Nathalie Schmid «Lass es gut sein», Geparden

Muttersein zwingend mit Mutterglück zu verbinden, ist ebenso naiv wie weltfremd, zumindest jetzt, in Zeiten, in denen die Stereotypen von Familie aufbrechen. Nathalie Schmid hat sich an einen Stoff gewagt, den alle mit sich herumtragen, an Fragen, die niemanden kalt lassen, auch die Väter nicht. Und Nathalie Schmid traut sich, sich mit jedem Satz gegen den Titel ihren Romans zu stemmen; „Lass es gut sein“.

Larissa erzählt. Eine Frau, fest eingebunden in ihre Familie. Als Mutter, Schwester, Tochter und Enkelin. Dieses Eingebundensein ist wie ein Netz. Ein Netz, das sie ebenso hält wie zurückhält, ein Netz, das ebenso trägt wie fesselt. „Lass es gut sein“ ist der erzählte Versuch, der Lebenssituation eine Ordung zu geben, sich Gewissheiten zu verschaffen, zu überprüfen, wie sehr die Gegenwart an der Vergangenheit klebt oder endlich jenes Fenster aufgeht, von dem man sich freie Sicht in die Zukunft verspricht.

In christlicher Tradition sind wir einem demütigen Mutterbild verbunden; jener sanften Frau, die ergeben dem Kind alles gibt, was es braucht, ganz selbstverständlich alle Liebe und Hingabe – bis zur Selbstaufgabe. Frauen, die sich dieser scheinbar selbstverständlichen Rolle verweigern, werden noch immer mit Argwohn kommentiert, ausser die Karriere gibt ihnen die Rechtfertigung, sich „ihrer Bestimmung zu verweigern“. Larissa ist Restauratorin, hat sich ihr eigenes Atelier im kleinen Ort eingerichtet, wartet aber vergebens auf Auträge, dümpelt in Beschäftigungen und dem permanenten Hadern mit der Situation.

Nathalie Schmid «Lass es gut sein», Geparden, 2023, 316 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-907406-01-4

Larissa ist sich nicht sicher. Nichts scheint sicher. Bin ich die Mutter, die ich sein müsste? Bin ich die Tochter, die ich sein müsste? Muss ich damit rechnen, dass ich dereinst mit eben jenen Vorwürfen konfrontiert werde, die ich meiner Mutter mache? Larissas Mutter ist so sehr in ihr eigenes Leben eingebunden, dass es selbst Larissa schwer fällt, diese Distanz zu akzeptieren. Vielleicht bin ich Restauratorin geworden, weil ich lieber einen Weg zurückverfolge, als mir einen neuen auszudenken. Larissas Kinder werden erwachsen. So wie sie sich distanzieren, versucht sie sich aus der Umklammerung ihrer Familie zu distanzieren.

„Wir konnten einander nicht retten, die Tage nicht stemmen, das Licht nicht finden.“

„Lass es gut sein“ ist nicht in erster Linie ein Roman, der eine Geschichte erzählen will. Der Roman beschreibt den Befreiungsversuch einer Frau, die in einem Dazwischen gefangen ist. In Rückblenden hinein in ihre Kindheit, in die vielen Streitereien mit ihrer eigenen Mutter, den unsäglich vielen kleinen Lügen, um sich herauszuwinden. Von den Versuchen als junge Frau, den Konventionen zu trotzen, um dann doch in sie hineinzurutschen, sich den ungeschriebenen Vorschriften entgegenzustellen. Vom Kampf gegen Überforderung, Zweifel und Unsicherheit. Ich will die Augen schliessen und mich davontreiben lassen, weg von hier, von diesem Haus, aus dieser Ehe, aus der gesamten Verantwortung, die so schwer wiegt und der ich mich zu stellen habe. „Lass es gut sein“ ist eben dieser Versuch, eine ehriche Auseindersetzung, der die Ausweglosigkeit droht. Keine heldenhafte Geschichte einer Frau, die allem trotzt, sondern das verletzliche Spiegeln in die Mechanismen einer gesellschaftlichen Festlegung.

„Leben wir nicht alle mit angezogener Handbremse?“, fragt sich Larissa. Dass es nicht einfach ein schneller Akt sein kann und hopp die Handbremse ist gelöst, erzählt Nathalie Schmid mit grösster Sensibilität. Ist das Leben, das ich führe, das Leben, das mir bestimmt ist? Nathalie Schmid nimmt mich mit in eine Auseinandersetzung. Keine entblössende Nabelschau, keine exibitionistische Selbstzerfleischung, aber der mäandernde Weg einer Selbstbestimmung. Dass sich die Autorin in ihrer Perspektive zwischen die Fronten schiebt, macht den Roman flirrend, auch wenn ich mir mehr Reibung gewünscht hätte. Ihr Buch ist mutig!

Nathalie Schmid, geboren 1974 in Aarau (CH). Sie studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und arbeitet als Schriftstellerin und Erwachsenenbildnerin. Bisher sind von ihr drei Gedichtbände erschienen. «Lass es gut sein» ist ihr Debütroman. Für ihre Texte hat sie u.a. den Publikumspreis des MDR-Literaturwettbewerbs und ein Aufenthaltsstipendium der Stiftung Landis & Gyr in London erhalten.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Miklós Klaus Rózsa

Tabea Steiner mit «Immer zwei und zwei» im Literaturhaus Thurgau

«Es ist, als käme man nach langer Zeit zu Hause an, wenn man die alten knarrenden Stiegen dieses Riegelhauses hinaufsteigt, und zuoberst vom Giebel her hinausblicken kann auf diese uralte Gletscherlandschaft, dieses Gewässer, das nach 4000 Jahren einen Einbaum freigegeben hat, dieses Weltkulturerbe, den Gnadensee. Gallus Frei und sein Team machen diesem Kleinod mit ihrer Herzlichkeit alle Ehre.» Tabea Steiner

Tabea Steiner im Gespräch mit der Moderatorin Cornelia Mechler

Tabea Steiner, Jahrgang 1981, ist auf einem Bauernhof ganz in der Nähe des Bodensees aufgewachsen und hat Germanistik und Geschichte studiert. Sie initiierte das Thuner Literaturfestival Literaare, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und war bis 2022 Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. 2011 hat sie an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teilgenommen, 2019 war sie LCB-Stipendiatin. 2019 erschien ihr erster Roman «Balg», der für den Schweizer Buchpreis nominiert war. Gründe genug, um die umtriebige Schriftstellerin und Streiterin für das gute Buch nach Gottlieben einzuladen.

Natali ist Lehrerin, verheiratet, Mutter zweier kleiner Töchter und fest eingebunden in ihrem Leben und ihrer Glaubensgemeinschaft. Die Freikirche ist fixer Bestandteil der Wochenroutine, vor dem Essen spricht ihr Ehemann Manuel das Gebet und die Kinder gehen selbstverständlich in die Sonntagsschule. Doch alles ändert sich, als sich Natali verliebt — in eine Frau.

Die Gemeinschaft der Freikirche: Man schaut aufeinander. Die Mitglieder helfen und unterstützen sich – sofern sich alle an die klaren Vorschriften halten und nicht ausscheren. Tabea Steiners Roman ist keine Abrechnung mit Freikirchen, aber zeigt sehr wohl die negativen Seiten, sei es das Vorherrschen des Patriarchalen oder der Enge, aus der einer solchen Gemeinschaft schnell Zwang, Restriktion und ein Bewusstsein wird, dass das Aussen zum Bösen, die Gemeinschaft als letzte Bastion des Guten stilisiert. Sex vor der Ehe ist verpönt, der Mann gilt als Oberhaupt der Familie, und «Geschichten» mit denen komplexe Fragen einfach erklärt werden, wenn der Leiter in der Sonntagsschule Natalis Töchtern mit seiner Beschreibung eines strafenden Gottes schlaflose Nächte bereitet, sind Programm.

Der Roman war für die Autorin ein grundsätzliches Nachdenken über Strukturen und Dynamiken einer kirchlichen Gemeinschaft. Es sollte keine «Ausbruchsgeschichte» sein, kein «Befreiungsroman», weder für die Protagonistin noch für sie selbst, wie in Romanen wie «Unorthodox» von Deborah Feldmann. Und doch ist der Roman weit mehr als einer über die Problematik von Freikirchen. Gruppierungen, die für sich das Wahre, Echte, Richtige beanspruchen und alle «Aussenstehenden» bedauern oder gar verurteilen, gibt es überall. Sei es in der Politik, in gesellschaftlichen Fragen, Corona hat es mehr als deutlich vor Augen geführt, selbst beim Lifestyle.

Ein Roman, der mit Äusserlichkeiten Inneres beschreibt, sein Personal weder analysiert noch ausleuchtet, mir als Leser das Maximum an Interpretationsspielraum lässt, genau das Gegenteil dessen, was solch eng gefasste Gemeinschaften erlauben. Scheinbar leicht und flockig darüber, wie sehr man Lebensentwürfe einer Ordnung, einer Struktur zu opfern bereit ist, in einer Zeit, die Offenheit, Toleranz und Vielfalt propagiert.

