53. Rauriser Literaturtage April 2024 – ein Bücherfest der Extraklasse!

Das Rauristal, eine Bahnstunde südlich von Salzburg, ist zwischen Ski- und Wandersaison ein stilles Tal. Und manch eine Lokalität ist für immer verrammelt, es wächst Gras aus den Parkplätzen, weil man einst von Grossem träumte. Das Rauristal ist ein geschlossenes Tal, ein Tal ohne Durchgangsverkehr, ein Sackgasstal. Aber ganz bestimmt nicht in jener Vorfrühlingswoche, in der jeweils die Rauriser Literaturtage stattfinden, in denen Winde aus nah und fern durchs Tal wehen, in denen sich das Tal auftut, der Horizont selbst dann aufbricht, wenn man sich in geschlossenen Räumen aufhält.

Als die Rauriser Literaturtage vor 53 Jahren gegründet wurden, waren Festivals wie dieses alles andere als selbstverständlich. Aber das Publikum schien begierig darauf gewartet zu haben. Und weil bei seiner ersten Durchführung 1971 schon Thomas Bernhard Gast an den Rauriser Literaturtagen war, im Jahr zuvor als Georg-Büchner-Preisträger gekürt, begann ein Festival zu strahlen, das bis heute nichts von seinem Glanz eingebüst hat, ganz im Gegenteil. Rauris ist mit seinen Literaturtagen gewachsen und das Festival im Rauristal.

Seit ein paar Jahren geben sich die Literaturtage ein Thema, heuer „Geschichten vom Zusammenleben“. Ein Thema, das sich angesichts der Probleme und Miseren, die sich uns stellen, mehr als aufdrängt. Ein Thema, das von der Literatur vielfach intensiv beackert wird. Ein Thema, mit dem die Literatur in Tiefen zu leuchten vermag, die sich den Überdrüssigen verschliessen. Texte stellen sich einem Publikum und stellen das Publikum. Sie beantworten keine Fragen, offenbaren keine Lösungen. Aber Literatur stellt präzise Fragen, deckt auf, entschlüsselt, sucht Form, wo sonst pure Sprachlosigkeit grassiert.

Matthias Gruber ist ein Roman gelungen, der, wohl der Grund seines Erzählens, auf einer großen Empathie seinen Figuren gegenüber aufbaut und an bedeutende Genres der Literatur anschliesst: das Märchen, die Fabel, die Legende. Er bringt diese Urformen des Erzählens so geschickt, leichthändig und verwandelt ins literarische Spiel mit sozialen Medien, gesellschaftlichen Problemen und Herausforderungen der heutigen Zeit ein, dass man über den ästhetischen Gewinn der Lektüre nur staunen kann. Dieses Buch wirft einen neuen Blick auf das Leben und was es sein kann.“ Jurybegründung zum Rauriser Literaturpreis 2024 für Matthias Grubers Debüt „Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art“.

Mobilmachung“ von Margit Schreiner: Ein Fötus und Säugling, der zu verstehen sucht und sich mit jeder Frage Stück für Stück emanzipiert, auch wenn dieser weiss, dass die Erwachsenen damit nicht allzu sehr überfordert werden dürfen. Nichts ist heilig, schon gar nicht die Religion, nicht einmal die Muttermilch. Man liest „Mobilmachung“ mit einer seltsamen Mischung aus Belustigung und Betroffenheit, witziger Unterhaltung und demaskierender Verwunderung. Eine „Nestbeschmutzung“ der besonderen Art, eine „Publikumsbeschimpfung“ in bester österreichischer Tradition.

Amir Gudarzi auf der Heimalm in Zusammenarbeit mit dem Literaturforum Leselampe, Moderation: Magdalena Stieb

In seinem Debüt „Das Ende ist nah“ beschreibt Amir Gudarzi die Geschichte von A., mit Sicherheit seine Geschichte, aber damit viel mehr. Nämlich die Geschichte aller Geflohener, Heimatloser, Entwurzelter, Vertriebener und Verlorener. Die Geschichten jener, denen man überall begegnet; auf Bahnhöfen, in Parks, auf Plätzen mitten in der Stadt, irgendwo abgeschoben auf dem Land, am Strassenrand, auf einer Bank, ins Warten und Nichtstun verbannt, der Willkür von Bürokratie und Fremdenhass ausgesetzt. Ob in Österreich, in der Schweiz oder in Deutschland, wir lieben die Geschichten jener, die es geschafft haben. Das Vielfache jener, die es nicht schafften, versenken wir erfolgreich im grossen Vergessen.

