Annie Ernaux «Das Ereignis», Suhrkamp, Nobelpreis 2022

2022 heisst die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux. Für einmal eine fast einhellig positiv kommentierte Entscheidung der Schwedischen Akademie, auch wenn man sich in den Medien im Nachgang wie die Geier auf das politische Engagement der Autorin stürzte. Aber den wenigen Misstönen zum Trotz: Annie Ernaux repräsentiert als Nobelpreisträgerin eine Stimme, die sich ganz nah ins 20. Jahrhundert schrieb, unmittelbar.

Auch in „Das Ereignis“ schreibt sich Annie Ernaux in die eigene Geschichte zurück. „Wer weiss, ob Erinnerung nicht bedeutet, auf den Grund der Dinge zu sehen“ heisst es vor dem Roman – ein Zitat von Yûko Tsushima, einer japanischen Schriftstellerin, die ebenfalls stark autobiographisch schrieb. Annie Ernaux war 1963 23-jährig schwanger. Ungewollt, mitten im Studium, in einer Zeit, als in Frankreich ein Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stand, unter Strafe für alle; die Schwangere, Ärztin oder Engelmacherin, selbst für jene, die einen solchen Akt in die Wege leiteten. Wer 1963 in Frankreich ungewollt schwanger war und händeringend nach Hilfe suchte, stiess auf eine Wand der Angst, des Schweigens und der Scham.

Annie Ernaux «Das Ereignis», Suhrkamp, 2021, aus dem Französischen von Sonja Finck, 104 Seiten, CHF 25.90, ISBN 978-3-518-22525-7

Für Annie Ernaux muss diese Erinnerung in mehrfacher Hinsicht zu einer schriftstellerischen Notwendigkeit geworden sein. Zum einen war das Ereignis eine Zäsur in einem noch jungen Leben, dass damals dachte, alles im Griff zu haben. Zum andern war und ist sich sowohl die Frau, die Schriftstellerin, wie auch die Kämpferin für die Rechte der Frau bewusst, was mit jenem Schritt in und mit ihrem Körper passierte. Annie Ernaux beschreibt die verschiedenen Momente des Verlusts derart plastisch, dass es einem schaudert. Seien es die Momente des Alleinseins mit einer Entscheidung, die sie damals gerne geteilt hätte, sei es die beschämende Suche nach Hilfe, die Abweisung all jener, die sonst eigentlich zu Beistand verpflichtet wären, der Gang in Hinterhöfe, der Schmerz, die Leere, die unsäglich Angst, gleich in mehrfacher Hinsicht für eine Entscheidung büssen zu müssen.

So schmal das Buch ist, hundert Seiten, so schwergewichtig ist nicht nur der Inhalt, die Auseinandersetzung, sondern auch die Sprache, die absolut ehrliche und unmittelbare Nähe ihres Schreibens, die ungeheuerliche Blösse preisgibt. Annie Ernaux schrieb das Buch Ende 1999, mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Ereignis. Ein Ereignis, dem sie sich stellen muss, das ihr alles abverlangte damals und es noch einmal tat, als sie sich den Erinnerungen mit aller Konsequenz stellte. „Das Ereignis“ ist weder Erklärungsversuch noch Entschuldigung. Annie Ernaux geht es weder um das eine noch um das andere. „Das Ereignis“ ist die schonungslose Auseinandersetzung mit sich selbst, das Verhindern von Vergessen, die Tatsache, dass sich damals Weichen stellten, die bis in die Gegenwart wirken, dass sie sich auch Jahrzehnte später immer und immer wieder jenem Ereignis stellen muss.

Während pseudoklerikale, reaktionäre und konservative Kräfte ganze Demonstrationszüge mobilisieren können, amerikanische Bundesstaaten den Schwangerschaftsabbruch kriminalisieren, selbst dann, wenn Frauen das Opfer von Gewalt sind und auch in Europa Tendenzen sichtbar werden, die der Selbstbestimmung der Frau entgegenwirken, wird ein Buch wie dieses zu einer Stimme, die mit aller Deutlichkeit klarmacht, wie schwerwiegend ein solcher Entscheid ist, wie fatal es sein kann, wenn Frauen in solchen Situationen keine Optionen zur Verfügung stehen, wie grauenvoll es sein muss, bis eine Frau aus lauter Verzweiflung mit einer Stricknadel hantiert.

„Das Ereignis“ ist ein Ereignis!

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermassen gefeiert worden. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Nobelpreis für Literatur.

Sonja Finck übersetzt aus dem Französischen und Englischen, darunter Bücher von Jocelyne Saucier, Kamel Daoud, Chinelo Okparanta und Wajdi Mouawad. Für ihre Ernaux-Übersetzungen wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet.
 