Beitragsbilder © Gallus Frei-Tomic

Mathijs Deen «Der Taucher», Mare

Vor den Nordseeinsel Amrum stösst das niederländische Bergungsschiff Freyra zufällig auf ein Wrack. Aber bei ersten Tauchgängen eines Roboters findet man nicht nur die auseinandergebrochene Hanne, sondern auch einen ertrunkenen, an die Reling gefesselten Taucher. Kommissar Liewe Cupido taucht!

Das Meer, so weit das Auge reicht. Manchmal ruhig, manchmal wild. Was an seiner Oberfläche rein und unberührt erscheint, birgt an seinem Grund einen Teppich aus Zeugnissen der Vergangenheit: Versenktes, Untergegangenes, Verlorenes, Entsorgtes, Vergessenes. Dass es Schätze zu bergen gibt, wissen wir. Dass sich Unternehmen auf die Bergung solcher Schätze spezialisieren und man sich mit Argwohn beobachtet, ist leicht nachvollziehbar. Jan Matz ist ein solcher, einer, dem seine Tauchgänge längst zur Obsession geworden sind, der in seinem Haus in der Küste, das von seiner Frau und seinen beiden Söhnen längst verlassen wurde, all die Dinge sammelt, die als Spuren auf dem Grund der See liegengeblieben sind. Einer, der vor der Insel Amrum den Kutter Hanne gefunden hat, mit Kupferplatten im Wert von einer Million. Aber wie soll ein Mann allein die tonnenschwere Fracht bergen und möglichst unerkannt an Land bringen?

Jan Matz schafft es nicht. Ganz im Gegenteil. Zufällig findet man ihn in seinem Taucheranzug, mit einer Handschelle an die Reeling der versunkenen Hanne gefesselt, den Schlüssel in Sichtweite für ihn nicht erreichbar, jämmerlich ertrunken. Man findet auch sein Schiff, gekentert und gerammt, weit weg von der Hanne, nimmt Ermittlungen auf, um festzustellen, dass Jan Matz ein Leben hinterliess, das längst in Schieflage geraten war. Eine Exfrau, die nichts mehr mit ihm zu tun haben will, ein älterer Sohn, der immer und immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt kommt, einen Mitschüler halbtot geschlagen hatte und einen jüngeren Sohn, der in seiner ganz eigenen Welt abgesunken ist.

Mathijs Deen «Der Taucher», Mare, aus dem Niederländischen von Andreas Ecke, 2023, 320 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-86648-701-7

Die Ermittlungen im Fall Jan Matz übernimmt Kommissar Liewe Cupido, gebürtiger Deutscher, der aber auf der niederländischen Insel Texel aufgewachsen ist. Man nennt ihn deshalb den „Holländer“. Liewe hat etwas von einem einsamen Seebären, so wie Jan Matz, der tote Taucher. Beide arbeiten lieber für sich alleine, sind nur dann gegen ihren Willen Teamplayer, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Liewe Cupido einziger Begleiter ist sein Hund Vos, den er (fast) überall mitnimmt. Liewe nimmt Spuren auf. Tauchte Jan Matz allein, obwohl es Wochen gedauert hätte, bis das Kupfer geborgen worden wäre? Hat ihm sein Sohn geholfen, für den er immer wieder Alibis für all die krummen Dinger lieferte, mit denen er die Polizei auf Trab hällt? Liewe prallt auf eine Wand des Schweigens, findet aber auch Verbindungen zu einer Tat viel früher, jener verhängnisvollen Begegnung, die einen Jungen für den Rest seines Lebens ins Spital bringen sollte, zu einer Familie, die nicht erst mit jener Tat aus dem Tritt geworfen wurde. Liewe beisst sich fest, denn ein erfahrener Taucher lässt sich nicht so leicht in den Tiefen an eine Reeling fesseln.

Was die Qualitäten des Romans ausmacht, ist weder der Plot noch die kriminalistische Raffinesse. Mathijs Deen erzählt unaufgeregt von Menschen, die in den Stürmen des Schicksals vom Kurs abkommen. Jan Matz, der zum gefährdeten Eigenbrötler wird, sein Sohn, den eine Dummheit aus der Bahn wirft, eine Familie, die sich aus der Opferrolle zu winden versucht und der Ermittler selbst, der längst zu einem Exoplaneten geworden ist, der ausserhalb aller gewohnten Bahnen seine Kreise zieht. Es sind alles mehr oder weniger Gezeichnete, weder Helden noch Bösewichte. Mathijs Deen schafft es, dass ich als Leser für alle Sympathien hege, weil für alle Verständnis wächst.

In „Der Taucher“ wird weder die Tat, noch die dafür aufgewendete Gewalt zelebriert. Kein Pathos und kein Sieg über das Böse bringt die Geschichte zu einem Schluss, von Auflösung kann keine Rede sein. „Der Taucher“ ist ein Roman, der in die Tiefen der menschlichen Seele abtaucht, ein Roman, der beweist, wie viel Schicksal in den Teifen verborgen bleibt. Und „Der Taucher“ ist ein maritimer Roman, der eine salzige Brise in die Lektüre weht, weil Mathijs Deen seine Küste nicht nur zur Kulisse macht. Er nimmt mich mit. Ich tauche mit ihm ein.

Schon 2019 überzeugte mich Mathijs Deen mit seinem Roman „Unter den Menschen“, weil er es wie nur wenige andere schafft, sich in die Leben verlorener Seelen hineinzuschreiben. „Der Taucher“ mit der Genrebezeichnung Krimi zu ettiketieren, wird dem Roman in keiner Weise gerecht. 

Mathijs Deen auf der Insel Föhr

Interview

Du erzählst von Menschen, die in ihrem Leben vom Wind in eine Richtung getrieben wurden, die ihnen das Ruder genommen hat. Auch Dein Ermitter ist weder Held noch Genie. Hinter ihm verbirgt sich eine Geschichte, eine Geschichte, die nur zaghaft zum Vorschein kommt. Sparst Du so für weitere Bücher?
Da mein Hamburger Verlag möchte, dass ich mehrere Bände schreibe, brauche ich tatsächlich eine Geschichte, die über die einzelnen Teile hinausgeht.  
Für mich ist das Schreiben über Liewe Cupido auch ein Versuch, ihn zu verstehen, zu ihm durchzudringen. Das ist in seinem Fall nicht einfach. Er ist ein verschlossener Mensch, und selbst für mich ist es nicht einfach herauszufinden, was ihn antreibt oder was ihm passiert ist.
Trotzdem denke ich gelegentlich voraus. Im ersten Teil habe ich ihm eine dramatische Kindheitserinnerung und einen Hund gegeben. Damit schaffe ich Möglichkeiten, die ich in weiteren Teilen ausnutzen kann. Der Hund führt ihn z. B. zu Miriam. Und wer weiss wo Miriam ihn führt.

Auszug aus dem Schiffstagebuch des deutschen Fischdampfers «Rotersand» vom 17. September 1950

Ganz offensichtlich ist Dir die Welt der Seeleute alles andere als fremd, denn nichts an Deiner Geschichte riecht nach Recherche.
Sicherlich habe ich ein paar Dinge recherchiert. Ich habe mit Tauchern, Fischern, Seeleuten und anderen Inselbewohnern gesprochen. Diese Gespräche habe ich fast alle in das Buch verwoben. 
Ausserdem habe ich das Manuskript von einem Wracktaucher lesen lassen, damit er mich vor Fehlern bewahren könnte. Ich bin selber kein Taucher, genauso wenig wie ich ein Extrem-Wattwanderer bin. Aber ich habe Leute interviewt, die es sind, und ihre Geschichten dankbar verwendet.
Und ja, ich kenne das Meer bis zu einem gewissen Grad. Mein Schwiegervater war Kapitän zur See, meine Frau und ich leben mehrere Tage in der Woche auf der Insel Texel und ich bin selbst einige Male auf dem Meer gesegelt.

