht. Letzter Rest? Auf keinen Fall. Das ist doch erst der Beginn. Aber ein Aufbäumen, ein Trotz, ein Widerstand: ja, zweifellos. Gegen bestehende Umstände, gegen Borniertheit, gegen Obrigkeitshörigkeit, gegen Intoleranz. Gegen Kapitalismus. Gegen Arschlöcher und scheussliche Wichte, die selbst wie die Made im Speck leben und sich über andere Menschen erheben, vor allem über jene, die unter widrigen Umständen versuchen zu überleben. 

aus dem Atelier der Schriftstellerin und Malerin

„fretten“ ist ein Verb und bedeutet „sich abmühen, sich plagen, mühsam über die Runden kommen, sich aufreiben, sich wundreiben“. Das erklärst Du auch in Deinem Roman. Inhaltlich passt das Verb genau zur Protagonistin. Aber auch zu Dir und Deinem Schreiben? Es scheint, als wäre Deine Art der Sprache, des Schreibens eine sehr musikalische, verbunden mit viel Lust und Freude (auch wenn ich weiss, dass Schreiben harte Arbeit sein kann).
Fretten passt zu mir wie mein finsteres Gesicht zu meinem fiesen Lacher. Für mich ist das ganze Leben ein einziges Gfrett. Ein Passionsweg. Ein ständiges «Sichabmühen und Durchwursteln, ein Über-Abhänge-hangeln, ein unentwegtes Luftanhalten, eine Aneinanderreihung von Augen-zu-und-durch-Momenten, ein andauerndes Aushalten, Überwinden und Fortschreiten ohne Rast. Ob es zu meinem Schreiben passt, das ist eine andere Frage. Es passt in Teilen zu meinem Schreibprozess. In Phasen, in denen es mir nicht gut geht. Da kann ich nämlich nicht schreiben und verzweifle darüber. Dann muss ich mich wieder selbst am Haarschopf aus dem Morast ziehen und von vorne beginnen. Aber dann, wenn es mich packt, bin ich woanders. Dann bin ich Teil des Babylonischen Gartens, blühe dort als Passionsblume und trinke das Wasser aus dem Euphrat.   

Man sieht sie überall in ihrem schwarzen Look, farbigen Haaren, genietet und gepierct. Es scheint immer mehr, dass die Gesellschaft in Gruppen zerfällt, die sich gegenseitig nichts zu sagen haben. Gut, wenn ein Roman wie „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon den Deutschen Buchpreis erhellt und LeserInnen Welten öffnet. Wieviel „Aufklärung“ und „Wachrütteln“ steckt im Schreiben, in Deinem Schreiben?
Das kann ich nicht beurteilen. Den Anspruch auf Aufklärung erhebe ich keinesfalls. Aber freilich ist es ein Wunsch andere Welten zu eröffnen.  

Deine Protagonistin wird schwanger, bekommt ein Kind. Mit einem Mal verändern sich die Perspektiven dieses Lebens in permanentem Aufruhr vollständig. Eine Erfahrung die wohl alle Eltern machen, Mütter mit Sicherheit mehr als Väter. Du bist auch Mutter. Waren das Erfahrungen, die Du auf Deine ganz eigene Art so verschriftlichen musstest?
Manche Rezensenten sehen in «Fretten» eine Fortführung der «Infantin» und ich frage mich, ob ihnen nicht aufgefallen ist, dass sich die Sprache verändert hat. Für mich sind es zwei unterschiedliche Werke, die sich maximal in der Kindheit überschneiden, vielleicht was den Inhalt betrifft. Doch der Kern liegt anderswo, und zwar in der Mutterschaft. Und dafür wollte ich eine eigene Sprache erschaffen, die meiner Empfindung am nächsten kommt. Darüber wurde noch viel zu wenig geschrieben, darüber wollte ich schonungslos und ehrlich sein, aber auch all die Liebe hineinstopfen, die ich für mein Kind empfinde. Auch, wenn meine Mutterliebe das übersteigt, was ich imstande bin, auszudrücken. 

aus dem Atelier der Schriftstellerin und Malerin

Neben dem Schreiben bist Du auch bildende Künstlerin. Deine Romane sind Literatur gewordene Klangbilder. Was unterscheidet Dein Malen von Deinem Schreiben? 
Beides passiert vor allem über ein Gefühl. Frei assoziativ. Das Schreiben geht viel über Klang. Beides ist sehr innwendig. Allerdings bin ich durchs Schreiben ausgelaugter, es entspricht mehr meiner Königsdisziplin. Das Schreiben verlangt mehr ab, hinter der Leinwand kann ich mich besser verstecken. Beim Schreiben bin ich viel ausgesetzter. Das Schreiben ist mein Hirn und Herz, das Malen mein Körper. Vielleicht. 