Rezension von «Die Frau» von Annie Ernaux auf literaturblatt.ch

Rezension von «Der Platz» von Annie Ernaux auf literaturblatt.ch

Mein kurzes Fazit zum Film: Absolut sehenswert, mit einer beeindruckenden Hauptdarstellerin, eine gelungene Literaturverfilmung.

Beitragsbild © Catherine-Hélie Gallimard

Annie Ernaux «Eine Frau», Bibliothek Suhrkamp

Stirbt die Mutter oder der Vater, drängen sich Fragen der eigenen Existenz auf. Vielleicht, weil man mit dem Tod der Eltern unmittelbar auf sich selbst zurückgeworfen ist, weil einem das Gefühl des Getragenseins genommen wird, weil die Endlichkeit unweigerlich vor Augen rückt. Annie Ernaux setzt im Titel ihres Erinnerungsbuches an ihre Mutter einen unbestimmten Artikel. «Eine Frau» ist ein Buch über eine ganze Generation von Frauen.

«Ich werde ihre Stimme nie mehr hören. Sie, ihre Worte, ihre Hände, ihre Gesten, ihr Gang und ihre Art zu lachen waren es, die die Frau, die ich heute bin, mit dem Kind, das ich gewesen bin, verbunden haben. Ich habe die letzte Brücke zu der Welt, aus der ich stamme, verloren.»
Die letzten drei Sätze des nicht einmal 100seitigen Romans von Annie Ernaux, von dem sie selbst schreibt, es sei «keine Biographie und natürlich auch kein Roman, eher etwas zwischen Literatur, Soziologie und Geschichtsschreibung». Keine Biographie, weil Annie Ernaux fast ganz auf Wertungen verzichtet und ganz auf den Anspruch, ein vollständiges Bild zeichnen zu wollen, mit ihrem Schreiben ein Leben auszuleuchten. Kein Roman, weil Annie Ernaux nie in die Rolle ihrer Mutter hineinschlüpft, nie nachzuempfinden versucht, was die Mutter denkt und fühlt. Obwohl Annie Ernaux bei ihren LeserInnen viel Mitgefühl und Resonanz erzeugt, bleibt ihr Schreiben erstaunlich sachlich, ganz nah an Fakten, Fakten die den Sepiagilb behalten, nie verklären, nie beschönigen und schon gar nicht romantisieren.

Annie Ernaux: „Eine Frau», Bibliothek Suhrkamp, 2019; 88 Seiten, 27.90 CHF., ISBN: 978-3-518-22512-7.

Vielleicht liegt die Faszination ihres Schreibens in dem, was es auslöst. Wir sind alle Töchter und Söhne. Unsere Mütter und Väter sterben. Was sie hinterlassen, lässt sich in keinem Fall einfach wegwischen, begleitet uns ein ganzes Leben, bewusst oder unbewusst. All das, was einen Vater oder eine Mutter ausmachte, liess uns zu dem werden, was wir sind. Wer in einen Spiegel schaut, sieht viel mehr als nur sich selbst. Mütter sterben, verschieben eine Existenz. Mütter sind immer da, in welchem Aggregatzustand auch immer. Sie waren Jahrzehnte der Boden, auf dem es keimte, das Kissen, auf das man fiel oder sich zurücklehnen konnte, Zündstoff und Bremse, Knautsch- und Komfortzone.

Annie Ernaux› Mutter erkämpfte sich ihren Platz, jenen in ihrer Familie, an der Seite ihres Mannes, im Geschäft als Unternehmerin, in der Gesellschaft. Auf ihrer Fahne stand «Um jeden Preis die Lage verbessern», ihre eigene, die ihrer Familie, die ihrer Kinder, ihrer Tochter. Dafür arbeitete sie von früh morgens bis in die Nacht, ein ganzes Leben lang, bis ihr Krankheit und Demenz das Szepter aus der Hand nahmen. Ihr grösster Wunsch war es, der Tochter all das zu geben, was ihr verwehrt blieb, trotz ermahnenden Sätzen wie «Du hast so viel und bist trotzdem nie zufrieden». Eine Frau, die Liebe mit Strenge gleichsetzt, die an der Ladentheke mit aller Freundlichkeit die Kundschaft bediente, um Augenblicke später Ohrfeigen in der Küche zu verteilen wegen übermässigem Lärm. Und später, in den unruhigen Siebzigern, als der Vater starb, wurde aus der Tochter-Mutterbeziehung ein veritabler Klassenkampf.

«Eine Frau» berührt ungemein!

über den Vater

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Bücher sind von Kritik und Publikum gleichermassen gefeiert worden.

Sonja Finck, geboren 1978 in Moers, studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf. Inzwischen lebt sie als literarische Übersetzerin in Berlin und Gatineau (Kanada). 2019 erhielt sie den Eugen Helmlé-Übersetzerpreis.