Wrackteile vor dem Clubhaus «Duikclub Costa Rica»

Liewe Cupido wird mit seiner eigenen Geschichte konfroniert. Eine Situation, die wir kennen; Plötzlich taucht wie aus dem Nichts ein Stück Vergangenheit auf. Ein Gegenstand, ein Bild. Krimis sind vordergründig Entschlüsselungsgeschichten – aber eigentlich doch alle Geschichten, die erzählt oder geschrieben werden. Tauchst Du selbst? Und ist nicht das ein Reiz des Tauchens, an jenen Zeugen der Vergangenheit in der Stille des Meeres vorbeizutauchen? Ist meine Sicht verklärt?
Ich weiss von Tauchern, dass es eine Reise ist, zwar nicht in Outer Space, aber doch in eine andere Welt, die sich anders anfühlt, eine Welt der Stille und Schwerelosigkeit. Tauchen ist Schweben, Tauchen ist Fliegen. Es ist keine Reise in Outer Space, sondern in Inner Space.
Es ist eine Welt losgelöst von der Geschichte, weil sie zeitlos ist, und andere Naturgesetze wirksam sind. In so eine Umgebung ist ein Wrack wie ein Fremdkörper, wie eine vom Himmel herabgestiegene Geschichte, ein Relikt der Zeit in einem zeitlosen Universum. Ein Wrack ist eine ausgelöschte Geschichte. Das Meer rückt alles ins rechte Licht.

aus den Schrank von Wracktaucher Jan Matz

Ist das Muster eines solchen Romans schon zu Beginn gezeichnet, zäumst Du das Pferd von hinten oder lässt Du dich leiten von den Geschichten selbst?
Ich versuche so zu schreiben, dass die Szenen, die ich im Buch inszeniere, nicht nur funktional sind, dass meine Erzählung etwas mehr ist als ein verschlungener Pfad vom Verbrechen zur Auflösung der Handlung. Wie ich das mache, habe ich nicht vorher ausgedacht.
Ein Beispiel: Wenn Sil van Hee, der einen toten Taucher auf einem Wrack gefunden hat, sich fragt, was er mit der Situation anfangen soll, und reflexartig die Polizei auf seiner Insel anruft, kommt dieser Anruf nicht auf einem Polizeirevier bei einem Polizisten an, der an seinem Schreibtisch sitzt, sondern bei einer Polizistin, die selbst eine Vergangenheit hat, die keine Insulanerin ist und die in diesem Moment einer verwirrten alten Frau hilft, die ihrerseits in ihre eigene Geschichte verstrickt ist.
Das sind Szenen, die mir nebenbei passieren und die hoffentlich dazu führen, dass es in meinem Buch nicht nur um einen Mordfall, einen Ermittler und einen Verbrecher geht, sondern vor allem um Menschen und ihr Leben, ihre Ängste und Sehnsüchte, ihr Glück und ihre Traurigkeit. Der Mordfall selbst, offen gestanden, interessiert mich nicht echt. Ich habe darüber kaum Einfälle oder Fantasien. 

Das Bergungsschiff «Freya»

Mathijs Deen, geboren 1962, ist Schriftsteller und Hörfunkautor. Er veröffentlichte Romane, Kolumnen und einen Band mit Kurzgeschichten, der für den renommierten AKO-Literaturpreis nominiert war. 2018 wurde ihm für die literarische Qualität seines Werks der Halewijnpreis verliehen. Bei mare erschien von ihm zuletzt 2022 «Der Holländer», der erste Fall für Liewe Cupido, der von Publikum und Presse begeistert aufgenommen wurde.

«Unter Menschen» von Mathijs Deen, Rezension auf literaturblatt.ch

Andreas Ecke, 1957 in Wuppertal geboren, studierte Germanistik, Niederlandistik und Musikwissenschaft. Er übertrug u. a. Bücher von Geert Mak, Cees Nooteboom und Bert Wagendorp ins Deutsche. Für seine Übersetzung des Romans «Oben ist es still» von Gerbrand Bakker erhielt er 2010 den Else-Otten-Übersetzerpreis, 2016 wurde er mit dem Europäischen Übersetzerpreis ausgezeichnet. 

Beitragsbild © Mathias Bothor

Yōko Ogawa «Das Museum der Stille», Liebeskind

Die japanische Schriftstellerin Yōko Ogawa erschafft Welten von schimmernder Zeitlosigkeit. Ihr 2000 in Japan erschienener Roman „Das Museum der Stille“ erzählt in leicht entrückten Bildern von einem Museum der Erinnerungen, von einem vergessenen Ort, einer Frau, die sich im Sterben gegen die Auslöschung stemmt.

Was wir in einem Leben an Dingen mit uns herumtragen, was an Material unsere Wohnungen füllt und als Zierrat das Regal dort, die Ablage hier, ist eigentlich nur immer ein Musuem unseres eigenen Lebens, die Spur, die sich hinter dem Sein durchs Leben zieht. All die Dinge, ob wertlos oder Rarität, erzählen Geschichte und Geschichten. Meistens nur zu Lebzeiten ihrer BesitzerInnen. Das merken wir schmerzhaft dann, wenn wir die Wohnungen Verstorbener zu räumen haben und Dinge mit einem Mal ihre Geschichte verlieren – und nicht zuletzt ihren Wert.

In „Das Museum der Stille“ wird ein junger Mann in einen kleinen Ort weitab berufen, um unter Anleitung einer alten, eigenwilligen und launenhaften Dame ein Museum der besonderen Art einzurichten. Eine Sammlung aus lauter Dingen Verstorbener jenes Ortes. Dinge, zu denen die alte Frau Geschichten zu erzählen weiss, sehr oft banale oder vergängliche Überbleibsel von ganz unterschiedlichen Biographien, die sie über die Jahrzehnte sammelte, wenn auch der Akt der Beschaffung mehr an Diebstahl erinnert. Die Frau spürt sehr wohl, dass ihre Zeit langsam einem Ende zugeht und das, was sie über ein ganzes Leben als Idee mit sich herumtrug, Gestalt annehmen muss, wenn all das Gesammelte seine Geschichten, die gespeicherte Erinnerung nicht verlieren soll.

Yōko Ogawa «Das Museum der Stille», Liebeskind, 2023, aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler, 352 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-95438-160-9

Der junge Mann soll mit Hilfe der Tochter der alten Frau sämliche Objekte, die wild durcheinander in der grossen Villa der alten Frau lagern, katalogisieren, fotographieren, restaurieren und mit den Erinnerungen der alten Frau zu einem Museum gegen die Vergänglichkeit aufbereiten. Ein Ansinnen, das den jungen Mann zuerst befremdet, zumal er sich an seiner neuen Arbeitsstelle, wo er auch wohnt und zusammen mit dem Gärtnerehepaar und der Tochter stille und wenig abwechslungsreiche Tage erlebt, irgendwie unwohl fühlt, seltsam getrennt von der Welt, aus der er kam. Einzige Verbindung zur Aussenwelt sind die Briefe an seinen Bruder. Einzige Erinnerungen, die er selbst mit sich herumträgt; ein Mikroskop seines Bruders und das Tagebuch der Anne Frank, aus dem ihm seine Mutter vorlas, als sie noch lebte. Materialisierte Erinnerungen.

Doch eines Tages erschüttert ein Bombenanschlag den kleinen Ort in den Bergen und bald darauf eine Reihe seltsamer Verbrechen, in die sich der junge Mann unfreiwillig verstrickt fühlt, da er es ist, der immer wieder im Auftrag der alten Frau, einem Auftrag, der immer mehr zur eigenen Selbstverständlichkeit wird, in die Wohnung von Verstorbenen steigt, um etwas von dem zu „retten“, was die Verstorbenen ausmachte; das Skalpell eines Arztes, eine Schreibmaschinenseite einer Wahrsagerin, das Glasauge eines Organisten. So realistisch die baldige Eröffung des Museums der Stille näherrückt, so absehbarer wird das drohened Ende der alten Frau und das Ende seiner Zeit in jenem Dorf, in dem er all die Monate ein Fremdling geblieben war.

Der Roman erinnert an die seltsam eigenartigen Filme von Wes Anderson, die Szenerie an einen in sich geschlossenen Kosmos von kafkaesken Zügen. So wie sich der junge Mann mit jedem Objekt, dass er durch die Zusammenführung von Materie und Geschichte zu etwas Eigenem macht, so geht es mir als Leser. Da ist nicht nur diese selsame Geschichte, die bis zur letzten Seite geheimnisvoll bleibt, da ist auch ein Personal, das durch Seltsamkeiten Schatten wirft. Schweigende Mönche aus einem Kloster auf der anderen Seite eines Sees. Ein Gärtner, der Messer um Messer fertigt. Eine alte, schrullige Frau in einer riesigen, labyrinthischen Villa. „Das Museum der Stille“ ist ein Roman von mitreissender Spannung, wie ein zenbuddhistischer Garten, der das menschliche Grauen miteinschliesst.

Yōko Ogawa, geboren 1962, gilt als eine der wichtigsten japanischen Autorinnen ihrer Generation. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Akutagawa-Preis und dem Tanizaki-Jun’ichiro-Preis. Für ihren Roman «Das Geheimnis der Eulerschen Formel» erhielt sie den begehrten Yomiuri-Preis. Mit der englischsprachigen Ausgabe des Romans «Insel der verlorenen Erinnerung» wurde Yōko Ogawa für den National Book Award und den International Booker Prize nominiert. Sie lebt mit ihrer Familie in der Provinz Hyogo.

Ursula Gräfe hat Japanologie, Anglistik und Amerikanistik in Frankfurt am Main studiert. Seit 1989 arbeitet sie als Literaturübersetzerin aus dem Japanischen und Englischen und hat neben zahlreichen Werken Haruki Murakamis auch Sayaka Murata und Yukiko Motoya ins Deutsche übertragen.