Gianna Molinari im Gespräch mit StudentInnen der Universität Klagenfurt

Gianna Molinaris Roman „Hinter der Hecke die Welt“ erzählt nur rudimentär eine Geschichte. An einem Plott ist die Autorin nicht interessiert. Gianna Molinari schreibt wie die Arktisforscherin Proben aus den Sedimenten zieht. Sie liest aus den Veränderungen der Zeit. „Hinter der Hecke die Welt“ ist ein zweihundertseitenlanger Versuch, die Schichten der Veränderungen zu lesen. Das Vergnügen der Interpretation liegt ganz bei den LeserInnen. Ein faszinierender Leseprozess, ein Lesevergnügen der besonderen Art, wie schon in ihrem Debüt. Und doch ist der Roman weit mehr als ein sprachliches Fabulieren. Gianna Molinari zeichnet Skizzen, nicht nur sprachlich, zwischendurch gar bildhaft. Aber ihre Zeichnungen illustrieren nicht, genauso wie ihr Erzählen. „Hinter der Hecke die Welt“ ist ein schillerndes Porträt des Gegenwärtigen. Eine romanlange Aufforderung nachzudenken, ein literarisches Forschen in den Sedimenten des Lebens.

Sabine Gruber beschreibt in «Die Dauer der Liebe» eine Frau, die in den Ungewissheiten und dem Wegbrechen aller Sicherheiten den Halt im Leben zu verlieren droht, die mit Verzweiflung nach Gewissheiten sucht, irgendwann sogar in ein Auto steigt, um nach dem nachzuforschen, was sich in ihrem Geist zu Ungeheuerlichkeiten auftürmt. Sie schreibt von einer Frau, die ihr Leben neu kartographieren muss. Ein feinfühliger Roman, der nie in Sentimentalität wegbricht. Ein leidenschaftlicher Roman über die Macht der Liebe, die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und den drohenden Verlust aller Gewissheiten.

Jan Wagner zusammen mit StudentInnen der Universität Wien

Jan Wagner las aus seinem Gedichtband „Steine & Erden“ über das Kleine, das Unscheinbare, auch das Abseitige, Fallen-Gelassene, Periphere. Jan Wagner greift auf, verfremdet und erzählt dadurch Grosses über Welt und Gesellschaft, über Politisches und Kulturelles, nicht zuletzt über Wahrheit und Schönheit. Aber so schön sie oft sind, seine Klangwunder und Sprachspiele – sie sind nicht stromlinienförmig, idyllisch oder gefällig. Unter der glatten Oberfäche blitzt immer auch etwas Verstörendes, Bissiges, Finsteres auf. Und: sein virtuoses Spiel mit der Sprache hat immer auch einen Gegenpart, nämlich die strenge Form.

Robert Prosser zusammen mit Lan Sticker bei einer Rauriser Hauslesung

Robert Prossers „Verschwinden in Lawinen“ ist viel mehr als ein Lawinenroman. Das deutet schon der Infinitiv im Titel an. Lawinen sind vielfältig. Es gibt jene aus Schnee und Steinmassen, aus Schlamm und Geschiebe. Aber es gibt auch jene, die Leben unsichtbar verschütten, die Menschen niederdrücken, Menschen nicht entfliehen lassen. Robert Prossers Sprache ist stark, ihr Klang so archaisch wie das Licht, die Konturen der Berge, die Kälte; und so direkt, wie die Schilderungen einer Schlachtung im Dorf, als der Protagonist bereits weiss, dass irgendwo da oben ein noch nicht erwachsener Bursche einen langen Kampf ums Überleben auszustehen hat. Robert Prossers Schreiben folgt nicht dem Countdown um Leben und Tod, sondern den Verletzungen der vielfach Verschütteten, dem Verschwinden in Lawinen. Beeindruckend und nachhal(l)tig!

Milena Michiko Flašar im Gespräch mit Festival-Co-Leiter Manfred Mittermayer
Milena Michiko Flašar im Gespräch mit Festival-Co-Leiter Manfred Mittermayer

Milena Michiko Flašar reisst in „Oben Erde, unten Himmel“ eine Tür auf, eine Tür, hinter der es stinkt, hinter der sich Fliegen und anderes Krabbelgetier über jene Säfte hermachen, die übrigbleiben, wenn Tote liegenbleiben. Die Autorin zelebriert aber weder den Schrecken noch die Abscheu. „Oben Erde, unten Himmel“ erzählt von jenem Dazwischen, vor dem wir allzu gerne die Augen verschliessen. Die Autorin beschreibt mit grosser Nähe und aller verfügbaren Liebe für menschliche Eigenheiten, derart liebevoll, dass man das Buch nach der Lektüre nur ungern zur Seite legt. Gleichzeitig konfrontiert sie nicht nur ihr Personal, sondern auch mich als Leser mit Fragen rund ums Sterben. Warum es in einer Welt, in der man von Dichtestresse spricht, immer mehr Menschen gibt, die sich in ihrer Einsamkeit verlieren und keinen Weg mehr herausfinden.

Das sind nur einige wenige Höhepunkte. Ich danke den OrganisatorInnen, dem grossen Team für ein äusserst gelungenes Festival!