Schreibende MalerInnen und malende SchriftstellerInnen haben Tradition. Braucht das eine das andere?
Nicht notwendigerweise. In meinem Fall empfinde ich es als Bereicherung. Ich bin Autorin und ich bin auch Künstlerin. In erster Linie aber profitiere ich von meinem inneren Reichtum an Bildern, ich kann jederzeit einen Spaziergang durch meine innwendige Gemäldegalerien antreten, andererseits übersetze ich manchmal durchaus auch Geschriebenes in Skizzen.

Helena Adler, geboren 1983 in Oberndorf bei Salzburg in einem Opel Kadett, lebt als Autorin und Künstlerin in der Nähe von Salzburg. Studium der Malerei am Mozarteum sowie Psychologie und Philosophie an der Universität Salzburg. Mit ihrem Debüt «Die Infantin» war sie auf der Shortlist des Österreichischen und auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020.

Rezension zu «Die Infantin» auf literaturblatt.ch

Beitragsfoto © Eva Trifft

Anna Pieger «Waldrausch», Plattform Gegenzauber

Prä-Positionen

unter Fichten, Föhren, Kiefern, Tannen,
Buchen
wohnt das Dunkel
schäle ich mich aus meiner Haut
schuppe
lege Schicht um Schicht ab
bis ich nackt dastehe
weich, zu verletzlich


zwischen Ahornschösslingen
wächst Klee
zupfe ein Blättchen ab
stecke es zwischen die Lippen
die Zunge schaudert
rolle mich über den Teppich
aus fleischigem Grün
hier findet mich keiner


lehne mich an den rauen Stamm
der Erle
die Sonnenstrahlen suchen
den Grund
blinzle
Sonnenflecken streichen über die helle Hälfte
meines Gesichts
Tränen laufen stumm
tropfen auf frühjahrsmüde Winterlinge





Aufstieg

die Fingerkuppen versuchen
sich in den Sandstein zu bohren
was so rieselt
muss doch nachgeben
Einbuchtungen ertasten
unter den Fingernägeln Monde aus Sand
krümelig, schmirgelnd
kein Halt
rutsche
kratze vergebens Spuren in die Erde
schlittere
Brombeerranke klammert sich an Hand
falle
falle
der Kopf landet zwischen Veilchen und Efeu
schliesse die Augen
um mit dem Schmerz allein zu sein


neben meinem Auge eine
Waldameise gross
ihre Glieder wirken unverbunden
sie arbeitet
ich bleibe liegen
aus dem Laub
das spröde knistert
wachsen Buchenschösslinge
wie zwei dunkelgrüne Fächer
bliebe ich liegen
sie trieben aus meinen Arterien
bis pelzige Blätter aus ihnen sprössen


ziselierte Gräser
gebleicht vom Sommerregen
spielen in einem kleinen Wind
zerfranste Cirruswolken
auf reinzuwaschendem Blau
eine Ahnung von Regen
steigt


rapple mich hoch
streiche mir die Laubpartikel aus dem Haar
betaste die dumpfe Beule
und schreite voran
stolpere über Wurzeln
am Boden ausgebreitet
wie die Finger von Greisen
knochig
verknorpelt, von staubigem Grau
mit erstaunlich festem Griff


finde ein Mohnkronenblatt
dahingeweht
auf Kalkstein
berge es gebückt
in meine Finger
seidig
leuchtet es
schwebt auf der Handinnenfläche
streiche so oft über das Fahnenrot bis
es bricht

 

Anna Pieger, geboren 1981 in München, studierte an der Universität Basel Kunstgeschichte und Philosophie. Ihr literarisches Schaffen umfasst Prosa und Lyrik. Sie lebt mit ihren beiden Kindern in Basel und ist als Co-Leiterin einer Sekundarschulbibliothek sowie als Redakteurin für das Gesellschaftsmagazin ERNST tätig.