Kimiko Nakayama-Ziegler ist eine literarische Übersetzerin und Universitätsdozentin. Anfang der 2000er bis Mitte der 2010er Jahre übersetzte sie, zusammen mit Ursula Gräfe zahlreiche Texte der zeitgenössischen japanischen Literatur, meist von Yōko Ogawa und Hiromi Kawakami ins Deutsche. 

Yōko Ogawa «Augenblicke in Bernstein», Rezension auf literaturblatt.ch

Yōko Ogawa «Zärtliche Klagen», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © privat

Adam Schwarz «Glitsch», Zytglogge

Ein monströses Kreuzfahrtschiff irgendwo in arktischen Gewässern. In einer Zukunft, in der Eisberge zu blosser Erinnerung werden und man im T-shirt an der Reeling stehen kann, verliert ein Mann seine Frau. Sie verschwindet in den Tiefen des stählernen Ungetüms. Adam Schwarz schrieb einen schillernden Roman zwischen Dystopie, Gametripp und Psychose.

„Glitsch“ ist ein Fehler in einem Computergame, wenn Figuren verzerrt sind, falsch zusammengesetzt, wenn Risse in der Spielwirklichkeit auftauchen. Adam Schwarz zweiter Roman spielt in einem begrenzten Schiffskosmos, in dem alles immer mehr verzerrt scheint. Was einst die Welt ausmachte, spielt in diesem Kosmos keine Rolle mehr. Es ist nicht nur die Kulisse eines in die Jahre gekommenen, aus der Zeit gefallenen Kreuzfahrtschiffes, genauso die Menschen, die in einer seltsam unergründlichen Ordnung ein Leben auf dem schwimmenden Koloss aufrecht erhalten, dass sich den sonst geltenden Regeln entzieht – eben so, wie sich in Computerspielen eine Welt auftut, die nach eigenen Gesetzen und Regeln funktioniert. 

„Glitsch“ spielt in naher Zukunft. Der Menschheit ist es nicht gelungen, sich vom Abgrund der Selbstzerstörung abzuwenden. Im Gegenteil. Man taucht in Fatalismus, emigriert in einen sektiererischen Bewusstseinszustand, der die Rettung verspricht. Eine Kreuzfahrt durch eine Arktis, die nur noch in Erinnerung jene ist, die in der Gegenwart langsam dahinschmilzt.

Adam Schwarz «Glitsch», Zytglogge, 2023, 296 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-7296-5119-7

Léon und Kathrin besteigen die Jane Grey, eine Reise mit 2500 anderen Passagieren, um wie auf Prospekten gepriesen, ein paar Wochen „die Seele baumeln zu lassen“. Obwohl Léon schon vor dem Besteigen des Kreuzfahrtschiffes spürt, dass Kathrin eigentlich lieber alleine auf dem Dampfer gewesen wäre und ihm Ferien auf einem solchen Ungetüm falsch und aus der Zeit gefallen erscheinen, checken die beiden ein und beziehen ihr Zimmer in der Kategorie Superior. Aber kaum losgefahren, verschwindet Kathrin spurlos und für Léon beginnt eine Odysee im Bauch dieses Ungetüms.

„Ich brauche etwas Zeit für mich. Such mich nicht.“

Nicht nur Kathrin verschwindet. Er selbst scheint aus dem schiffseigenen System verschwunden zu sein. Sein Zimmer bleibt ihm verwehrt, an der Rezeption muss er feststellen, dass sein Name getilgt ist, man stellt ihm nach, von Kathrin keine Spur. Léon taumelt durch die endlos scheinenden Gänge des Schiffes, jene, die nur dem Personal gelten, durch Räume, die in kaltes Licht getaucht sind, so ganz anders wie die Plastik- und Kunststoffwelten in den Erlebniswelten der zahlenden Passagiere.

Bis er Kathrin für einen kurzen Moment sieht, gekleidet in einen neopremartigen Anzug, umringt von anderen, in einem seltsamen Ritual. Léon wird klar, dass sich Kathrin ganz offensichtlich in die Fänge einer Art Sekte fallen liess. C. C. Salarius, Autor suspekter Bücher, Begründer einer Bewegung, die „an den Ursprung, ins Meer zurückkehren und die Sprache hinter sich lassen will“, scheint das Schiff wie ein Pilzmycel durchsetzt zu haben. Gibt es überhaupt eine Chance für Léon, Kathrin zurückzugewinnen, dieses Schiff, das sich immer mehr in einem dichten Nebel verschobener Wahrnehmungen verliert, zu verlassen?

„Glitsch“ ist schwer fassbar – und genau das macht den Reiz dieses Romans aus. Ein fellini’sches Ungetüm dampft durch eine Welt, die dem Untergang geweiht ist. Eine Figur, die sich wie im Computergame immer weiter im Bauch eines sich ständig verändernden Ungetüms verliert. Szenarien, die sich im Rausch aufzulösen scheinen, sich allen Regeln entziehen. Es sind starke Bilder, alptraumartige Szenerien und eine Handlung, die zwischen Realem und Fantastischem mäandert. Da ist eine Gesellschaft, die sich den Tatsachen verweigert, Menschen, die sich in Verklärung flüchten, ein Paar, das sich in der Masse verliert und ein Protagonist, der nach einem Ausweg sucht.

Ein Buch wie ein Alptraum, wie ein Tripp in die Welt dahinter.

Interview

„Glitsch“ ist ein Begriff aus der Welt der Computergames. Ganz offensichtlich sind Sie vertraut mit dieser Form des Spiels, einer Welt, die einem entweder vertraut oder fremd ist. Ihr ganzer Roman erinnert an ein Game. Das Spiel, das Schiff – tonnenschwere Metaphern?
An Kreuzfahrtschiffen interessiert mich, dass sie Nicht-Orte sind. Von privaten Konzernen geführte, abgeschlossene, quasi ausserhalb der Staatlichkeit operierende Welten, die eine Schein-Öffentlichkeit vorgaukeln. Zugleich haben diese Schiffe als Handlungsort etwas Abgeschlossenes: Man kann sie nicht leicht verlassen, und die Handlungsoptionen auf dem Schiff sind begrenzt, geht es doch vor allem um den Konsum. 
Bei Videospielen ist das ähnlich: Sie sind ebenfalls abgeschlossen und die Handlungen vorgegeben, alles untersteht einem Programmiercode. Doch in Form der Glitches, von nicht vorgesehenen Störungen im Code, lässt sich die Möglichkeit einer Befreiung erahnen. Diese Glitches unterbrechen den Spielfluss und weisen dadurch auf die Gemachtheit des Spiels hin. Sie zeigen, dass jede Welt auch eine andere sein könnte. Deshalb sind sie für mich etwas Positives. 

Die Pandemie hat uns deutlich gemacht, wie sehr sich Menschen in eigene Welten, eigene Anschauungen zurückziehen, flüchten, einigeln und verschanzen können. Besitzt der Mensch das offensichtlich unstillbare Bedürfnis, sein Leben mit Mystik, Geheimnis und dem Glauben an Erlösung aufzublasen?
Mir scheint, ein gewisses Bedürfnis nach Transzendenz teilen die meisten Menschen, auch wenn sie, wie ich, nicht religiös sind. Diese Transzendenz zeigt sich für mich als Atheisten am ehesten in einer Begegnung mit Dingen, die das eigene  Zeitmass überschreiten – zum Beispiel Berge, Bäume und Sterne. Das kann, glaube ich, bestenfalls zu einer Erweiterung und Öffnung führen, die Demut lehrt und den Egoismus schwächt. 
Der Rückzug in eigene, abgeschlossene Welten, den Sie ansprechend, zeugt für mich dagegen eher von Angst und Ressentiment, die aus einer zu starken Ich-Bezogenheit resultieren. Es ist der unbedingte Wille, recht haben zu wollen, eine klar abgegrenzte Welt, in der es (scheinbar) nichts Unbestimmtes gibt, die Unfähigkeit, Ambiguitäten auszuhalten. Das kann zu einer Art von Selbstvergiftung führen, für die bis jetzt leider kein Heilmittel gefunden wurde.

Dass Sie für einen Roman, der in der Zukunft spielt, in einer Zeit, in der sich ein Grossteil der Menschen mit den globalen Veränderungen des Klimas abgefunden haben und höchstens noch fatalistisch darauf reagieren, auf einem Kreuzfahrtschiff spielen lassen, macht ihren Roman erfrischend schräg. Ob Raumschiffe, Kreuzfahrtschiffe oder die eigene Jacht, das kleine Boot – sind das Fluchtvehikel?
Ja, wobei es für den Menschen so betrachtet kein Entkommen gibt. Selbst in einem Raumschiff am anderen Ende Milchstrasse würde er seine menschlichen Denkkategorien und die damit verbundene Sprache noch mitnehmen; er kann niemals aus sich heraus – dass Salarius, der ominöse Autor in «Glitsch», ebendiese Befreiung aus der Sprache anstrebt, zeugt von der zunehmenden Zerrüttung angesichts des weltweit immer sichtbar werdenden Resultats ebendieser Denkkategorien. Anstatt vor der Verantwortung zu fliehen, scheint es mir jedoch angebrachter, diese zu übernehmen.