Beitragsbilder © David Sailer IMAGES

Amir Gudarzi «Das Ende ist nah», dtv

Im Sommer 2009 gingen im Iran Millionen wütender DemonstrantInnen auf die Strassen. Dutzende Menschen kamen um, die Bilder in den Sozialen Netzwerken erschütterten die ganze Welt. «Die grüne Welle» nannte sich jenes laute Aufbegehren, dass das iranische Mullahregime ins Wanken brachte. Das Debüt «Das Ende ist nah» von Amir Gudarzi ist eine literarische Auseinandersetzung.

Als im Nachgang zu den iranischen Präsidentsschaftswahlen, bei der der amtierende Mahmud Ahmadineschād zum Sieger erklärt wurde, eine Welle des Aufruhrs durch das Land schwappte und man sich durch grüne Stirn- oder Armbänder als GegenerIn einer Diktatur solidarisierte, war Amir Gudarzi ein junger Student. Diese grüne Bewegung gipfelte in riesigen Demonstrationen, gegen die die bedrohte Zentralmacht nur mit äusserster Härte und Brutaltät zu reagieren wusste. Unzählige Menschen verschwanden für Jahre in den überfüllten Gefängnissen des Landes, viele starben, wurden während der Proteste getötet oder in Schauprozessen zum Tode verurteilt. An Kränen baumelnde Hingerichtete sollten zur abschreckenden Normalität werden.

In seinem Debüt „Das Ende ist nah“ beschreibt Amir Gudarzi die Geschichte von A. Dass er seinen eigenen Namen, seine eigene Fluchtgeschichte durch einen einzigen Buchstaben mit Punkt verallgemeinert, ist verständlich und erleichterte wahrscheinlich schon den Schreibprozess. Amir Gudarzi wollte mit Sicherheit seine Geschichte erzählen. Aber damit viel mehr. Nämlich die Geschichte aller Geflohener, Heimatloser, Entwurzelter, Verlorener. Die Geschichter jener, denen ich überall begegne, auf Bahnhöfen, in Parks, auf Plätzen mitten in der Stadt, irgendwo abgeschoben auf dem Land, am Strassenrand, auf einer Bank, ins Warten und Nichtstun verbannt, der Willkür von Bürokratie und Fremdenhass ausgesetzt.

Amir Gudarzi «Das Ende ist nah», dtv, 2023, 416 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-423-29034-0

Klar braucht es diese Bücher, auch wenn sie nicht von jenen gelesen werden, die den Geflohenen wie einer ansteckenden Krankheit begegnen, mit Angst, Ekel und maximaler Ablehnung. Es braucht diese Bücher als Zeugnis, auch wenn Menschen wie Amir Gudarzi die Ausnahme bleiben, weil sie es irgendwann irgendwie doch schaffen, Amir Gudarzi als Theaterautor und nun auch als Schriftsteller. Weil Menschen wie er, die nach all den Strapazen der Flucht, der Anfeindungen, des Misstrauens, der Willkür und des Unverständnisses, schaffen, einen Schuh Glück herauszuziehen. Neben all jenen, die schon auf der Flucht liegenbleiben, die in ihrer Verzweiflung untergehen, die nie die Chance haben, aus dem einst mit Hoffnung begonnenen Leben das zu machen, was möglich gewesen wäre, die weitergeschoben, zurückgeschafft, gnadenlos ausgenützt oder in all den Ungerechtigkeiten zerrieben werden.

Ich las das Buch nicht seiner Sprache wegen, auch wenn ich dem Autor viel Können zugestehe. Ich las das Buch, um mir vor Augen zu führen, was sonst nur im Verborgenen bleibt. A. flieht über die Türkei nach Österreich, wo er hängen bleibt, in ein keines Kaff abgeschoben wird, zusammen mit Afganen und Kurden, lauter Männern, die sich in ihrem Kampf ums Überleben, in ihren gestauten Emotionen und der Hoffnungslosigkeit einer Existenz, die sich ganz aufs Warten reduziert und kaum von dem unterscheidet, was sie in ihren Ursprungsländern zurückgelassen hatten. Amir aus einem Elternhaus mit streng patriarchalischen Strukturen, eine Gesellschaft in Traditionen und zementierten Wertvorstellungen gefangen, einer Politik, die einem den Atem nimmt, einer gestohlenen Zukunft. Was ihn in Österreich empfängt, ist endlose Bürokratie, offener Fremdenhass, maximale Abgrenzung und grenzenloses Misstrauen. 

„Das Ende ist nah“ ist als Titel vieldeutig. Amir Gudarzi erzählt vielperspektivisch, nicht zuletzt aus der Warte von Sarah, einer jungen Frau, die sich in A. verliebt, eigentlich nur helfen will, sich aber verliert. Eine Beziehung, die von rauschhafter Leidenschaft bis selbstzerstörerischer Verirrung alles in sich birgt. Amir Gudarzi schont mich als Leser mit nichts. Es legt sich ein Schauer aus Betroffenheit und Peinlichkeit über mich. Ob in Österreich, in der Schweiz oder in Deutschland, wir lieben die Geschichten jener, die es geschafft haben. Das Vielfache jener, die es nicht schafften, versenken wir erfolgreich im grossen Vergessen. Wie viel schwerer muss es für Amir Gudarzi selber sein, auch wenn man ihm an Lesungen freundlich applaudiert.