Januar bis April 2023 – das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

«Das schöne Gottlieben und eure liebe Gesellschaft geht mir nicht aus dem Kopf – überall schwärme ich davon.» Norbert Scheuer

«Danke für Wortraum und Seewind und Weitsicht und Wein, danke fürs Klangexperiment und einen Ort zum Wiederkehren. Schönste Bühne weitumher.» Simone Lappert

«Besonders schön war es, im Bodmanhaus aus dem Buch zu lesen, das zu guten Teilen auch dort entstanden war. Geschrieben im leeren Haus, vorgelesen vor vollen Rängen, vor Menschen, die seit langer Zeit wieder einmal ihre Gesichter zeigen durften.» Peter Stamm

Literaturhaus Thurgau

Peter Henning «Bis du wieder gehst», Luchterhand

Was braucht es, um mit seiner Vergangenheit ins Reine zu kommen? Wie kann man einer Mutter, die ohne ein Wort in ein bereitstehendes Taxi steigt und nicht mehr wiederkehrt, verzeihen? Damals als Vierjähriger oder im Angesicht des Todes als Erwachsener? Peter Henning schrieb mit biographischen Bildern einen bewegenden Roman über den Versuch des Verstehens.

Als die Mutter für lange Zeit aus seinem Leben verschwand, war Heinrich Kaplan vier. Eine Nachbarin fand den kleinen Jungen, der sich mit einer Decke und Spielsachen in der Badewanne verkrochen hatte, tags danach. Kaplan wuchs im Heim auf, eine Zeit bei seinen Grosseltern, wurde Antiquar, lernte Martha kennen und arrangierte sich mit einem Leben, das schlecht begonnen hatte. Zwar gab es dann und wann Berührungspunkte, aber da die Mutter in den letzten zehn Jahren geschwiegen hatte, spielten Gedanken an sie schon lange keine Rolle mehr. Umso überraschender der Anruf aus einem Krankenhaus: Seine Mutter war mit Herzstillstand auf dem Bahnhof zusammengebrochen und lag im Koma auf der Intensivstation. Man habe bei ihr seine Nummer gefunden und den Hinweis, bei einem Notfall nach ihm zu rufen.

Kaplan hatte sich in seinem Leben eingerichtet. Die Tatsache, dass er mit Martha eine Frau gefunden hatte, die ihm fast alles bedeutete, schien ihn mit seiner Vergangenheit versöhnt zu haben. Eine Tatsache, die mit dem Telefonat zerbröselte, erst recht als er am Bett auf der Station stand, mit einer Frau konfrontiert, die nur noch schwaches Abbild davon war, was er an Erinnerungen mit sich getragen hatte. Kaplan entscheidet sich, sieben Tage lang zu bleiben, in der Wohnung seiner Mutter, das Gefiert einer Frau, die sich bereits aufgegeben hatte. Eine Wohnung ohne Spiegel.

Peter Henning «Bis du wieder gehst», Luchterhand, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-630-87692-4

Peter Hennings zarter Roman widmet sich der Zersetzung jener Bilder, die wir uns automatisch machen, wenn uns schlüssige Informationen zu einem klaren Bild fehlen. Letztlich ist jedes Bild, das wir uns von jemandem zusammenschustern, ein Bild aus Versatzstücken. Aber wenn sich die Erinnerung mit Schmerz, mit Verwundungen koppelt, wenn man vieles an der eigenen Biographie an einer Vergangenheit entschuldigt, die Jahrzehnte im Halbdunkel stand, dann ist nicht verwunderlich, dass mit unfreiwilligen Konfrontationen Bilder auftauchen, die sich mit der fixen Kulisse eines Lebens nicht vertragen.

Nebst der ein Leben lang nagenden Frage, warum die Mutter ihn verlassen hatte, was passiert sein musste, dass jener Schritt für die junge Frau damals der einzig gangbare Ausweg sein konnte, tauchen mit einem Mal Menschen und Bilder auf, die Kaplan dazu zwingen, sich mit dem eigenen Leben, seinen Erinnerungen, seinen Erklärungen auseinanderzusetzen. Kaplan lernt den Nachbarn seiner Mutter kennen, eine alte Freundin seiner Mutter, die Dinge erzählt, die Kaplan erst verdauen muss – und Fetzen einer schrecklichen Kindheit, Erklärungen dafür, dass seine Mutter ein Leben lang nicht bloss auf der Flucht, sondern auf der glücklosen Suche nach Liebe war.

