Bruno Pellegrino «Stadt auf Zeit», die brotsuppe

Ein junger Übersetzer soll in Venedig das sichten, was eine gefeierte, alt gewordene Übersetzerin zurückgelassen hat. Er bricht auf in eine Stadt, die sich nicht nur dem Wasser ergeben muss, in eine Wohnung, die dem Verlassen preisgegeben, in ein Leben, das abgebrochen ist. Bruno Pellegrinos stimmungsvoller Roman ist für einmal keine Liebesode an eine sterbende Stadt, sondern ein Mahnmal der Vergänglichkeit.

Sonst reist man in die Stadt im Wasser, um sich von Kulisse umgeben, um sich von Geschichte und Kunst betören oder dem langen Schweif vieler Erzählungen einlullen zu lassen. Aber der junge Mann reist nicht in die Lagunenstadt, um sich ihrem Charme zu ergeben. Eine Stiftung schickt ihn, weil eine hoch angesehene Übersetzerin mitten aus ihrem Leben gerissen wurde und die Institution sicherstellen will, dass nichts von Bedeutung mit einem Mal verloren sein könnte. Er reist in die Stadt, in die Wohnung einer Frau, die der Wahn aus einem Leben gerissen hatte, das ganz der Sprache, der Übersetzung gewidmet war.

Bruno Pellegrino «Stadt auf Zeit», Verlag die Brotsuppe, 2023, aus dem Französischen von Lydia Dimitrow, 140 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 78-3-03867-088-9

Stellen sie sich vor, sie öffnen die Tür zu einer Wohnung, die während Jahrzehnten das Refugium einer Frau war, die ganz offensichtlich nur für sich und die Sprache lebte. In den Lebensraum einer Frau, die den Koffer gepackt hatte, um in ihre Heimatstadt zu fahren, in der man sie für ihr Lebenswerk auszeichnen wollte, die die Reise aber nie angetreten hatte. Die stattdessen in ihrem Wahn in einer Klinik vor der Stadt eingewiesen wurde, ganz offensichtlich nicht in der Hoffnung, je in ihr altes Leben zurückkehren zu können.
Ein junger Mann ganz am Anfang seiner Karriere als Übersetzer im Gemäuer einer Frau, die in ihrem Beruf alles erreicht, sich als Mensch aber in der Einsamkeit verloren hatte. Er dringt ein. Er ordnet und katalogisiert, was an Schriftstücken wild durcheinander einen Kosmos ausmacht, den er selbst nicht durchdringen kann. Er spürt einem Leben nach, das noch nicht erloschen ist, aber wegtauchte in einen Wahn, von dem es kein Zurück zu geben scheint.

Man quartiert ihn in einem Studentenheim ein, gibt ihm die Schlüssel zur Wohnung der Übersetzerin mit und alle Zeit der Welt, um festzuhalten, was Zeit und Feuchtigkeit in jenem Zuhause in der Lagunenstadt bedrohen. Aber das Wasser nährt nicht nur das Papier, das sich in der Feuchtigkeit wellt. In den Wintermonaten drohen die Fluten einmal mehr, die Lagunenstadt, die mit stoischer Gelassenheit auf die immer wiederkehrende Bedrohung reagiert, einzunehmen. Eine Situation, die den jungen Mann verunsichert und bedroht, die ihn ängstigt und in stille Panik versetzt. Hier die Frage, wer die Frau war, in deren Wohnung er die Schlüssel für ein Leben sucht, dort die Bedrohung durch das Wasser, das sich in alles hineinzufressen scheint. Ein zurückgelassenes Leben, in dem seine Grossmutter zuhause zu sterben droht, er in einer Stadt, die dem Untergang geweiht ist.

Bruno Pellegrinos Roman „Stadt auf Zeit“ ist ein Buch über Vergänglichkeit. Für einmal kein Buch, das die Schönheit der Lagunenstadt besingt, sie zu einer Kulisse der Leidenschaft macht. Die Stadt stirbt. Das Wasser ist überall. Sie saugt sie in sich auf, wie ein fauliger Schwamm. Was der Mensch macht, ist dem Zerfall preisgegeben, selbst mit dem matten Versuch, dem Sterben Einhalt zu gebieten. „Stadt auf Zeit“ ist weder melodramatisch noch in irgend einer Weise romantisierend. Es ist ein Stück Totengesang. Noch viel mehr, weil die Übersetzerin, die ein Leben lang die Schlüssel zur Sprache suchte, vom Wahn dahingerafft wurde. Ein Roman voller Metaphern und feuchtdunklen Tiefen.

Bruno Pellegrino, geboren 1988, lebt in Lausanne und Berlin. Er studierte Literaturwissenschaften, veröffentlichte zahlreiche Texte in Literaturzeitschriften. Für seine Novelle «L’idiot du village» (2011) wurde er mit dem Prix du jeune écrivain ausgezeichnet. Pellegrino ist Mitbegründer von AJAR, einer Gruppe junger Autorinnen und Autoren in der Romandie. «Atlas Hotel» ist sein erster Roman (auf Deutsch erschienen im Rotpunktverlag). «Là-bas, août est un mois d’automne» erschien bei Zoé und wurde unter anderem mit dem Prix des lecteurs de la Ville de Lausanne und dem Prix Alice Rivaz ausgezeichnet; unter dem Titel «Wo der August ein Herbstmonat ist» wurde es, übersetzt von Lydia Dimitrow, 2021 im verlag die brotsuppe veröffentlicht.