Léon verliert sich auf diesem «Totenschiff». Ob im Bauch eines solchen Schiffes, in den Sphären von Computergames, in den Schluchten einer Grossstadt, in einem Buch – irgendwie schwingen Verzweiflung und Faszination ineinander. Kann man sich im Schreiben verlieren?
Oh ja! An «Glitsch» habe ich fünf Jahre gearbeitet, wobei ich die Geschichte immer wieder komplett umschrieb. Ich glaube, ich könnte theoretisch bis ans Ende meines Lebens an einem Text schreiben. Immer wieder gibt es Sätze, die mir nicht gefallen, oder es tauchen neue Ideen auf. Zum Glück gibt es immer wieder Impulse von aussen – in dem Fall war es eine Trennung, durch die mir klar wurde, dass «Glitsch» im Kern vor allem das ist: ein Trennungsroman. Das hat mich davon abgebracht, die halbe Welt in den Text hineinpacken zu wollen. Will heissen: Zum Glück gibt es nicht nur das Schreiben, sondern auch die Welt.

Kathrin, Léons Lebensgefährtin, scheint sich in die Fängen eines „Sektenführers“, eines „Gurus“, eines „Lehrers“ verheddert zu haben. Zurück in die Ursuppe allen Lebens, weg von der Sprache, mit der sich der Mensch aus dem Paradies argumentiert hat. In Zeiten, in denen Vereinsamung zu einer sozialen Grossbaustelle wird, sich der Wortschatz vieler Menschen immer mehr reduziert, scheint die Entfernung zur Sprache eine schleichende Tatsache zu sein. Muss das einen Schriftsteller nicht ängstigen?
Von einer Sprachverarmung zu sprechen, erscheint mir zu kulturpessimistisch. Im Gegenteil finde ich die Sprache ungeheuer lebendig und freue mich, welche Wortneuschöpfungen etwa die Jugend- und Internetsprache immer wieder mit sich bringt. Die Sprache ist etwas Fliessendes. Auch wenn viele Philosoph:innen es versucht haben, sie lässt sich nicht in einen Käfig stecken, sondern schwappt zwischen den Gitterstäben davon und nimmt immer neue Formen an.
Gleichzeitig fühle ich mich manchmal gefangen in der Sprache. Gibt es mich, uns, die Menschheit überhaupt ausserhalb der Sprache? Was wären wir ohne unsere Wörter und Begriffe? Was liegt jenseits davon? Lässt sich dieses «jenseits» überhaupt fassen, da uns dafür doch nur die Sprache zur Verfügung zu sein scheint? Können andere, nicht-sprachliche Formen der Kunst einem vielleicht zumindest eine Ahnung dessen verschaffen? Diese Fragen treiben mich um, wohl gerade, weil die Sprache sowohl in meinem literarischen Schreiben wie in meinem Brotberuf eine so tragende Rolle spielt. 

Adam Schwarz, geboren 1990, studierte Philosophie und Germanistik in Basel und Leipzig. Seit 2011 veröffentlicht der Schriftsteller regelmässig Prosa in diversen Zeitschriften, darunter «entwürfe», «Das Narr», «Delirium», «Kolt» oder «poetin». Von 2016 bis 2020 war er Redaktor der Literaturzeitschrift «Das Narr». Zudem war er redaktioneller Mitarbeiter des «Literarischen Monats». 2017 erschien Adam Schwarz’ Debütroman «Das Fleisch der Welt», eine kritische literarische Auseinandersetzung mit dem Eremiten Niklaus von Flüe. 

Webseite des Autors

Beitragsbild © Stefan Dworak

Walter Fabian Schmid «Die Lost Places zucken noch», Plattform Gegenzauber

TOKAMAK

Du hast unseren Frieden in den Vorhof
gepflanzt. Abgesteckte Beete. Wie Kammern,
aus denen unbekannte Namen flimmern.

Wir Auferstandenen steigen weiter und weiter auf.

An den Rändern schwarzer Löcher verglühen
unsere Herzen. Nur Plasma. Energie
für unsere Kinder, die nie mehr kommen.
Die nie diese Wärme spüren. 150 Millionen
Grad. Gemessen in der Zeit,
die wir als Menschen verbrachten.

 

AUCH TOURISTEN VERSTRÖMTEN WÄRME

Im Sonnenbrand der Winteräpfel
warfen die Meere Blasen,
verbrühten die Gletscher und
verdampften an der Himmelskruste.

Wir sassen in unseren Autos
und bestaunten die Feuer.

»Was für ein Postkartenmotiv!«

Auf halbem Weg ging die Sendung verloren.
Auch unsere Restsouvenirs gingen zu Bruch.

Tollpatschig fielen die Felswände um.
Berge besuchten uns öfter
im Tal. Die Gäste fuhren schon früher
mit E-Bikes dem Sturz entgegen.

Im Winter legte sich Frost
über das Magma. Ein roter
Spiegel voller Risse,
die blicken liessen
auf die eingeschmolzenen
Feldspaten abgewanderter Bauern.

 

WIR TRUGEN DÜNNERE HÄUTE

Seen schwitzten das Klima aus.
Wälder nur qualmende Stummel.

»Wer verträgt schon diese Gluten?«

Sommerfrischler bestiegen ausgekühlte Halden.
Ihr Schweiss schwemmte Fahrbahnen frei
für Aschetransporter. »Feinstes Karbon!«

Die Staublungen der Erdhörnchen keuchten.
Schwer scharrten sie alte Apparate aus.
iPhones auf Stand-by. Ein Beistand
für grausame Bilder.

Wir zählten die Baumringe unter den Augen,
als die Schattenseite der Äpfel schon brannte.

Die Luft trug einen reizenden Feststoff
aus und wir schlüpften in dünnere Häute.

 

MAN HÄNGTE UNS EINFACH SO AB

In unseren Stuben lagen die
Leitungen blank.

Aus Dielen rieselten Schritte.
Wege, die sich wie Frassgänge
in unser Holz gekerbt hatten.

Erinnerung legte sich
nur noch den Tieren in die Instinkte.

Dem Marder, der nach den Kabeln schürfte,
um am versiegten Stromfluss zu lecken.

Vom Berghang rollten
verlorene Echos, krochen durch
Röhren unserer Fernseher,
die niemand mehr reparierte.

Abgehängt hinterliessen auch wir
nur die hellen Flecken auf der Tapete.

 

WIR WURDEN ZU STAUB,
AUS DEM WIR UNS MACHTEN

Im Herbst kam den Feldern
das Suppenkraut hoch.

Mit schiefem Kreuz
humpelten Alte zur Kirche.

Der Mief holte sich noch einmal Luft
von entlaufenen Kindern.

Wir aber waren schon abgefahren
mit unseren Zweitaktern und
holten die Auferstandenen
unmöglich ein.

 

(Die wiedergegebenen Gedichte sind aus «Die Lost Places zucken noch», edition offenes feld. Dortmund 2023.)

Walter Fabian Schmid, geboren 1983 in Regen, ist Schweizer und Deutscher und lebt im Kanton Bern. Er studierte Diplom-Germanistik in Bamberg, arbeitete als Redaktor, Literaturvermittler und Texter. Er erhielt den Calwer-Hermann-Hesse-Preis 2010 als Mitredaktor der Literaturzeitschrift poet, war nominiert für den Leonce-und-Lena-Preis 2011 und 2015 sowie den open mike 2014 und den Dresdner Lyrikpreis 2020. Gemeinsam mit Tristan Marquardt gründete er die Lesereihe «meine drei lyrischen ichs».

Beitragsbild © Sascha Kokot

Karl Ove Knausgård «Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit», Luchterhand

1050 Seiten sattes Leben voller Verzweiflung und voller Hoffnungen: Karl Ove Knausgård schickt uns in ein sympathisch-chaotisches Universum und switcht dabei zwischen dem Südnorwegen der mittleren 1980er-Jahre und dem heutigen Russland – ein Stern am Himmel inklusive. 