„Das Ende ist nah“ ist Zeugnis, Klage und Anklage gleichermassen.

Amir Gudarzi, 1986 in Teheran geboren, ging auf die damals einzige Theaterschule im Iran und studierte danach szenisches Schreiben. Seit 2009 lebt er im Exil in Wien, wo er als vielfach ausgezeichneter (inzwischen) österreichischer Dramatiker und Autor arbeitet. 2021 war er Stipendiat im Literarischen Colloquium in Berlin und erhielt den Förderungspreis für Literatur der Stadt Wien, 2022 wurden ihm der Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker*innen und der Christian-Dietrich-Grabbe-Preis verliehen, in der Spielzeit 2023/24 ist er Hausautor am Nationaltheater Mannheim. «Das Ende ist nah» ist sein erster Roman.

Beitragsbild © Jürgen Pletterbauer

Matthias Gruber «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art», Jung und Jung

Was wünscht sich ein Mädchen, eine junge Frau mit 14? Die Zugehörigkeit in einer Peergroup, Anerkennung, die Sehnsucht nach der grossen Liebe, Träume, Freundschaften. Matthias Gruber hat sich in seinem preisgekrönten Debüt „Die Einsamkeit der ersten Art“ ein Leben ausgesucht, dass von vielem ausgeschlossen ist.

Eigentlich ist sie doch mit ihrem Namen schon gestraft; Arielle. Arielle leidet unter einem Gendefekt. Was heisst; Arielle hat als Mädchen fast keine Haare auf dem Kopf, fast keine Zähne im Mund und kann nicht schwitzen. Nicht nur die heissen Sommer sind ihr ein Graus, jede körperliche Anstrengung, das Leben überhaupt. Ektodermale Dysplasien heisst diese Krankheit, oder noch nichtssagender XLHED. Matthias Gruber nennt den Namen dieser Krankheit in seinem Buch nie. „Die Einsamkeit der ersten Art“ ist auch kein Buch über diese Krankheit. Und doch trägt das Mädchen den Makel mit sich. Ein Makel, der nicht abgelegt werden kann in einer Welt, die sich vor allem an Äusserlichkeiten orientiert. „Die Einsamkeit der ersten Art“ ist auch kein trauriges Buch, sondern mit erstaunlich viel Witz und Humor erzählt. Ein Buch, das mit diesem Makel kein Kapital schlagen will, schon gar kein emotionales.

Arielle geht zur Schule. Während sich ihre Klassenkolleginnen über Social Media ganz über ihre Äusserlichkeiten definieren und die Jungs weit entfernt, wie auf einem unerreichbaren Planeten ihr Ding abziehen, wächst Arielle in einem Zuhause auf, das wenig Zeit hat für die Nöte der Tochter. Der Vater verdient sein Geld mit Entsorgungen und Räumungen und sucht in entsorgten Computern auf Festplatten nach Kryptowährung. Aber weil er, vom Amt zu Räumungen geschickt, mit dem Sammelgut auf illegalen Wegen Bares kassiert, fällt er in Ungnade und ist mehr und mehr auf das Geschick seiner psychisch labilen Ehefrau angewiesen. Aber auch sie ist von sich selbst gefangen, hofft mit Kosmetikartikeln das grosse Geld zu verdienen, über Social-Media-Kanäle zur Influencerin zu avancieren, in der Hirarchie eines Schneeballsystems die grosse Bühne zu besteigen.

Matthias Gruber «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art», Jung und Jung, 2023, 304 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-99027-280-0

Arielles Vater werkelt in seiner Kammer und sucht nach einem Schatz, Arielles Mutter schichtet in ihrem Keller, in ihrer Online-Boutique – und Arielle versucht mit dem Leben mehr oder weniger alleine zurechtzukommen. Am meisten weggetragen fühlt sie sich, wenn sie mit ihrem Vater im Lieferwagen auf Tour ist, oder wenn sie auf der Müllsammelstelle, wo alles landet, was als Spur hinter den Menschen hergezogen wird, im Studio von Aljosha, in einem Container beim Schrottplatz eine Atempause findet, wenn sie sich in die Welt am Rand mischt.

Und doch möchte ausgerechnet sie helfen. Ihrem Vater, ihrer Mutter, ihrer Freundin Yasmine und Aljosha, der von einem Leben in Berlin träumt, von einer Kunstschule, weit weg vom Schmuddeldasein und den Blicken all jener, die ihn in seinem Andersein höchstens tolerieren. Aljosha ist schwul.