Lydia Dimitrow, geboren 1989 in Berlin, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin und Lausanne. Sie ist Autorin von Theatertexten und Prosastücken (u.a. erhält sie 2023 eins der Berliner Arbeitsstipendien für Literatur in deutscher Sprache, vergeben von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa) und arbeitet als Übersetzerin aus dem Englischen und dem Französischen (u.a. Isabelle Flükiger, Jamey Bradbury, Pascal Janovjak, Bruno Pellegrino und jetzt Antoinette Rychner). Ausserdem ist sie Gründungsmitglied der Theaterkompanie mikro-kit.

Beitragsbild © Éditions Zoé, Romain Guélat

Myriam Wahli „Ohne Komma“, die brotsuppe

„Ohne Komma“, das erste Buch von Myriam Wahli, das auf Deutsch erhältlich ist, ist ein ganz und gar eigenwilliges Buch. Zum einen die erzählende Perspektive aus der Sicht eines Kindes, zum andern formale Eigenheiten, die nahelegen, dass es der jungen Dichterin um viel mehr geht, als zu erzählen.

Ein Mädchen erzählt von seinem Zuhause, der Familie, dem Dorf, der näheren Umgebung, den Menschen in diesem Dorf, von der Kirche, der Schule. Glaubhaft und nachvollziehbar aus der Sicht eines Kindes zu erzählen, gelingt nicht oft. Es bedarf einer Sprache, die nachempfinden lässt, was in der noch so unverbrauchten, empfänglichen Wahrnehmung eines Kindes geschieht, um mich als Leser nicht abzuschrecken. Dazu gehört keine kindliche Sprache. Myriam Wahli wertet die Wahrnehmungen ihrer Protagonistin nicht. Keine Interpretationen, keine weitschweifenden Assoziationen, die bei Erwachsenen automatisch zu Filtern werden.

Da erzählt ein Kind von seiner noch kleinen, mitunter sehr engen Welt. Manchmal hatte ich als Leser das Gefühl, jene archaische Welt rücke in einzelnen Bildern tief in Vergangenheiten, weit weg von dem, was das Alter der Autorin vermuten lässt. Aber jenes Dorf, in dem das Leben und immer gleiche Traditionen einem gleichförmigen Takt unterworfen sind, bestimmt auch den Takt des Erzählens. Das Mädchen erzählt von den Schichten, die sich auf alles legen, was die Welt des kleinen Mädchens ausmacht. Nur ganz selten gelingt es Menschen, Momenten und Augenblicken, sich aus diesen Schichten herauszuschälen. Diese Schichten sind keine warmen Decken, sondern ein klebriges Meer aus Unerklärtem, Unverstandenem, Fremden.

Myriam Wahli «Ohne Komma», die Brotsuppe, 2023, aus dem Französischen von Yves Raeber, 72 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-03867-083-4

Nicht dass sich die Welt des Mädchens gegen sie wendet. Aber niemand bemüht sich, dem Mädchen die Welt zu erklären. Die Erwachsenen sind Fremde, selbst Mutter und Vater, die beide fest in ihrer Arbeitswelt eingespannt sind.
Mit jedem Satz zeichnet das Mädchen die Färbungen und Schatten dieser Schichten. So ist auch jeder Satz ohne Komma durch einen Abschnitt vom vorangegangenen abgesetzt, jeder Satz ein AugenBlick. Das Kind spürt, dass sie es ist, die den Zugang zur Welt der Erwachsenen suchen und finden muss, in eine Welt, in der die Erwachsenen Wörter auf die Dinge legen. Die Erwachsenen haben eine Kommode im Kopf, ein sperriges Ding mit unsäglich vielen Schubladen, wo mit Aufklebern festgehalten ist, was sich darin befinden soll. Wer sich nicht dem Rhythmus, den Traditionen und Regeln des Dorfes und der Kirche unterwirft, bricht den „Schichtenvertag“. Alles muss seine Ordnung haben.

Einzig die Alten scheinen dem Leben das Zugeständnis abgerungen zu haben, sich nicht mehr gänzlich einfügen zu müssen. Zum Beispiel Rossé, der Alte mit Lockenmähne und grauem Bart und den Bienenvölkern, von denen er erzählt.

Beeindruckend ist die verknappte Sprache. Obwohl einzelne Sätze lang sind, hat ihre Sprache nichts Ausuferndes. Es sind Sätze voller Klarheit, voller Schönheit.  Jeder Satz eine Miniatur, die durch kein Komma unterbrochen werden will. Myriam Wahli bringt eine Leichtigkeit in ihr Erzählen, die die harten Konturen der Wirklichkeit mit dem kindlichen Sehen aufweicht. „Ohne Komma“ ist ein Sprachkunstwerk.

Myriam Wahli wurde 1989 in einem Industriegebiet im Berner Jura geboren. Sie zeigt Filme in Bergdörfern, studiert die Kunst des Shiatsu, betreibt wildes Gärtnern, umarmt Bäume und versucht hartnäckig, ihr Leben zu einer geraden Linie zu machen, die am Ende immer in eine Kurve mündet. 2018 wurde sie mit dem Stipendium von Fell-Doriot ausgezeichnet.