Gastrezension von Frank Keil

Er erwacht, als die Lautsprecherstimme den Landeanflug ankündigt. Ein wenig enttäuscht ist er von sich, dass er eingeschlafen ist, statt den Flug zu genießen, den Blick auf die russische Landschaft, auf langgestreckte Wälder und sich schlängelnde Flüsse, vielleicht zwischendurch eine kleine Stadt, die auftauchen und dann wieder verschwinden würde. Syvert heißt unser Held, mit Nachnamen Løyning; verheiratet, die Kinder sind groß und also aus dem Haus, sein Bestattungsunternehmen läuft gut, sehr gut sogar, und nun ist er unterwegs zu seiner Schwester, die er noch nie gesehen hat. Er hat sich in Moskau in einem Hotel einquartiert, dass sich nicht weit vom Bolschoi Theater und vom Roten Platz entfernt befindet, das also recht zentral liegt. Er meldet sich via Facetime bei seiner Frau, gut angekommen sei er, vielleicht sollten sie sich ein Segelboot kaufen, wäre das nicht eine gute Idee? Er isst noch im Flughafen einen Hamburger, dazu Pommes und eine Cola. Dann lässt er sich zum Hotel fahren, checkt ein, schreibt seiner Schwester eine Nachricht, er sei jetzt in der Stadt, er freue ich auf das morgige Treffen, ein Zeichen soll es sein, mehr ist es nicht. Er nennt sie „little sister“. Wir sind auf Seite 924 angekommen, wir sind gespannt, was nun passieren wird.

In Südnorwegen beginnt alles zuvor, im Jahr 1986, in einer kleinen, vordergründig gesichtslosen Stadt an der Küste kommen wir hinzu, wo Syvert aufgewachsen ist: einerseits ist das lange her, in einer irgendwie anderen Zeit. Und andererseits ist alles wieder da, kaum hat er seine Tasche abgestellt, ist alles so wie neulich, weil sich in solchen Nestern mit Tankstelle und Videothek und der Schnellstraße und dem Fußballverein (Karl Ove Knausgård ist Fußballfan), wo er sofort wieder seinen Platz zugewiesen bekommt, dann doch wenig ändert, so wie auch die Kumpels von damals sich sofort umhören, wo er einen Job finden könnte, übergangsweise, bis er eine Idee hat, wie es weitergehen könnte mit seinem Leben (er hat keine Idee, gar keine), na ja, und da bietet sich der Job beim hiesigen Bestatter an, der immer Hilfe gebrauchen kann; besser als nichts, und im örtlichen Werk, wo sonst alle unterkommen ist gerade nichts frei, und seiner Mutter will er nicht länger auf der Tasche liegen, wie man so sagt, auch weil auf seine Mutter etwas zurollt, das sie zu verschlingen droht und sie hat doch schon ihr ganzes Leben so hart geackert, da will er sie unterstützen.

Syvert ist 19 Jahre alt, hat gerade seinen Militärdienst absolviert, als Koch bei der Marine. Kochen also kann er, als er zurückkehrt in sein Elternhaus, dass genaugenommen sein Mutterhaus ist, denn sein Vater ist seit einigen Jahren tot, bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, nur noch schwach kann er sich an ihn erinnern, was sich ändern wird. Weil er nun nach und nach manches erfährt, dass er nicht wusste und was seinen Blick auf die Welt und besonders auf seine Eltern neu ausrichten wird, ob er das will oder nicht (er will es nicht, aber das Leben fragt ihn nicht, sondern es geht seinen Weg und nimmt ihn entsprechend an die Hand, falls er stolpert, und das tut er).

Er muss sich nur irgendwas halbwegs Überzeugendes ausdenken, was er Lisa sagt, was er jetzt arbeitet, übergangweise; Bestatter-Gehilfe klingt und wirkt da vielleicht nicht ganz so gut, wenn er mit ihr ausgehen will, dabei hat sie ihm klipp und klar gesagt, dass er absolut nicht ihr Typ ist und er sich keinerlei Hoffnung machen soll, aber so wie sie ist, wenn sie sich treffen, kann das eigentlich nicht sein.

Karl Ove Knausgård „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“, aus dem Norwegischen von Paul Berf, Luchterhand, 2023, 1056 Seiten, CHF ca. 39.00, ISBN 978-3-630-87635-1

Ach ja: Karl Ove Knausgård, das ist der norwegische Romancier, dessen autofiktionales Werk „Min Kamp“, auf Deutsch zu übersetzen mit „Mein Kampf“, die Literaturgemeinde so tief spaltete: Sechs je kiloschwere Bände erschienen zwischen 2009 und 2011: „Sterben“, „Lieben“, Spielen“, „Leben“, „Träumen“ und dann „Kämpfen“, in denen er jeweils sein eigenes (Er)Leben zum Ausgangspunkt und noch mehr zum Fundus seiner Romane machte. Für die einen war das nicht mehr als manische und eitle Selbstbespiegelung von begrenztem Wert, für andere dagegen belebte er die Grundtechnik des Erzählens neu, gab er dem bis heute anhaltenden Siegeszug des autofiktionalen Erzählens den Grundimpuls. Nun hat sich Knausgård nach einer Art Zwischenschritt (einer Tetralogie von romanähnlichen Büchern, benannt nach den Jahreszeiten) dem rein fiktionalen Erzählen zugewandt und eine neue Reihe mit ebenfalls sechs Bänden angekündigt: der vorliegende ist nach „Der Morgenstern“ der zweite Band, so wie auch Syvert in Moskau einen Stern am Himmel sehen wird, der nicht weichen will und der die Millionenstadt in ein eigenes Licht tauchen wird.

Und dann ist damals noch etwas passiert, als wir Syvert als jungen Mann auf seinem Weg durch sein anfangs so zielloses Leben begleiten, in einem fernen, im mittleren Teil der Sowjetunion (mit dem Norwegen nordostwärts ein schmales Stück Grenze hat), in einem Krenkraftwerk in einem Ort bei Kiew mit Namen ‚Tschernobyl‘ und ist das nun beruhigend oder ist beunruhigend, was Syvert dazu im Radio hört, was die Experten sagen und was sind das zugleich für Briefe, die er beim Aufräumen in der Scheune bei den Sachen seines Vaters findet: Briefe auf Kyrillisch, Briefe offenbar von einer Frau, wer könnte die für ihn übersetzen und will er wirklich wissen, was dann da auf dem Papier vor ihm steht?

Und als wir wissen, was da zu lesen ist, so wie nun Syvert es weiß, eine Flasche Rotwein hat ihn dieses Wissen gekostet, verlassen wir ihn vorerst (keine Sorge: Wir treffen ihn wie schon erwähnt wieder, viele Jahre und eben einige Hundert Seiten später, die Sowjetunion gibt es entsprechend nicht mehr, und wir lernen Alevtina kennen, als desillusionierte Dozentin in der Post-Sowjetunion, doch Jahre vorher als aufgeweckte und vorwärtsstrebende Studentin, die zu Pilzen und ihren Verbindungen zu Bäumen forschte („Leben. Leben. Leben“, das sei der Sinn des Daseins, da ist sie sich sicher, als sie während einer Forschungs-Exkursion durch die einen nordkarelischen Wald taumelt und in Folge dieser Erkenntnis, wird sie sich bücken und einige der aus dem Boden ans Licht wachsenden Pilze essen), die nun gleichfalls in ihren Heimatort zurückkehren wird, um mit ihrem Vater dessen 80sten Geburtstag zu feiern, ein Geschenk hat sie nicht mit, dass muss sie noch besorgen (dringend!), am besten ein Buch (nur welches?), denn ihr Vater ist ein Büchermensch, ist es durch und durch, draußen liegt Schnee, es ist kalt, es ist richtig kalt, förmlich gefroren ist die Welt, und bei ihr ist es die Mutter, die schon lange tot ist, was nicht heißt, dass es auch zu ihr eine irgendwie magische Verbindung gibt, schwer zu erklären.  

Ein ganz spezielles Verhältnis haben entsprechend Tochter und Vater, dieser ein einstiger Komponist, wie in diesem Roman alle auftretenden Personen zu ihren Mitmenschen ein spezielles Verhältnis haben, wie sie sich begegnen, wie sie miteinander leben, wie sie wieder auseinandergehen, zunächst oder vorübergehend oder endgültig.

Und das sind nur einige, wenige Handlungsfäden, die hier stellvertretend skizziert und ausgerollt werden sollen (man könnte auch andere nehmen, es sind genug da), denn kaum hat man angefangen zu lesen, die ersten 50, dann 100 Seiten, hat man einerseits die Übersicht über das sich vor einem ausbreitenden Geschehen verloren und es gleichzeitig absolut genau erfasst.
Wie Knausgård so seinen Helden vertraut, wie er sie in die Welt schickt, wo sie sich verlieren, wo sie sich wiederfinden (und umgekehrt), suchen sie in beiden Fällen nach Orientierung – entlang der großen Fragen: Wer bestimmt mein Leben? Wovon hängen meine Entscheidungen ab? Weiß ich, was ich tue? Und wenn nicht, wer dann?