Die Situation spitzt sich zu, als Arielle sich ein gebrauchtes Handy unter den Nagel reisst und mit den Fotos eines unbekannten Mädchens nicht nur der Mutter unter die Arme greifen will, sondern damit auch einen Feldzug gegen Jungs führen, bei denen sie als sich selbst nur Unverständnis ernten würde. „Die Einsamkeit der ersten Art“ ist eine bunte Geschichte, von den Rändern her erzählt, ein Stück Menschengeschichte, als wäre diese an ein Ende gestossen, als würde sich das Menschsein in lauter Sinnlosigkeiten bis hin zu Müllhalden und Schrottcontainern ausleeren. 

Wenn Matthias Gruber von den Anstrengungen der Mutter erzählt, im Kosmetikbuisiness Fuss zu fassen, dann sträuben sich die Nackenhaare. Wenn die Krone der Schöpfung nur noch hinter Äusserlichkeiten herhechelt und man den wahren Kern von Leben und Sterben aus dem Blick verloren hat, dann ist „Die Einsamkeit der ersten Art“ nicht tröstlich, aber äussert unterhaltsam, mutig erzählt, frisch von der Leber. Matthias Gruber ist eine unverkrampfte, junge Stimme von der ich mir viel verspreche.

Interview

Zuerst möchte ich Ihnen zum Rauriser Literaturpreis gratulieren! Wer einen Blick auf die Liste aller ehemaligen PreisträgerInnen wirft, ist beeindruckt. Das sind keine Eintagsfliegen. Viele der Namen sind heute Eckpfeiler der deutschsprachigen Literatur. Setzt Sie das nicht etwas unter Druck oder kann man den Preis einfach als Anerkennung für die Qualität eines ersten Romans geniessen?
Zusätzlichen Druck verspüre ich zum Glück noch nicht. In erster Linie freue ich mich einfach, dass der Roman durch den Preis noch etwas zusätzliche Aufmerksamkeit bekommt. Es erscheinen so viele großartige Bücher und das in einer solchen Geschwindigkeit, dass ein einzelner Roman nicht viel Zeit hat, um seine Leser*innen zu finden. Vielleicht kann der Preis diese Zeitspanne ein wenig verlängern.

Obwohl die Pupertät eine Zeit des Suchens und Ausprobierens ist, ist es bei vielen Jugendlichen genau die Zeit, in der man auf keinen Fall aus der Reihe tanzen will, in der man zu erstaunlich viel „Uniformierung“ bereit ist, sich einer Peergruppe anschliesst und alles peinlich findet, was keiner Norm entspricht. Gewisse Menschen scheinen aber gar nie darüber hinauszukommen! Arielle (Was für ein Name!) hat keine Chance, einem Bild zu entsprechen, genetisch bedingt. Während andere, scheinbar ebenso genetisch bedingt, unumstösslich in dieser Norm gefangen sind. Ist Schreiben ein Ausbruchsversuch?
Ich denke, wir alle tragen diese verbesserten Versionen von uns in der Hosentasche herum. Auf unseren Social Media-Profilen spielen wir uns selbst und möchten dabei klüger, schöner und witziger erscheinen, als wir uns im echten Leben fühlen. Mich hat interessiert, wie es einem Menschen geht, dem das nicht möglich ist, weil sein Äußeres nicht einfach durch einen Filter oder eine bestimmte Pose verändert werden kann.

Durch Zufall kann Arielle einen eigentlichen Avatar generieren, mittels eines Telefons, das sie sich bei den Touren mit ihrem Vater unter den Nagel reisst. Ein „Spiel“, in dem die Realität mit einem Mal zurückschlägt. Ist das nicht ein bisschen viel Moralität angesichts dessen, was mittels Social Media alles erreicht werden kann? Frage ich meine SchülerInnen in ähnlichem Alter wie Arielle, so ist „InfluencerIn“ ein vielgenanntes Ziel.
Es ging mir beim Schreiben nicht um ein Verteufeln sozialer Netzwerke. Die Arbeit am Buch war eher ein Versuch, auszuloten, wie umfassend diese Plattformen mittlerweile unser Leben beeinflussen: Unser Selbstbild, unsere Beziehungen, die Art und Weise, wie wir unsere Freizeit gestalten und die Welt betrachten. Das betrifft längst nicht nur Jugendliche, sondern alle. 