Yves Raeber ist Schauspieler, Regisseur und Übersetzer von Theaterstücken und Prosa. 2017 hat ihm die Fachstelle Kultur des Kantons Zürich für seine Arbeit am Roman «Ruhe sanft» einen Werkbeitrag für Literarisches Übersetzen zugesprochen. 2019 erhielt er von der Stadt Zürich eine literarische Auszeichnung.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Tonatiuh Ambrosetti

Chris Schneeberger «Eine unschöne Weihnachtsgeschichte», 3. unschöne Weihnachtsgeschichte

Es war das Jahr der Unfälle. Danach hiess es amigs, wir lebten halt hier unten im Bermudadreieck. Wobei, im Bermudadreieck wird spurlos verschwunden.
Also, zuerst kippte ein Milchlastwagen auf dem neuen Viadukt. Der Milchtanklastwagen enleerte sich und es ergoss sich nicht nur ein Strom von Milch vom Geelig oben runter ins Vogelsang abe, schön der geschwungenen neuen Strassenführung entlang, nei, es tropfte und spritzte und leuchtete ein Milch-Wasserfall vom gebogenen Viadukt über die Eisenbahngeleise Baden-Brugg herunter, dass es nur schön war.
Dann fiel ein Flugzeug vom Himmel. Also, mitten in eine Stube, genau genommen, in die Stube der Postkartenfamilie. Die machten Postkarten und konnten offensichtlich gut davon leben. Sicher waren es nicht Postkarten von hier. Auf jeden Fall landete das kleine Flugzeug mit der Nase auf dem Sofa, auf dem gerade noch die Postkartenmutter gesessen hatte, aber dann ein Glas Wasser holen ging, und Tätschbummpeng, sass die Nase von einem Flugzeug, wo gerade noch sie gesessen. Da stieg der Pilot aus und entschuldigte sich sehr. Sie bot ihm das Glas Wasser an. Er fiel um, und schlug sich den Kopf am modernen Glastisch auf.
Und dann beim Manta im Kraftwerkswehr. Auch da war es die Kurve, die einer nicht kriegte. Der Opelfahrer brach in Tränen aus, als er das havarierte Auto dann pflotschnass am Kranhaken aus dem Kraftwerkskanal auftauchen sah. Da mussten alle lachen.
Dann lag plötzlich der Onkel, der erst 17 Jahre alt war, wie eine komplett eingepackte Mumie im Spital, ich wusste nicht, wer das sei. Den Stromausfall hatten alle mitgekriegt, als der Lehrling von Papa und Bruder von Mama blöd in die Hochspannung geraten war, im Transformator. Auch er hatte Glück, aber da weinten alle.
Das war ja alles noch lustig. Aber es war auch der Sommer, ab dem wir nicht mehr in den Maisfeldern spielten, wegen den toten Kindern. In der Brockenstube hatte mich auch so ein Mann verfolgt, aber ich kannte mich im Labyrinth der Gestelle und Tische besser aus als er und konnte dann abhauen.
Ja, und jetzt wäre auch noch Weihnachten. In der Sonntagsschule bin ich immer der blöde Joseph, den es in der Geschichte ja gar nicht braucht. Ich wäre lieber etwas richtiges, ein König, vorallem Balthasar, aber der muss wie jedes Jahr Cedrik spielen, wegen der Farbe. Wegen seiner Farbe oder wegen meiner, ich finds jetzt emel blöd, und Cedrik auch – und zwar die ganze Welt. Er komme jetzt nicht auch noch in die Sonntagsschule. Dabei sahen wir uns nur dort und ich war in ihn verliebt. Nach der Feier Zuhause habe ich dann nur noch gekörbelt vor lauter Rimuss-Kinderwein und Wiehnachtschrömli und dem Braten im Teig und Grossmutters berühmter Ananascremetorte und Mama sagte, das war jetzt für dieses Jahr vielleicht doch ein Biss zu viel.

Christoph Schneeberger wird 1976 im Aargau geboren und wächst in Vogelsang und Birr auf. Er studiert zunächst am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und schliesst 2018 den Master in Literarischem Schreiben an der Hochschule der Künste Bern ab. Christoph Schneeberger verknüpft die verschiedenen Bereiche der Kunst und ist in vielseitigen Formen und Identitäten aktiv. Als X Noëme – so heisst er als Dragqueen – performt er etwa eine Lesung seines preisgekrönten Romans «Neon Pink & Blue». 2021 gewann Christoph Schneeberger den Schweizer Literaturpreis.

Philippe Rahmy «Allegra», die brotsuppe

Sommer 2012. London kocht in den Vorbereitungen zu den Olympischen Spielen. Ein volles Stadion. Tausende von Menschen jubeln und erwarten. Abel sitzt auch unter diesen Menschen, mit einem Rucksack zwischen den Füssen, den er an den Kontrollen am Eingang vorbeischmuggeln konnte. Im Rucksack ist eine Bombe.

Abel heisst in Philippe Rahmys Roman wohl nicht zufällig Abel. In der Geschichte im Alten Testament bringt der Ackerbauer Kain seinen Bruder und Schafhirt Abel um, weil sein Opfer bei Gott nicht die gleiche Beachtung fand wie jenes seines Bruders. Auch im Roman „Allegra“ scheint das Leben des einen nicht den gleichen Wert zu haben wie all die andern, die sich in der Finanzwelt der Millionenmetropole London nach der Decke strecken. 

Abel war nach seinem Studium ein vielversprechender Trader, ein Börsenhändler, der mit Hilfe spezieller Algorithmen Kapital zu vermehren versucht, gefördert und betreut von seinem Mentor Firouz. Sonst in seinem Leben ein Einzelgänger lernt er die hübsche Lizzie kennen, verliebt sich, nicht nur in sie, sondern auch in seinen Erfolg, ins Geld. Lizzie wird schwanger und alles im Leben Abels scheint jene Wendung zu nehmen, die Erfolg in der undurchsichtigen Finanzwelt als Lohn von Instinkt und Cleverness erscheinen lässt.

Aber Abel hat nicht erst seit seinen Erfolgen im grossen Business ein Problem mit Alkohol. Als Lizzie nach einer schwierigen Schwangerschaft ein Mädchen zur Welt bringt und sich das planbare Glück nicht wie Zahlenfolgen programmieren lässt, schlaflose Nächte zur Regelmässigkeit werden, Lizzie sich in Depressionen verkriecht, wirkt sich das auch auf den bisher so sicheren Tritt in Abels Berufsleben aus. Unkonzentriertheiten mehren sich, Warnungen werden überhört, Verluste stellen sich ein, das Vertrauen jener, die mit Erfolgen rechnen und immer deutlichere Verluste einstecken müssen, schwindet, zerfällt, bis Abel von Firouz entlassen wird.