Und was ist mit dem Tod? Wie lässt er sich erklären – und wie lässt er sich überwinden? ‚Komismus‘ ist ein Stichwort, das zwei-, dreimal fällt, eine zunächst philosophische und damit gedankliche Richtung, entstanden und auf den Weg gebracht im Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die nichts Geringeres forderte (und fordert), als: Unsterblichkeit für alle! Dann in den praktischen Wissenschaften weitergeführt im sowjetischen Kommunismus, in der Biologie, der Physik, mal offiziell, mal im Verborgenen, je nach Stand der Kämpfe im innersowjetischen Machtgefüge. So dass dieser Roman in einer ganz eigenen Schwebe gehalten wird: Wir betreten die intime Alltagswelt unserer Helden, versuchen es uns dort wohnlich zu machen, was Seite für Seite immer besser gelingt – und zugleich wirkt und durchdringt all das ein so rätselhaftes wie magisches Denksystem, das verwirrt und angenehm verstört. 

Wunderbar geschrieben (übrigens), dramaturgisch hervorragend komponiert (dito), von einer sprachlichen Wucht getragen, die seinesgleichen sucht – und so sollte man sich vom Umfang dieses Werkes (!) so gar nicht beeindrucken oder gar einschüchtern lassen: Wenn es auf das Ende zugeht, möchte man nicht, dass es endet, möchte man, dass es weitergeht, dass es immer weitergeht (dass auch die Geschichte(n) von Jewgenij und von Vasilisa weitererzählt werden und sich weitere Erzählfäden vernetzen) und welches Buch vermag das schon, einen in so einen nüchternen Rausch zu versetzen. Was ein Glück also, dass Karl Ove Knausgård weitere Bände angekündigt hat, die sicherlich je ganz andere Wege gehen, vielleicht begegnen wir den uns gerade liebgewonnen Helden wieder, vielleicht auch gerade nicht, wie auch immer, es wird ein Fest werden.

Karl Ove Knausgård wurde 1968 geboren und gilt als wichtigster norwegischer Autor der Gegenwart. Die Romane seines sechsbändigen, autobiographischen Projektes wurden weltweit zur Sensation. Sie sind in über 30 Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt. 2015 erhielt Karl Ove Knausgård den WELT-Literaturpreis, 2017 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Er lebt in London.

Paul Berf, geboren 1963 in Frechen bei Köln, lebt nach seinem Skandinavistikstudium als freier Übersetzer in Köln. Er übertrug u. a. Henning Mankell, Kjell Westö, Aris Fioretos und Selma Lagerlöf ins Deutsche. 2005 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Schwedischen Akademie ausgezeichnet.

Beitragsbild © Sølve Sundsbø

Tabea Steiner «Immer zwei und zwei», edition bücherlese

Tabea Steiner zu Gast im Literaturhaus Thurgau

Warum lässt man sich derart in Zwänge, Muster, Pflichten und Bedingungen einbinden, dass das alles die Luft zum Atmen nimmt. Tabea Steiner hat mit ihrem zweiten Roman „Immer zwei und zwei“ ein beklemmendes Buch darüber geschrieben, wie schwer es werden kann, wenn man aussteigen, sich befreien will.

Erinnern sie sich an ihre Zeit im Kindergarten, als man vom Schulhaus zur Turnhalle paarweise, immer zwei und zwei, gehen musste? War es nicht Noah, der immer zwei jeder Sorte Tier auf seine Arche mitnahm und vor der Sintflut rettete? Scheinbar liegt in dieser Ordnung die Rettung vor drohender Gefahr. Scheinbar braucht es die klare Ordnung, um sich nicht im Chaos zu verlieren. Ob das Gesetze sind, die uns vor Anachie und Willkür schützen oder Gemeinschaften, die uns das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit geben. Ob es eine Bubble ist, die einem das Gefühl von Zusammengehörigkeit schenkt oder straffe Systeme wie Schule oder Militär. Immer zwei und zwei. Im Ausbruch, in der Freiheit liegt die Gefahr.

Natali ist ein junge Frau, verheiratet mit einem Mann, den sie liebt und Mutter zweier Kinder, berufstätig und mit einem Atelier, in dem sie in Stunden der Muse aus Stein und Ton Neues formt. Natali scheint alles zu haben, was eine glückliche Existenz braucht. Aber Natalis Glück ist brüchig geworden. So wie ihre Welt, in die sie sich eingebunden fühlt, ein Eingebundensein, das sich mehr und mehr wie Fesseln anfühlt. Ein Gefühl der Einsamkeit, das sie schon als Kind mit sich herumschleppte. Da wurde ihr klar, dass sie allein war, wirklich allein … auf der Welt, endgültig und nur sie. Ein panisches Gefühl, am falschen Ort, mit den falschen Menschen zu sein. 

Tabea Steiner «Immer sei und zwei», Edition Bücherlese, 2023, 208 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-906907-73-4

Natali gehört zu einer freikirchlichen Gemeinschaft, einer Gemeinschaft mit klaren Regeln, Strukturen und Wertvorstellungen. Solchen, die ihr mehr und mehr aufstossen und eine innere Rebellion provozieren. Ihre Freundin Rosalie, wie sie fest eingebunden in jene Gemeinschaft, ist verheiratet mit Tobias, der Natalis Kinder in der Sonntagsschule unterrichtet und dort Geschichten erzählt, die ihren Kindern den Schlaf rauben. Mit einem Magnet war er über Büroklammern aus Metall und Plastik gefahren und hatte erklärt, so werde es sein, wenn Jesus wiederkomme. Er nimmt nur diejenigen mit, die wirklich an ihn glauben. Die anderen bleiben auf der Erde zurück, wie die Plastikklammern.

Seien es gewünschte Schlagzeugstunden, die nicht erlaubt werden, weil man das Instrument im Gottesdienst nicht brauchen kann, sei es eine Reise nach Israel, zu der man sich verpflichtet fühlt und die völlig abgeschottet von der Aussenwelt durchexerziert wird, seien es Kleidervorschriften oder Kommentare ihrer eigenen Kinder – Natali schnappt nach Luft in der Umklammerung dieser scheinbaren Gemeinschaft. Und als sie sich bei einer Fortbildung in eine evangelische Pfarrerin verliebt und selbst ihre Familie ins Wanken gerät, mietet sich Natali eine eigene Wohnung. Ein Prozess der Distanzierung aus ihrer Welt, den ihr Mann und ihre Freundin Rosalie nicht nachvollziehen können. Natali begibt sich in ein Dazwischen, das sie einmal mehr mit ihrer Panik vor drohender Einsamkeit konfrontiert. Alles, was ihre Welt ausmacht, beginnt sich gegen sie zu wenden. Sie droht in einem Meer aus Schuldgefühlen zu versinken.

Tabea Steiners Roman erzählt behutsam und unspektakulär. Die Autorin hätte ihren Stoff, die Geschichte ganz leicht zur spektakulären Loslösungsgeschichte aufblasen können. Aber darum ging es der Autorin nicht. Tabea Steiner schildert einen Prozess, der alles andere als linear verläuft, ein permanentes Ringen mit Situationen, in denen sich die junge Frau nicht mehr zurechtfindet. „Immer zwei und zwei“ ist auch keine Anklage gegen freikirchliche Gemeinschaften, sondern die Geschichte einer jungen Frau, die ganz langsam ihrem Wunsch nach Selbstbestimmung und innerer Freiheit folgen kann. Gemeinschaften, die einengen und bestimmen, mögen für die einen Wegweiser oder Leitplanke sein. Aber sie missachten, dass die Freiheit eines Menschen eben jene Selbstbestimmung, jene Freiheit ausmacht, die das Lebewesen Mensch zum Menschen macht.

„Immer zwei und zwei“ ist ein wichtiger Roman – eindringlich geschrieben, ganz offensichtlich voll mit persönlicher Erfahrung.

Tabea Steiner liest nicht nur am 6. Juli im Literaturhaus Thurgau! Vor der Lesung können all jene zusammen mit der Autorin diskutieren, die das Buch bereits gelesen haben. Das Format «Literatur am Tisch» lädt bei Speis und Trank zu einer ganz speziellen Vertiefung ein, einem Gespräch weit über den Roman hinaus. Sie sind herzlich eingeladen! Eine verbindliche Anmeldung ist unbedingt erforderlich.

Tabea Steiner, Jahrgang 1981, ist auf einem Bauernhof in der Nähe des Bodensees aufgewachsen und hat Germanistik und Geschichte studiert. Sie hat das Thuner Literaturfestival Literaare initiiert, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und war bis 2022 Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. 2011 hat sie an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teilgenommen, 2019 war sie LCB-Stipendiatin. 2019 erschien ihr erster Roman «Balg«, der für den Schweizer Buchpreis nominiert war. Tabea Steiner lebt und arbeitet in Zürich.

Webseite der Autorin

Illustration © leale.ch / Literaturhaus Thurgau

27. Internationales Literaturfestival Leukerbad – Literatur macht sich auf!

Es gibt Schönwetterwanderer, zu denen ich mich zähle, die sich von wenig verheissungsvollen Wetterprognosen abschrecken lassen. Aber wenn eine grosse Gruppe Angemeldeter am Bahnhof steht, mit Rucksack und Erwartungen, dann ist ein Zurück letzte Option und die Stimmung aufgekratzt, weil der Tag kalkuliertes Abenteuer verspricht. Was dann auch geschah!