In einem Interview erzählen Sie, sie hätten zusammen mit ihrem Kind auf einem Spielplatz ein auffälliges Kind gesehen und danach recherchiert. So sei dieses Kind mit dem Gendefekt Ektodermalen Dysplasie in ein bereits angefangenes Manuskript gekommen. Gab es auch den direkten Kontakt mit Menschen mit dieser „Krankheit“? Ist es nicht abwertend, einen solchen Genunterschied als „Krankheit“ zu bezeichnen?
Über die Vermittlung einer Selbsthilfegruppe konnte ich Kontakt zu Menschen mit Ektodermaler Dysplasie aufnehmen und mit ihnen Interviews führen. Ich bin dafür sehr dankbar, denn ohne diese Einblicke hätte ich den Roman gar nicht schreiben können. Die Frage, ob die Bezeichnung Krankheit per se abwertend ist, kann ich nicht beantworten. Ich vermute aber, es kommt auf den Kontext an. Ein respektvoller Umgang mit Betroffenen sollte jedenfalls selbstverständlich sein. Leider ist das oftmals nicht der Fall, wie auch die Interviews für das Buch gezeigt haben. Nicht wenige Menschen mit Ektodermaler Dysplasie werden wegen ihres Aussehens ausgegrenzt, verspottet und stigmatisiert. Vieles, was ich in Interviews gehört habe, konnte ich kaum glauben. 

Bei einem Museumsbesuch trifft Arielle auf jenes Tier, dass als erstes seiner Art vom Wasser ans Land kam. Arielle, die nicht schwitzen kann und eigentlich ganz gerne im kühlen Wasser bleibt, fühlt die Einsamkeit, weil niemand wirklich nachvollziehen kann, was in ihr und mit ihr geschieht. Erst recht, weil wir in einer Gesellschaft der Äusserlichkeiten existieren und dauernd taxieren, schubladisieren und urteilen. Einsamkeit in einer Gesellschaft, die unter Dichtestress leidet?
Das ist ein wichtiger Punkt. Arielle selbst macht ihren Gendefekt selten zum Thema. Natürlich ist er für sie in mancherlei Hinsicht einschränkend, aber zum Problem wird er nur deshalb, weil ihre „Andersartigkeit“ immer und immer wieder von außen an sie herangetragen wird. Erst diese Schubladisierung isoliert sie und macht sie zur Außenseiterin. Die Szene im Naturkundehaus ist für mich auch deshalb eine Schlüsselszene, weil sich in Arielles Wahrnehmung etwas verschiebt. Wie der Ichthyostega wird auch sie plötzlich nicht durch ein scheinbares Defizit definiert. Sie ist die Erste ihrer Art. 

Arielles Mutter leidet an Ekzemen an der Hand und träumt vom grossen Geschäft mit Kosmetika. Ihr Vater entsorgt Hinterlassenschaften, räumt Wohnungen. Auch er träumt; vom lukrativen Kryptogeldfund in „herrenlosen“ Computern. Arielle, die das Spiel mitmacht, sucht aber eigentlich nach ganz anderem; nach Geborgenheit, Freundschaft, Liebe. Unser Tun hängt sich mehr und mehr an digitale Schein- und Nebenwelten. Ihr Roman moralisiert ganz dezent. Er drückt auch nicht auf die Mitleidsdrüsen. Wollen Sie einfach eine gute Geschichte erzählen oder schwingt nicht immer eine Absicht mit im Schreiben?
Ich wollte von Menschen erzählen, deren Welt in Trümmern liegt. Und von ihren oft vergeblichen Versuchen, damit umzugehen. Die Schicksale der Figuren stehen also klar an erster Stelle. Aber natürlich bewegen sich diese Menschen nicht im luftleeren Raum. Die Dinge, unter denen sie leiden, haben Ursachen. Insofern ist es natürlich ein Roman über gesellschaftliche Ungerechtigkeit und ein zutiefst politisches Buch. Vieles bleibt dabei allerdings in der Andeutung. Vieles läuft über Leerstellen, auch sprachlich. Ich finde, ein Roman braucht diesen Raum. Sonst hätte ich ein Sachbuch oder einen Essay geschrieben. 

Matthias Gruber, 1984 in Wien geboren, in Salzburg aufgewachsen, wo er heute mit seiner Familie lebt. Er hat Theaterwissenschaften studiert und als Rezeptionist, im Onlinemarketing und in einer Notschlafstelle gearbeitet. Er ist Mitgründer der Salzburger Stadt-Magazine fraeuleinflora.at und QWANT. »Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art« ist sein erster Roman, für den er mit dem Rauriser Literaturpreis 2024 ausgezeichnet wurde.

Beitragsbild © Eva Krallinger-Gruber

Sabine Gruber «Die Dauer der Liebe», C. H. Beck

Was geschieht, wenn mit einem Mal kein Stein mehr auf dem andern steht? Wenn der Tod Gewissheiten zerstört. Wenn eine Welt aus den Fugen gerät. Sabine Grubers neuer Roman «Die Dauer der Liebe» beschreibt seismographisch die Erschütterungen eines Bebens.

Es klopft an der Tür. Vor der Wohnung steht ein Polizist. „Darf ich reinkommen? Es ist etwas Schlimmes passiert.“ Renatas Lebenspartner Konrad ist tags zuvor auf einer Autobahnraststätte tot zusammengebrochen. Renatas Leben steht Kopf. Wer rechnet schon mit dem Tod. Selbst dann, wenn wir deutlich in der zweiten Lebenshälfte stehen, blenden wir das Wahrscheinliche geflissentlich aus. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Leben eines Paares gleichzeitig enden, ist verschwindend klein. Und trotzdem kümmern uns die möglichen Konsequenzen kaum. Selbst dann nicht, wenn wir es von Beispielen aus unserer Umgebung genau wissen sollten.