Philippe Rahmy «Allegra», aus dem Französischen übersetzt von Yves Raeber, die brotsuppe, 2022, 192 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-03867-059-9

Aber wenn eine Lawine zu rutschen beginnt, reisst sie alles mit. Irgendwann, die Wohnung der jungen Familie wird immer mehr zu einem Ort des Desasters, wird die kleine Allegra krank. Als das Fieber immer dramatischer wird, schickt Lizzie Abel nachts auf die Strasse, um Medikamente, Hilfe zu holen. Aber Abel strandet, verliert sich im Suff. Und als er dann wirklich nach Hause kommt, hat sich die Katastrophe schon eingestellt, zuerst unsichtbar, um dann aber wie ein alles zerstörendes Gewitter über den aus dem Rausch auftauchenden Abel einzubrechen.

Abel verliert alles. Seinen Beruf, seine Familie, sein Zuhause. Er strandet in einer verkommenen Absteige mit dem bisschen, dass er tragen konnte, seinem Computer, seinem Auto. Abel rutscht ab, immer weiter, in einen Sog, der ihn immer tiefer in Wahn, Ängste und Drogen hinunterzieht. Philippe Rahmy protokolliert nicht einfach den Niedergang eines Aufsteigers. Genauso wenig geht es ihm um einen Erklärungsversuch für all jene, die sich in ihrer Verzweiflung an der Gesellschaft zu rächen versuchen. Abel kämpft um sein Glück. Letztlich will er nichts anderes als das Glück für sich, seine Frau und seine Tochter Allegra. Aber so wenig er sich von seinem Laster, seinen handlichen Jägermeiser-Ampullen, die er mit sich herumträgt, trennen könnte, so wenig ist er mit seinem Bewusstsein dort, wo er sein sollte.
Philippe Rahmy schreibt über den Kampf eines Mannes in seinem Käfig, beschreibt diesen Kampf in beklemmender Sprache, mit Bildern, die an den Film «Trainspotting» erinnern, jene Welt hinter den glänzenden Kulissen. Philippe Rahmy bebildert die Macht der Verzweiflung.

Aus der Jury zum Schweizer Literaturpreis 2017: Allegra von Philippe Rahmy ist ein frenetisches Werk, in dem die Gewalttaten unserer Zeit vor der Kulisse eines düsteren und harten Londons aufeinandertreffen. Hochfinanz, Macht, soziale Unsicherheit, verhinderte Identitäten, Radikalitäten, Terrorismus, Liebe, Trauer und Wahn. Die Hauptfigur Abel durchlebt diese Welten wie Zerreissproben. Das romanhafte Spiel gleicht einem vermeintlich ausweglosen Labyrinth und die intensiven, ungebändigten und ausdrucksstarken literarischen Bilder brennen sich dauerhaft ins Gedächtnis der Lesenden ein.

Philippe Rahmy ist 1965 in Genf geboren. Seine Mutter war Deutsche, sein Vater Franzose und Ägypter. Beeinträchtigt durch die Glasknochenkrankheit wurde das Schreiben zu seinem wichtigen Rückgrat. 2005 veröffentlichte er einen ersten Gedichtband. Nach dem Reiseroman «Béton armé» (2013) wandte er sich mit «Allegra» (2016) zum ersten Mal der Form des Romans zu. 2017 – im Jahr, als er starb – erschien «Monarques» und gerade erst sein letzter Roman «Pardon pour l’Amérique». Alle drei Romane wurden im Verlag La Table Ronde veröffentlicht.

Yves Raeber ist Schauspieler, Regisseur und Übersetzer von Theaterstücken und Prosa. 2017 hat ihm die Fachstelle Kultur des Kantons Zürich für seine Arbeit am Roman «Ruhe sanft» einen Werkbeitrag für Literarisches Übersetzen zugesprochen.

Johanna Lier «Zwischenfall», Plattform Gegenzauber

Leere.

Ich sehe die stille Strasse. Die aufgereihten Wohnblocks. Den Windstoss in dem pinkfarbenen Schirm. Ich sehe sein blitzartiges Auftauchen. Schatten an meiner Seite. Raubtiersprung. Seine Brust auf meinem Rücken.
Ich sehe den jungen Mann in Pullover, Jeans und Sportschuhen weglaufen. Sein tänzelnder Gang, seine aufrechte Körperhaltung, sein Zögern angesichts meiner Schreie und die Wendung seines Kopfes.
Meine Tiertasche in seiner Hand.
Ich sehe meine angezogenen Knie und den Rahmen des Hauseingangs an meiner Wange und wie ich meine Fusssohle festhalte. Ich sehe den Polizisten, der sich hinkauert, den Krankenwagen unter rotierendem Blaulicht. Ich sehe das Tier, das seine Schnauze in meine Jacke drückt, dorthin, wo der junge Mann Hand angelegt hat.

Ich sehe das karierte Nachthemd. Die weissen Strümpfe. Die Zeitungen. Den Tisch am Fenster. Die übrigebliebenen Nahrunsgmittel in Glasschalen.
Ich sehe das Zimmer mit den braunen Vorhängen. Mit den Wanzenkotspuren am Boden. Den schwarzen Flecken auf der Matratze.
Ich sehe meinen bewegungslosen Körper auf dem Bett. Ich sehe, mein unruhiges Herumtigern in der Wohnung. Ich sehe, wie ich für wenige Minuten mich hinsetze, um wieder aufzustehen, um einen neuen Platz zu suchen.