Die „Literarische Wanderung“, mit der das Internationale Literaturfestival jedes Jahr beginnt, ist für einen Grossteil der Teilnehmenden zu einem fixen Bestandteil ihres Besuchs in den Walliser Bergen geworden. Heuer begleitet von Ariane von Graffenried, Dichterin und Performerin und Karl Rühmann, Schriftsteller und Übersetzer.

Von Graffenrieds Texte kippen vom Konkreten ins Poetische und zurück, mal Deutsch, mal English, mal Dialekt, sie ist eine Geschichtenerzählerin des Geheimen und Verborgenen, eine ebenso raue wie galante Berichterstatterin aus den Halbwelten des Mondänen, eine literarische Umgarnerin der provinziellen Unterwelt.

Karl Rühmann las aus seinem Debütroman „Glasmurmeln, ziegelrot“, einem Roman schillernd wie durch eine Glasmurmel betrachtet, ein eigentliches Geschichtenbuch, poetisch, mosaikartig erzählt, aus schimmernden Miniaturen, die sich zu einem wunderbaren Ganzen fügen. Von einem Kind, manchmal in der ersten, manchmal in der dritten Person, oft im gleichen Abschnitt wechselnd, was dem Text etwas Flimmerndes gibt und ihn weit wegträgt von Selbstreflexion. 

Die Wanderung über Alpwiesen, deren Blumenpracht mich manchmal stolpern liess, über das ehemalige Waldbrandgebiet, jene 300 Hektaren Wald, die vor 20 Jahren den Schutzwald über dem Städtchen Leuk vernichteten, den man erst aufforsten wollte, sich dann aber entschloss, Gefahrenstellen zu sichern und die Brandfläche mehr oder weniger sich selbst zu überlassen. Was damals eine Katastrophe war, erwies sich für die Natur als Glücksfall. Pfanzen und Tiere eroberten sich die Brandfläche zurück, neben den verkohlten Relikten eines Infernos gedeihte bald Neues, Unverhofftes, wächst 20 Jahre danach ein Stück Natur, das in seiner Vielfalt und Eigenheit überrascht.

So wie die Literatur in Leukerbad überrascht! Kunst, die sich permanent erneuert, die sich den Fragen der Gegenwart stellt und in der bröckelden Kulisse menschlicher Sehnsucht nach Erholung und Zerstreuung einen manchmal surrealen Kontrapunkt setzt, wenn es um die (Neu-)Ausrichtungen menschlichen Zusammenlebens geht, um Perspektiven und spachgewordene Utopie.

© Liteaturfestival Leukerbad

Joachim Sartorius, Lyriker, Übersetzer, Herausgeber und Erzähler, schildert in seinem Buch „Die Versuchung von Syrakus“ seine ganz eigene Auseindersetzung mit einer Stadt, die im Wandel der Jahrhunderte von einer griechischen Siedlung mitten im Sumpfgebiet zur bedeutendsten Metropole am Mittelmeer wurde, zu einem Nabel der Welt, einer Stadt, in der sich wie selten die Kulturen in Stadt und Umgebung ablesen lassen, einer Stadt, in der sich der Dichter nicht eigentlich zurückzieht, sondern abtaucht in die Sedimente der Zeit, in die Stein und Papier gewordene Historie, in ein Erbe, das der Schönheit huldigt, ob in Architektur, Musik, Literatur oder des Zusammenschmelzens verschienster Kulturen bis in den Friseurladen in der Via Roma oder in den Palast von Baron Lucio Tasca di Lignari, vorbei am Dom von Syrakus ins „Trümmerfeld einer einstigen Megastadt“. Joachim Sartorius’ Buch ist das Gegenteil eines Städtereiseführers. Sartorius zeigt, was geschieht, wenn man sich tatsächlich auf einen Ort einlässt, wenn man abtaucht und die Stadt zu einer Vertrauten macht. Er macht seinen Sehnsuchtsort zu einem der meinigen!

Sprecherin Michael Wendt, Pascale Kramer und Moderator Thorsten Dönges (© Liteaturfestival Leukerbad)

So wie Joachim Sartorius eine Stadt zum Tor einer Jahrhunderte langer Menschheitsgeschichte macht, so tief brennt die in Genf geborene und in Paris lebende Schriftstellerin Pascale Kramer in die Abgründe menschlichen Lebens. Ihr neustes Meisterstück «Eine Familie» nimmt sich nicht zum ersten Mal der Keimzelle allen Glücks und aller Katastrophen an. Es ist das eigentliche Thema der grossen Autorin, der im deutschen Sprachraum nicht jene Bedeutung zugesprochen wird, die sie verdienen würde. Aber wer einmal an den Kramer’schen Kosmos angedockt hat, der weiss, wie feinsinnig, treffend und sprachlich gekonnt die Schriftstellerin zeigt, was in den unendlich vielen Verschiebungen im Biotop Familie angerichtet werden kann. Pascale Kramer leuchtet in die Schatten einer Familie. Sie tut das mit derart viel Sympathie für ihre eigenen Figuren, dass man sich wünscht, ihr Verständnis wäre das eigene. Pascale Kramer zieht mich in einen literarischen Strudel, dessen Zug sowohl sprachlich wie von innenfamiliärer Dramatik beschleunigt wird. Wer den Kosmos Kramer noch nicht betreten hat, wer die grosse Schriftstellerin noch nicht entdeckt hat – «Eine Familie» ist alle Familien!

„Geschichten schreiben heisst misstrauisch sein. Lesen heisst, sich darauf einzulassen.“ Judith Hermann liest.

1999 bekam Judith Hermann den Bremer Förderpreis für ihr erstes Buch, den Erzählband „Sommerhaus später“. Ein vielversprechender Start in ein Schriftstellerinnenleben, dass mit seinem siebten Buch „Wir hätten uns alles gesagt“ längst sämtliche Versprechungen eingelöst hat; bei Leserinnen und Lesern, bei Buchhänderinnen – und mit Sicherheit auch bei ihrem Verlag.

4 Bände mit Erzählungen, 2 Romane und nun als siebtem, keineswegs verflixtem, ein Buch, das untertitelt ist mit „Vom Schweigen und und Verschweigen im Schreiben, Frankfurter Poetikvorlesungen“. Ein Buch weit weg von blosser Erklärung oder kühler Vorlesung, ungeheuer intim und grundehrlich. Aber auch verunsichernd und überraschend, nicht zuletzt mit Sätzen wie:
«Schreiben imitiert Leben, Verschwinden der Dinge, beständiges Zurückbleiben, unscharf werden, Erlöschen der Bilder.»


Judith Hermann, längst tief im Bewusstsein einer grossen Schar von Lesenden, als Grosse verankert, eine Autorin, die sich selbst noch immer nur schwer als Schriftstellerin bezeichnet, der ein Journalistikdozent einst nur mangelndes Schreibtalent attestierte, schreibt sich die Herzen der Leserinnen. Das bewies der volle Saal im Kunstmuseum St. Gallen!

Judith Hermann schreibt um ihre Person, ein Umstand, der in ihrem neusten Buch mehr als deutlich wird und ihre vorangegangenen Bücher noch einmal in ein ganz anderes Licht taucht. Eigentlich genau das, was unter dem Begriff „autofiktionales Schreiben“ in den letzten Jahren zu einer literarischen Welle wurde. Eine Welle, auf der Judith Hermann nicht reitet, aber eine, die sie mit auslöste. Judith Hermann umkreist Menschen, die ihr nahestehen, um festzustellen, dass jene nicht die sind, von denen man glaubt, sie zu kennen. So wie sie die Annäherung an ihre Prozesse des Schreibens nicht als eigentliche Annäherung versteht, sondern als wachsendes Bewusstsein nicht zu überwindender Distanz. «Ein allmählich dämmerndes Bewusstsein dafür, dass du selbstverständlich doch allein auf der Welt bist.»


Wer mit sieben Büchern, mehr Preise als Veröffentlichungen sein eigen nennt, scheint nicht nur bei Leserinnen und Lesern etwas ganz Spezielles auszulösen. Mit Sicherheit das Gefühl, dass das, was Judith Hermann schreibt, uns etwas angeht. Judith Hermann schiebt mich als Leser in Entscheidungssituationen, beschäftigt sich in ihren Büchern mit ihrem, meinem Bewusstsein, ihrem Zustand im Schreiben, weil Schreiben eine Form der Auseinandersetzung mit Bewusstsein ist.

Judith Hermanns Bücher, am meisten wohl ihr neustes „Wir hätten uns alles gesagt“, verunsichern und zwingen mich, der Lektüre mit einem Bleistift hinter dem Ohr zu folgen. „Geschichten schreiben heisst misstrauisch sein. Lesen heisst, sich darauf einzulassen.“

Rezension von «Wir hätten uns alles gesagt» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Gallus Frei-Tomic