Annie Ernaux «Der Platz», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Catherine Hélie / Editions Gallimard

Annie Ernaux «Der Platz», Bibliothek Suhrkamp

Annie Ernaux bezeichnet sich selbst als «Ethnologin ihrer selbst». Weit gefehlt, wer glaubt, die Schriftstellerin betreibe damit Nabelschau. «Der Platz» ist eine Liebeserklärung an den toten Vater, eine Liebeserklärung an die Entschlossenheit eines Lebens.

Mehr als ein Vierteljahrhundert nach seinem Erscheinen und seiner Erstübersetzung auf Deutsch unter dem Titel «Das bessere Leben» erschien «la place» in einer sorgfältig neu übersetzten Ausgabe im vergangenen Jahr in der legendären Bibliothek Suhrkamp, in der «Bibliothek der Klassiker der Moderne». Annie Ernaux’s Erzählkosmos ist sie selbst, ihre Geschichte, ihre Herkunft, ihre Familie. Und kaum einer Autorin oder einem Autor sonst gelingt diese Art der Erkundung auf eine so schlichte, bescheidene, sachliche und fast dokumentarische Art wie Annie Ernaux. Kein Wunder spaltet die Autorin. Die einen werfen ihr vor, man lese nur immer und immer wieder das gleiche, Banales. Andere bezeichnen ihr Schreiben als geniale Mischung von Autobio- und Historiographie.

Annie Ernaux nimmt den Tod ihres Vaters als Anlass über ihn und sein Leben zu erzählen, ein Leben von Beginn des 20. Jahrhunderts, an zwei Kriegen vorbei, von bitterster Armut, dem Kampf ums Überleben, der permanenten Ernüchterung und der Angst vor Verlust. Ihr Vater konnte kaum lesen, kaum schreiben. Zeitlebens waren ihm Bücher, Bildung, Intellekt suspekt. Er war Bauer, Arbeiter, schaffte es irgendwann selbst Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens mit Ausschank zu werden, wurde aber nie der, der sich in seinem Stand sicher fühlte. Sein Leben bestand aus Arbeit, Kampf und der Einsicht, dass einem nichts geschenkt wird. Selbstverständlichkeiten aus heutiger Sicht, wie Ferien oder minimaler Luxus waren ihm fremd. Durch nimmermüden Einsatz gewonnener Überfluss verpflichtete zu Hilfe und Unterstützung jener, denen das Glück sich verweigerte. Leben bestand aus Arbeit. Man lebte, um zu arbeiten. Auch wenn sich heute solche Sätze umkehren, liest sich die Lebensgeschichte dieses Mannes als wäre sie prähistorisch. Dabei braucht man nur in den Fotoalben unserer Gross- und Urgrosseltern zu stöbern und man trifft sie wieder, die Ehepaare, die schwarz gekleidet vor einer drapierten Kulisse mit todernstem Gesicht dem Fotografen in die Linse starren.

Auch wenn sich der Text nüchtern, fast sachlich gibt, drückt der Schmerz hindurch, die Trauer darüber, nie jene Nähe zum Vater gewonnen zu haben, die das letzte Verstehen ermöglicht hätte, das beiderseitige Verstehen: «Vielleicht hätte er lieber eine andere Tochter gehabt.»

«Vielleicht sein grösster Stolz, sogar sein Lebenszweck: dass ich eines Tages der Welt angehöre, die auf ihn herabgeblickt hatte.»

Annie Ernaux will verstehen. Sie öffnet sich selbst das Fenster zur Vergangenheit und blickt auf das Leben ihres Vaters, dem sie nur schreibend nahe kommen kann. Annie Ernaux schenkt mir als Leser einen Blick mitten in dieses Leben, eine Vergangenheit, die sich leicht verklärt, sei es durch Filme oder die Literatur selbst. Annie Ernaux beschönigt nichts. Wer ihre Bücher liest, spürt dem haftenden Gerüchen von Armut und Demut nach. Ihr Erzählen ist nüchtern, ohne Metaphern, chronologisch, ohne Abschweifungen. Einzige kurze Reflexionen über das Schreiben selbst durchziehen den Text, machen klar, mit wie viel Ringen das Schreiben verbunden ist.

«Der Platz» ist eine Annäherung an den Vater. «Eine Frau» jene an ihre Mutter. Ein perfekter Einstieg in das Leseabenteuer Annie Ernaux!

© Catherine Hélie / Editions Gallimard

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Bücher sind von Kritik und Publikum gleichermassen gefeiert worden.

Sonja Finck, geboren 1978 in Moers, studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf. Inzwischen lebt sie als literarische Übersetzerin in Berlin und Gatineau (Kanada). 2019 erhielt sie den Eugen Helmlé-Übersetzerpreis.

Annie Ernaux über ihr Schreiben und ihr Buch «Der Platz»

Beitragsbild © Sandra Kottonau