Ich sehe, wie meine Hand nach der Teeschale greift. Ich sehe den umgestürzten Teekrug. Ich sehe, das gelbe Wasser, das sich auf dem Tisch ausbreitete. Ich sehe das Papier, das sich vollsaugt.

Ich sehe die Blüten, die aus dem Baum quellen. Gestern hat der Baum Blüten getrieben. Ich sehe vor dem inneren Auge das, was ich in der Vergangenheit bereits gesehen habe.

Ich höre, wie die Blätter aus dem Baum platzen. bald wird der Baum Blätter treiben. Ich höre das, was ich noch nicht gesehen habe. Ich höre das, was in meinem Bewusstsein noch nicht existiert.

Ich sehe mich im Wohnzimmer sitzen. Im Rücken die Bücherregale. Vor mir die Couch und das Gästebett. Und die Bilder. Ich sehe meine Füsse, die auf dem gegenüberliegenden Stuhl liegen. Ich sehe die blutrote Narbe, die sich um den Knöchel und über den Rist bis zur Sohle zieht. Ich sehe die Wolldecke, die ich um meine Hüfte geschlungen hab. Ich sehe die zwei Teeschalen, die weisse und die schwarze und den grünen Tee. Ich sehe den Bildschirm meines Computers und Filmbilder, die kommen und gehen.

Bestehe ich auf meinem Vorfahrtsrecht, knalle ich gegen die Wand. Schlage ich Nägel in die unberührte, weisse Wand, wage ich es nicht. Löst sich ein Schmerz an der Fusssohle, ist das wegen den Nägeln in den Hufen der Tiere.
Verbrennen die Fusssohlen im Sand zu Mittag am Meer.

Die Gegenwart, ein Nebelstreif zwischen Vergangenheit und Zukunft, so vage, dass sie faktisch nicht existiert. Die Gegenwart, solcherart dünn, dass ein Fuss in der Vergangenheit und der andere in der Zukunft steht.

Ich sehe, wie ich meine Sachen zusammenpacke, wie die maskierten Freunde in der Dunkelheit meine Habseligkeiten raustragen und in die zwei Autos räumen, ich sehe, wie ich im Hinterhof stehe und warte, bis die Wohnung leer ist, wie ich in der Kälte den Mantel über der Brust zusammenziehe, wie die Freunde in der leeren Küche die Masken abnehmen und Bier trinken und auf dem Balkon rauchen.

Ich bin zum Meer gezogen. Die Hütte ist klein. Das Bett bunt. Die Küchenzeile schmal. Die Bäume hoch. Der Blick weit.

Die goldfarbenen Tiere sind gross. Ihre Nacken sind wulstig, die Rücken fleischig, sie riechen nach Pisse, das Fell stachelt oder schmeichelt. Sie gewichten sich schwer an mein Knie.
Sie knurren mich an, wenn ich mich vor dem jungen Mann in Pullover, Jeans und Sportschuhen fürchte und ihm zuschaue, wie er über mich herfällt. Sie bestrafen mich mit ihren gelben Zähnen und ihren nassen Lefzen für meine sündigen Gedanken.

Plätschert das Meer blau, setze ich mich auf die unterste Stufe der hölzernen Treppe, die zum Strand führt. Liegt der Strand leer, füllt sich die Brust mit Glück und ich wühle mit den Händen.

Ich halte dich in Händen, obwohl ich dafür gesorgt hab, dass du nicht da bist.

Hör ich mit hoch erhobenem Kopf in die Zukunft, sehe ich nicht, was unter meinen Füssen soeben geschehen ist. Starre ich zu meinen Füssen und versuche meine Sohlen zu erkennen, die kurz davor die Erde irgendwo berührt haben, höre ich die Zukunft nicht.

Leere.

Aber du machst Lärm. Er liegt in der Luft. Ich hebe den Kopf und höre das Rascheln deiner Hemden. Ich höre, deine leichten schnellen Schritte. Ich höre das zaghafte, aber hungrige Lachen. Ich höre die von Bewusstheit und Gier gesättigte Stimme. Ich höre die Musik. Ich höre deine nackten Füsse auf dem Holzboden. Ich höre die Kleider auf den Sessel fallen, rauschendes Wasser am Morgen, das von deinen Bewegungen unterbrochen die Richtung ändert, das Klacken der Kaffeekanne, heisere, ungeduldige Rufe, meinen Namen, oder eine alberne Verballhornung, die Schluckbewegungen und das Mahlen der Zähne.
Ich höre deine Belehrungen, ich höre deine Erzählungen, ich höre diese kurzen, aufforderden Sätze, die bekunden, dass du zuhörst, ich höre deine Bemühungen mich zu überreden.
Ich höre die Unsicherheit beim Aufzählen deiner Vorzüge. Ich höre den scheuen Triumph im Moment deiner Siege.
Ich höre deine Handinnenfläche an meiner Haut. Ich höre deine Finger in meinem Haar. Deinen Atem.
Ich hab dich so viele Male gesehen. In vergangenen Tagen. Aber das warst nicht du.
Wenn ich hinhöre bist du. Irgendwo. Ich versuche den Kopf in Richtung zu wenden …

Johanna Lier studierte Schauspiel und absolvierte einen Master of Arts in Fine Arts. Nach jahrelanger Tätigkeit als Schauspielerin lebt sie als Dichterin und freie Journalistin in Zürich und unterrichtet kreatives Schreiben an der Kunsthochschule Luzern.