Renata ist Übersetzerin, Konrad war Architekt. Konrad war die Liebe ihres Lebens. Ein Vierteljahrhundert lang waren sie ein Paar, ein Paar, das sich mit den Gemeinsamkeiten gut eingerichtet hatte, auch wenn Renatas Beziehung zu Konrads Familie, seiner Mutter Henriette, seinem Bruder Marcel stets ein schwieriges war. Aber sie liebte Konrad, liebt ihn noch. Mit einem Mal ist nichts mehr, wie es einmal war, verschiebt sich das Gravitationsfeld ihres Lebens total, bricht ein, was stets Gewissheit und Fundament war.

«Das Misstrauen beschädigt die Erinnerungen.»

Sabine Gruber «Die Dauer der Liebe», C. H. Beck, 2023, 251 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-406-80696-4

Ans Heiraten hatten sie nie gedacht. Nichts hatte sie gedrängt, auch schon deshalb, weil der anfängliche Kinderwunsch keine Erfüllung fand – und weil man sich selbst genug war. Da gab es wohl ein Stück Papier, eine Art Testament, das er unterschrieben hatte. Aber in den Mühlen der Ämter schien dieses Stück Papier keine Gültigkeit zu haben. Was an anständiger Distanz und gebotener Höflichkeit während mehr als zwei Jahrzehnten das filligrane Gefüge der Familie Grasmann zu ihr im scheinbaren Gleichgewicht hielt, stürzt mit der Frage um Erbschaft und Nachlass in Gier und bodenlose Gemeinheiten ab. Während Renata sich mit dem Verlust ihres Liebsten taumelnd von einer Not in die nächste hangelt, stellt man sie vor vollendete Tatsachen, beraubt man sie ihrer Erinnerungen. Als sie Tage nach der Beerdigung Konrads, die in keiner Weise so stattgefunden hatte, wie es sich Konrad vorgestellt hatte, ins gemeinsame Ferienhaus eintritt, muss sie feststellen, dass Bilder, Möbel, Vasen fehlen, selbst Dinge, die nicht einmal sie selbst hätte zuordnen können.

Sabine Grubers Roman „Die Dauer der Liebe“ erzählt vom vielfachen Verlust. Da ist nicht nur der Tod, der Verlust eines Liebsten, das Wegbrechen aller Sicherheit, das Infragestellen aller Gewissheiten. Neben der lähmenden Gewissheit, dem Verlust der grossen Liebe, bricht auch die Sicherheit weg. Konrads Familie bedient sich hemmungslos seiner Hinterlassenschaften und tut, als wären die fünfundzwanzig Jahre mit Renata nicht mehr als eine Affäre. Renata versucht unter Aufbietung aller verfügbaren Kräfte im neuen Leben Tritt zu finden. Es helfen ihr Freundschaften und all jene Erinnerungen, die nicht an Dinge gebunden sind. Und trotzdem. Da sind die Findlinge dessen, was Renata nicht einordnen kann; die beiden Schlüssel mit einem grünen Anhänger, die Renata zuvor nie gesehen hatte oder ein verwaschenes Stück Papier aus einer Hose mit der Notiz Du fehlst mir so sehr. C. Gab es in Konrads Leben Winkel und Facetten, von denen Renata nichts wusste oder nichts wissen sollte? Gab es neben dem Leben davor auch noch ein Leben daneben? 

«Der Schmerz rauscht.»

Sabine Gruber beschreibt eine Frau, die in den Ungewissheiten und dem Wegbrechen aller Sicherheiten den Halt im Leben zu verlieren droht, die mit Verzweiflung nach Gewissheiten sucht, irgendwann sogar in ein Auto steigt, um nach dem nachzuforschen, was sich in ihrem Geist zu Ungeheuerlichkeiten auftürmt. Sie schreibt von einer Frau, die ihr Leben neu kartographieren muss. Ein feinfühliger Roman, der nie in Sentimentalität wegbricht. Ein leidenschaftlicher Roman über die Macht der Liebe, die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und den drohenden Verlust aller Gewissheiten.

Interview

Ich las Ihr Buch sehr gerne. Nicht zuletzt, weil es zum eigenen Sinnieren anregt, darüber, wie sehr wir uns in «Sicherheiten» wiegen, wie sehr wir uns der Wahrheit, dem Unausweichlichen verschliessen, wie schnell alles eine vollkommen andere, unplanbare Richtung einnehmen kann. Funktioniert der Mensch nicht eben darum, weil er ausblenden kann?