„Bis du wieder gehst“ erzählt vom langen Abschied, letztlich vom Versuch einer Versöhnung. Der Roman ist keine Abrechnung, viel mehr der Versuch einer Annäherung. Peter Henning erzählt behutsam. Sein Protagonist muss sein Leben neu ordnen, denn je tiefer er in das Leben seiner Mutter leuchtet, desto klarer wird, dass nicht nur er das Opfer war, sondern Opferrollen oft von Generation zu Generation weitergegeben werden. Er springt ins Wasser und rettet letztlich sich selbst.

Peter Henning, 1959 in Hanau geboren, studierte Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und lebt heute als freier Schriftsteller und Journalist in Köln. Seit 2015 unterrichtet er zudem als Lehrbeauftragter der Universität Köln Kreatives Schreiben. Seine literarische Arbeit wurde mit Stipendien der Kunststiftung NRW und der Robert Bosch Stiftung gefördert. Zuletzt erschien sein Roman «Die Tüchtigen» im Luchterhand Literaturverlag.

Beitragsbild © Marie Rauch

«Mein Zuhause sind die Bücher» Patrick Tschan mit «Schmelzwasser» im Literaturhaus Thurgau

„In diesem kleinen pittoresken Weiler, am Rhein, zwischen Ober- und Untersee, gibt es nicht nur ein mächtiges Schloss, sondern auch ein Haus, in dem einst ein Dichter wohnte, der seine drei Schreibtische gestern verlassen hatte, um den Lesungen seiner Kolleginnen und Kollegen zu lauschen, die von einem Menschen eingeladen wurden, der wie ganz wenige auf dieser Welt Literatur lebt.“ Patrick Tschan

Patrick Tschan erzählte mir schon vor Jahren mit Leidenschaft von einem Buchprojekt, für das er damals schon des öfteren ins kleine Städtchen am Bodensee gereist war. Weil er aber sehr lange mit der Erzählperspektive zu kämpfen hatte und ihn schmerzhafte Einsichten immer wieder zurückwarfen, dauerte es ungewöhnlich lange, bis der berührende Stoff einer äusserst kämpferischen Frau, die an eine reale Person, eine Buchhändlerin aus Überlingen angelehnt ist, den Weg zwischen Buchdeckel fand.
Aus der realen Buchhändlerin Eleonore Weber wurde die Protagonistin Emelie Reber. Eine kämpferische Buchhändlerin in einem Nachkriegsstädtchen, das exemplarisch ist für die Zeit nach dem Tausendjährigen Reich. Emelie Reber liebt nicht nur die Freiheit, die Wahrheit, die Gerechtigkeit, sondern die Sprache, einen untrennbaren Teil der Freiheit, der Wahrheit, der Gerechtigkeit. Und das Buch als Träger davon. Bücher als Inbegriff der Kultur. Sie bringt Tausende von Büchern aus Paris mit ans Bodenseeufer. Gleichzeitig ist Emelie Reber eine Versehrte, in vielerlei Hinsicht, auch in der Liebe. Trotzdem strahlt sie in unbändiger Kraft, mobilisiert eine ganze „Bewegung“.

„Ich weiss nicht, ob Mut einfach eine andere Form von Angst ist.“

Jeder Krieg ist ein Vernichtungskrieg. Ein Vernichtungskrieg gegen Leben. Aber auch ein Vernichtungskrieg gegen Kultur, nur schon deshalb, weil sich Kultur an keine Grenzen hält. Sinnbildlich in Deutschland für den Wiederaufbau in den Nachkriegsjahren, auch jener der Kultur, waren die „Trümmerfrauen“. Männer schlagen sich die Köpfe ein, Frauen ordnen, was übrig bleibt. „Schmelzwasser“ ist ein KämpferInnenroman.

Patrick Tschan erzählte im Literaturhaus Thurgau in seiner unnachahmlichen Art von einer kleinen Stadt, die sich, angetrieben von Frauenpower, aus dem Würgegriff alter Strukturen befreit. Da erzählte ein in Leidenschaft Getauchter nicht einfach von seinem Buch, sondern von der Macht der Literatur. Patrick Tschan ist einer, der an die Kraft der Literatur, die positive Macht der Worte glaubt. „Schmelzwasser“ ist eine Geschichte des Widerstands, des Kampfs gegen Unfreiheit und Borniertheit. Widerstand ist Überzeugung.

Zur Rezension von «Schmelzwasser»

Beitragsfotos © Sandra Kottonau