2018 und 2019 verbrachte Johanna Lier mehrere Monate in Griechenland und auf der Insel Lesbos und kam eher zufällig ins Registrierung- und Ausschaffungszentrum Moria. Eine Gewalterfahrung, die eine Antwort erforderte. Die Autorin kehrte nach Moria Camp zurück und begann, basierend auf Kriterien aus James Baldwins Essay «Everybodys Protest Novel», zu recherchieren und zu schreiben.
Neun Männer und Frauen aus dem Lager Moria auf der Insel Lesbos, Geflüchtete und Aktivistinnen, erzählen der Autorin (oder ihrem fiktiven Alter Ego Henny L.), was es braucht, um dort zu überleben. Es geht um Hunger, Kälte, Hitze, Warten, Gewalt und um den radikalen Kontrollverlust über das eigene Leben.
Sie fliehen vor Krieg, Diktatur, Hunger und den Auswirkungen der Klimakatastrophe; manche sind auf der Suche nach einem besseren Leben; sie kommen aus dem Mittleren Osten, aus Südostasien, dem Maghreb und subsaharischen Ländern. Allen ist gemein, dass sie in seeuntüchtigen Gummibooten das Ägäische Meer überqueren und auf den griechischen Inseln in Lagern gefangen gehalten werden, bis entschieden ist, ob sie in Europa Asyl beantragen dürfen – oder ob sie in die Türkei deportiert werden. Das kann Jahre dauern.
Amori. Die Inseln ist keine Chronik der Skandale, sondern ein dokumentarischer Bericht, der mit literarischen Mitteln die Nähe zu den Beteiligten sucht. Jahrhundertealte europäische Praxis wird dokumentiert: die Selektion und das Lager. Die Protagonistinnen und Protagonisten setzen ihr die ganz eigenen Vorstellungen von persönlicher Erfüllung und Freiheit entgegen.

Rezension zu «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Thomas Sandoz «Apollo», Plattform Gegenzauber

Chères amies, chers amis de Mars et environs,

J’ai perdu une balle de golf le printemps dernier et serais très heureux si vous acceptiez de m’aider à la retrouver. Elle a disparu à proximité des collines de Fra Mauro où nous avions aluni en février dernier. Mon ami Edgar D. Mitchell qui faisait quelques pas en ma compagnie ne m’a pas été d’un grand secours et c’est pourquoi je me tourne aujourd’hui vers vous. Ce n’est pas simplement une question sentimentale. Certes, j’avais promis à mon père de faire un petit geste pour lui, grand pour l’histoire de notre noble sport. Mais l’administration de la NASA me réclame cette balle – à tort puisque je l’ai achetée moi-même chez Britroy, un commerce fort avenant situé sur Lexington Avenue. Vous connaissez l’esprit étriqué de nos fonctionnaires, impossible de les raisonner, d’autant plus que la presse s’acharne sur le coût de notre mission. La Nation devrait être heureuse que nous soyons revenus sains et saufs malgré les nombreuses pannes auxquelles, comme nos prédécesseurs, nous avons dû faire face. On m’a déjà demandé le club bricolé pour l’occasion, mais j’ai souhaité faire don de mon fer 6 à des amis véritablement connaisseurs (rassurez-vous, pas à ces Ecossais de la Royal & Ancient Golf Club de Saint Andrews qui soutiennent que j’ai fauté en négligeant de ratisser le sol lunaire après mon coup).

Récupérer cette balle me ravirait et me consolerait des railleries dont je fais l’objet depuis mon retour. Il est vrai que mon premier tir n’est pas parti à des miles et des miles. Mais avez-vous déjà essayé de slicer hors de l’atmosphère? Même que, empêtré dans ma combinaison, j’ai failli m’étaler dans le sable. Ai-je mérité pour autant d’être traité de Bibendum jouant au croquet? Que les hommes sont injustes…

Merci par avance pour votre précieux soutien.

Sincèrement,
Votre dévoué Alan B. Shepard
Chef du Bureau des astronautes
23 décembre 1971
ps : J’offre une bonne récompense.

TS, 2007, rév. 2020

Thomas Sandoz «Ruhe sanft», übersetzt von Yves Raeber, die Brotsuppe, 136 Seiten, CHF 25.00 und Euro 22.00, ISBN 978-3-03867-010-0

Thomas Sandoz lebt im Kanton Neuenburg und hat Prosa, Essays und Monographien veröffentlicht und dafür diverse Auszeichnungen erhalten. Insbesondere 2011 den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung für «Même en terre» (Grasset). Die zuletzt erschienenen Titel sind «Les temps ébréchés» (Grasset, 2013), «Malenfance« (Grasset, 2014), «Croix de bois, croix de fer» (Grasset, 2016), «La balade des perdus» (Grasset, 2018).
Die Übersetzung von »Même en terre« ist unter dem Titel «Ruhe sanft» im verlag die brotsuppe erschienen. Übersetzt hat Yves Raeber.

Rezension von «Ruhe sanft» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Pablo Fernandez

Thomas Sandoz «Ruhe sanft», die brotsuppe

In Diskussionen darüber, was Literatur darf, soll oder muss, wird schnell diametral verschieben argumentiert. Den einen soll Literatur nicht mehr als gute Unterhaltung bieten. Andere müssen Resonanz spüren, nicht nur inhaltlich und thematisch, sondern auch im Sound der Sprache. Und wieder anderen genügt eine Literatur ohne unterlegte Mission nicht.

