Annie Ernaux «Eine Frau», Bibliothek Suhrkamp

Stirbt die Mutter oder der Vater, drängen sich Fragen der eigenen Existenz auf. Vielleicht, weil man mit dem Tod der Eltern unmittelbar auf sich selbst zurückgeworfen ist, weil einem das Gefühl des Getragenseins genommen wird, weil die Endlichkeit unweigerlich vor Augen rückt. Annie Ernaux setzt im Titel ihres Erinnerungsbuches an ihre Mutter einen unbestimmten Artikel. «Eine Frau» ist ein Buch über eine ganze Generation von Frauen.

«Ich werde ihre Stimme nie mehr hören. Sie, ihre Worte, ihre Hände, ihre Gesten, ihr Gang und ihre Art zu lachen waren es, die die Frau, die ich heute bin, mit dem Kind, das ich gewesen bin, verbunden haben. Ich habe die letzte Brücke zu der Welt, aus der ich stamme, verloren.»
Die letzten drei Sätze des nicht einmal 100seitigen Romans von Annie Ernaux, von dem sie selbst schreibt, es sei «keine Biographie und natürlich auch kein Roman, eher etwas zwischen Literatur, Soziologie und Geschichtsschreibung». Keine Biographie, weil Annie Ernaux fast ganz auf Wertungen verzichtet und ganz auf den Anspruch, ein vollständiges Bild zeichnen zu wollen, mit ihrem Schreiben ein Leben auszuleuchten. Kein Roman, weil Annie Ernaux nie in die Rolle ihrer Mutter hineinschlüpft, nie nachzuempfinden versucht, was die Mutter denkt und fühlt. Obwohl Annie Ernaux bei ihren LeserInnen viel Mitgefühl und Resonanz erzeugt, bleibt ihr Schreiben erstaunlich sachlich, ganz nah an Fakten, Fakten die den Sepiagilb behalten, nie verklären, nie beschönigen und schon gar nicht romantisieren.

Annie Ernaux: „Eine Frau», Bibliothek Suhrkamp, 2019; 88 Seiten, 27.90 CHF., ISBN: 978-3-518-22512-7.

Vielleicht liegt die Faszination ihres Schreibens in dem, was es auslöst. Wir sind alle Töchter und Söhne. Unsere Mütter und Väter sterben. Was sie hinterlassen, lässt sich in keinem Fall einfach wegwischen, begleitet uns ein ganzes Leben, bewusst oder unbewusst. All das, was einen Vater oder eine Mutter ausmachte, liess uns zu dem werden, was wir sind. Wer in einen Spiegel schaut, sieht viel mehr als nur sich selbst. Mütter sterben, verschieben eine Existenz. Mütter sind immer da, in welchem Aggregatzustand auch immer. Sie waren Jahrzehnte der Boden, auf dem es keimte, das Kissen, auf das man fiel oder sich zurücklehnen konnte, Zündstoff und Bremse, Knautsch- und Komfortzone.

Annie Ernaux› Mutter erkämpfte sich ihren Platz, jenen in ihrer Familie, an der Seite ihres Mannes, im Geschäft als Unternehmerin, in der Gesellschaft. Auf ihrer Fahne stand «Um jeden Preis die Lage verbessern», ihre eigene, die ihrer Familie, die ihrer Kinder, ihrer Tochter. Dafür arbeitete sie von früh morgens bis in die Nacht, ein ganzes Leben lang, bis ihr Krankheit und Demenz das Szepter aus der Hand nahmen. Ihr grösster Wunsch war es, der Tochter all das zu geben, was ihr verwehrt blieb, trotz ermahnenden Sätzen wie «Du hast so viel und bist trotzdem nie zufrieden». Eine Frau, die Liebe mit Strenge gleichsetzt, die an der Ladentheke mit aller Freundlichkeit die Kundschaft bediente, um Augenblicke später Ohrfeigen in der Küche zu verteilen wegen übermässigem Lärm. Und später, in den unruhigen Siebzigern, als der Vater starb, wurde aus der Tochter-Mutterbeziehung ein veritabler Klassenkampf.

«Eine Frau» berührt ungemein!

über den Vater

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Bücher sind von Kritik und Publikum gleichermassen gefeiert worden.

Sonja Finck, geboren 1978 in Moers, studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf. Inzwischen lebt sie als literarische Übersetzerin in Berlin und Gatineau (Kanada). 2019 erhielt sie den Eugen Helmlé-Übersetzerpreis.

Annie Ernaux «Der Platz», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Catherine Hélie / Editions Gallimard