Thomas Sandoz› schmaler Roman will mit Sicherheit mehr als blosse Unterhaltung liefern. Im Gegenteil; Leserinnen und Lesern, die Bücher nur zur Zerstreuung brauchen, würde ich diese Buch nicht empfehlen. Es wäre schlicht zu schade dafür.
Dann schon eher der Geniesserin, dem Geniesser. Jenen, die spüren wollen, wie  Sprache hinausträgt, weit mehr als Informationsträger sein kann, sondern Medium, Instrument, das Nachhall erzeugen will.
Aber noch viel deutlicher jenen, für die Literatur auch ein Kampfmittel, eine Form der Auseinandersetzung, ein Infrage-stellen ist. Thomas Sandoz nimmt sich den «kleinen Leuten» an, jenen, denen die Stimme genommen wurde oder die sie verloren. «Ruhe sanft» ist ein Mahnmal gegen eine blank polierte Welt, die sich der Funktionalität und Rentabilität verkauft hat. In der es weder für Langsamkeit noch für Innigkeit, weder für Hingabe noch für Eigenwilligkeit Platz hat. Schon gar nicht für Schrullen.

Schon lange arbeitet er als einer der Gärtner auf dem städtischen Friedhof. Wenn Pause ist, duckt er sich weg, macht sich lieber unsichtbar oder bleibt noch lieber dort, wo er hingehört; in den Teil des Friedhofs, wo die Kinder liegen, zu den Kindergräbern, seinen Kindern. Morgens ist er der erste, abends der letzte. Die kleine Wohnung nicht weit vom Friedhof ist karg eingerichtet, mehr  Höhle als Wohnung.

Für eine eigene Familie hat es nie gereicht. Vielleicht deshalb, weil er das Trauma einer schwierigen Kindheit ein Leben lang wie einen Alp mit sich herumschleppt. Weil ihn die Bilder aus jener Zeit auch im Alter nicht loslassen. Weil er nie aus seinem Schweigen herausfand. So wie ihn die Schicksale der verstorbenen Kinder nicht loslassen, die Geschichten, die er sich zusammenreimt, die den Kindern eine Vergangenheit schenken, die erklärbar machen, warum man sie auf dem Friedhof vergessen hat. Er macht seinen Kindern Geschenke, bemüht sich viel mehr als nur um die Bepflanzung, das Kreuz, den Grabstein und den Weg dorthin. Er gibt den Kindern Namen; Primel, Forsythie, Hyazinthe, Pfingstrose oder Anemone. Er redet zu ihnen, leistet ihnen Gesellschaft, ist ihnen Behüter und Vater.

Die anderen auf dem Friedhof nehmen seine Schrullen, seine Eigenarten zur Kenntnis. Er ist längst zum Inventar geworden, einem Stück des Friedhofs. Aber auch auf dieser Ruhestätte macht Modernismus, Fortschritt und Reform keine Ausnahme. Männer mit Plänen, Klemmbrettern und Messbändern machen sich zu schaffen und er macht sich Sorgen um seine Familie, all die Kinder, die nicht nur ihr Leben verloren , aber durch sein Tun etwas von dem zurückbekommen, was dem Verschwinden droht.

Er versteht die Welt nur schwer, kann sie nicht mehr lesen. Sein Blick ist düster, alles bedroht von Niedergang und Zerstörung. Er versteht weder den Einsatz von Gift gegen Unkraut, noch das geschäftig Tun der Friedhofsleitung. Die Menschen schon gar nicht, die Jungen überhaupt nicht. Dafür umso mehr die Stimmen seiner Kinder in seinem Geviert, jenen, die man seiner Obhut übergab. Aber jetzt, wo Inspekteure und Bürohengste Sanierungen, Restaurierungen und Umfunktionierungen androhen, zwingt es ihn, einen lange gehegten Plan in die Tat umzusetzen. Er kauft ein altes Haus mit Grundstück, einen Ort, an dem er seinem Kindergarten eine neue Heimat geben wird.

Thomas Sandoz erzählt die Geschichte von jemandem, den man nicht mehr braucht, den die Gegenwart und die Zukunft erst recht vergessen hat, der einen stillen, zornigen, verbissenen Kampf austrägt gegen einen Feind, der in allem zu stecken scheint. Einen Kampf, der ihn nahe an den Rand des Abgrunds führt, der es aber in seiner Selbstvergessenheit gar nicht merkt, wie sehr die Blicke um ihn herum zu Geschossen werden.

«Ruhe sanft» gilt nicht für den Protagonisten, nur für jedes einzelne der Kinder, die dort begraben liegen.

Ein zorniges Buch, eine Innenansicht eines Verschlossenen.

Thomas Sandoz lebt im Kanton Neuenburg und hat Prosa, Essays und Monographien veröffentlicht und dafür diverse Auszeichnungen erhalten. Insbesondere 2011 den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung für «Même en terre» (Grasset). Die zuletzt erschienenen Titel sind «Les temps ébréchés» (Grasset, 2013), «Malenfance» (Grasset, 2014), «Croix de bois, croix de fer» (Grasset, 2016), «La balade des perdus» (Grasset, 2018).

Yves Raeber ist Schauspieler, Regisseur und Übersetzer von Theaterstücken und Prosa. 2017 hat ihm die Fachstelle Kultur des Kantons Zürich für seine Arbeit an «Ruhe sanft» einen Werkbeitrag für Literarisches Übersetzen zugesprochen.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

24. Internationales Literaturfestival Leukerbad, Rückblick 1/3

Eine grosse Qualität der langen Festivaltradition in den Walliser Alpen ist die Vielfalt der Gäste, die nicht nach deren Publizität eingeladen werden, sondern ob sie etwas zu sagen haben, sei es literarisch, gesellschaftlich oder kulturell. So kreisen Gespräche in verschiedenen Formaten weit über Literatur, Kultur hinaus, um existenzielle Fragen, nicht zuletzt darum, ob und wie die Welt zu retten ist.

Immer und immer wieder dreht sich Literatur um Erinnerungen. Literatur ist die Kunst des Erinnerns, sei es im Zusammenhang mit Historie oder um das, was man in sich trägt, eingegraben bis in die Gene. Historisches Erinnern, das sich unweigerlich und gleichermassen mit Deutung und Wertung verbindet, ist wie persönliche, individuelle Erinnerung Motor des Tuns und Denkens. Literatur, selbst wenn sie sich oberflächlich betrachtet mit Gegenwart oder Zukunft beschäftigt, ist immer transformierte Erinnerung. Und wenn sich Aleida und Jan Assmann, gemeinsam Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, in Leukerbad mit ihrem Schreiben vorstellen, dann gleich mehrfach und ineinander verwoben. Über ihre Forschungen zum Thema „Kollektives Gedächtnis“ wird in verschiedenen Gesprächsformationen diskutiert und schnell klar, dass sich Literatur nicht nur mit Erinnerung befasst, sondern mit ihrem Niederschlag ganz deutlich zu „kollektiven Erinnerung“ beiträgt, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Eine kollektive Erinnerung, die in eine ganze Generation wirkt.

Der Umbruch unserer Zeit manifestiert sich nicht nur in der Walliser Vegetation, den Bäumen, die nach einem trockenen Jahrhundertsommer und permanenter Klimaerwärmung von Hitzstress und Trockentod bedroht werden, nicht nur in der Umkehrung einer digitalen Gesellschaft, die nach der Freude über globale Internetvernetzung immer mehr zur Desinformationsgesellschaft wird, sondern in Unwahrheit und Lüge, die das kollektive Bewusstsein bedroht. Man misstraut scheinbaren Wahrheiten mit Recht, stellt kollektive Erinnerung in Frage, die an nationale Interessen gebunden ist.
Der Umbruch zeigt sich auch in der Literatur, der im Hitzestress der Gegenwart ihre Selbstverständlichkeit und Selbstsicherheit genommen ist, nicht zuletzt wegen der schwindenden Zahl von Leserinnen und Lesern, solchen die bereit sind, sich nicht bloss unterhalten zu lassen, sondern sich mit Literatur den Fragen der Zeit zu stellen.

Zoltán Danyi, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Für Zoltán Danyi, 1972 als Angehöriger der ungarischen Minderheit in Senta, damals Jugoslawien, geboren, wo er auch heute noch lebt und schreibt, ist das Erinnern an den Zerfall Jugoslawiens ein Trauma, ein kollektives Trauma einer ganzen Generation. Was in seiner Heimat geschah, verstörte ihn, weil er sich permanent mit der Frage konfrontiert sah, für welche Seite er sich in diesem jahrelangen Konflikt zu entscheiden hatte. Als Schriftsteller schaffte er sich die Situation eines Aussenstehenden, der beobachtet und beschreibt, eine Position, die ihm als Mensch ganz offensichtlich nicht wirklich gelingen wollte.
Zoltán Danyi las in Leukerbad aus seinem bei Suhrkamp erschienenen ersten Roman „Der Kadaverräumer“. Der Erzähler wird in der Vojvodina in die serbische Armee eingezogen und Augenzeuge kriegerischer Gräuel, wird nach dem Krieg „Kadaverräumer“, der tote Tiere von den Strassenrändern zu sammeln hat, wird Schmuggler, Flüchtling, unglücklich Liebender, Leidender an seinem Körper. Ein Mann, der nicht verdauen kann. „Der Kadaverräumer“ ist aber nicht einfach nacherzählte Erinnerung, sondern in langen mäandernden Sätzen ein in sieben Klagelieder gefasster Gedankenstrom. Er erschliesst sich mir als Leser nicht so einfach, da die Schichten des Fliessens vielfach sind, starke Bildern und Sätze zeigen, was der Wahnsinn eines Krieges und dessen Folgen in einem Menschen für Katastrophen anrichten können, auch dann, wenn die offensichtliche Aggression längst Erinnerung ist.

Johanna Lier, Foto © Literaturfestival Leukerbad

Dass es aber nicht zwingend die Internationalität sein muss, der grosse Verlag, die Verbindung mit einem Krieg, der sich zu einem kontinentalen Trauma auswächst, beweist die Ostschweizerin Johanna Lier, die ihr künstlerisches Schaffen zuerst als Schauspielerin begann (Bekannt wurde sie in der Rolle der Tochter Belli in Fredi Murers Film Höhenfeuer.) In ihrem beim umtriebigen Kleinverlag „die brotsuppe“ erschienenen Roman „Wie die Milch aus dem Schaf kommt“ macht sich die Erzählerin und Protagonistin Selma auf die Suche nach ihrer Herkunft. Nach dem Tod ihrer Grossmutter findet Selma unerwartet in einer Tupperware-Box Papiere und Hinterlassenschaften, die klar machen, dass nichts so ist, wie es schien. Selma macht sich auf eine lange Reise, sowohl zeitlich wie geographisch, weit zurück ins 19. Jahrhundert, tief hinein in die bäuerliche Welt des thurgauischen Donzhausen, weit weg bis in die Ukraine und nach Israel.
Familiengeschichte ist ein dauerndes Verschwinden in Tabus oder blosses Vergessen. Johanna Lier erzählt von starken Frauen, von Geschichten und Geschichte, davon, was mit Lücken in der Erinnerung geschieht, wie Abgründe in der Vergangenheit, ob ausgesprochen oder nicht, bis in die Gegenwart wirken. „Wie die Milch aus dem Schaf kommt“ ist ein schwergewichtiges Stück Literatur in starken Sätzen, raumfüllend und mit grossem Gestus erzählt.

Webseite von Johanna Lier

Beitragsbild Aleš Šteger und Akkordeonist Jure Tori © Literaturfestival Leukerbad