Vermutlich geht es nicht, ohne zu verdrängen oder auszublenden. Renata, die Hauptfigur, hatte schon zu Lebzeiten Konrads den Gedanken, dass jede Nacht, die sie mit ihrem Liebsten verbringt, eine weniger ist. Dennoch ist sie, ist das Paar, nicht konsequent genug; vielleicht sind die beiden auch zu gutgläubig, können sich nicht vorstellen, wozu Familien in der Lage sind. Beide versäumen es, ein gültiges Testament zu verfassen, sie drucken es nur aus und unterschreiben es. Nach dem Tod Konrads wird von seiner Familie keiner seiner niedergeschriebenen Wünsche erfüllt, seine Mutter Henriette und die beiden Geschwister bestimmen, was mit der Leiche zu passieren hat und verfügen über Konrads Privatgegenstände. Die 25 gemeinsam verbrachten Jahre zählen nicht.

Sie psychologisieren nichts und niemanden. Und doch beschreiben Sie den vielfachen Verlust Renatas ganz genau, ohne Theatralik, aber doch mit viel Empathie und Melancholie. Natürlich ist es die Fähigkeit einer guten Schriftstellerin, sich in ein konstruiertes Ich hineinzuversetzen. Und natürlich kann niemand schreiben, was nicht in ähnlicher Form erlebt ist. Und doch muss beim Formen der ProtagonistInnen jene Ausgewogenheit zwischen Nähe und Distanz gewonnen werden, die es möglich macht, Plastizität nachvollziehbar zu machen. Gibt es Regeln oder Grenzen, die Sie nie überschreiten würden?

Es gibt zahlreiche autobiographische Trauerbücher (z.B. von Connie Palmen, Joan Didion oder Olga Martynova) in denen Klarnamen verwendet werden. „Die Dauer der Liebe“ ist ein Roman, Figuren und Topographie sind daher erfunden. Ich habe – wie in früheren Romanen – Figuren aus anderen Büchern eingearbeitet, um die Fiktionalität zu unterstreichen. Ich leugne nicht, dass ich – übrigens nicht das erste Mal – einen mir sehr nahen Menschen unvorhergesehen verloren habe, dass ich diese existentielle Erfahrung gemacht habe, aber Schreiben ist für mich ein Transplantationsakt, die Einverleibung von Fremdem oder die Verfremdung von Eigenem. 

Ich sehe in der Fiktion mehr Möglichkeiten zur Ambiguität, mehr Freiräume, die das autobiographische Schreiben in dem Versuch, der Wirklichkeit gerecht zu werden und den Figuren beizukommen, verstellt. 

Ich habe einmal versucht, einen Text über Gabriel Grüner zu schreiben, mit dem ich zehn Jahre zusammen war, der einige Jahre nach unserer Trennung als Stern-Reporter im Kosovo erschossen wurde. Ich kriegte die Figur nicht zu fassen, hörte den toten Gabriel lachen, ihn sagen „Das soll ich sein?“.
Aus diesem Mann, der mit 35 das Leben verloren hatte, wurde 17 Jahre später in dem Roman „Daldossi oder Das Leben des Augenblicks“ eine gänzlich andere Figur, nämlich ein alternder, traumatisierter Kriegsphotograph, den die Bilder einholen. Im neuen Roman, „Die Dauer der Liebe“, wird Daldossi zum wichtigsten Begleiter Renatas.

Als mein Vater starb, sah ich ihn eine Weile überall, von hinten in der Strassenbahn, im Rückspiegel beim Autofahren. Es gibt keine Abstufungen des Erinnerns. Erinnerungen sind unwillkürlich. Wenn ich meinen Bruder treffe, begegne ich meinem Vater in den Händen meines Bruders, bei meiner Schwester in ihren Stirnfalten. Seit ein paar Wochen liegt auf meinem Stehpult ein altes Schulheft meines Vaters. Wohnungen sind voll mit Erinnerungen. Erinnerungen, die uns viel bedeuten. Aber sterbe ich, sterben die Erinnerungen. Täglich werden unsäglich viele Tonnen Erinnerungen entsorgt. Macht ihnen das nicht zuweilen Angst?

Einerseits werden täglich Tonnen Erinnerungen vernichtet, sie zerfallen wie Gesteine durch Verwitterung, werden abtransportiert, andererseits bleiben Sedimente davon erhalten: in der Literatur, in der Dichtung… Der Sand, die Gesteinspartikel oder zum Beispiel der Löss am Wagram, wo sich das Landhäuschen des Paares befindet, verweisen wieder auf das, was vorher war, auf die Berge, das Meer… Die Poesie ist doch am Ende tröstliche Verdichtung!

„Die Dauer der Liebe“ ist auch eine Fragestellung. Was geschieht mit der Liebe, wenn jemand stirbt? Wie bleibt sie? Soll sie bleiben? Kann man Gefangene werden? Was erwartet die Umgebung?

Eine grosse Liebe dauert natürlich an. Novalis spricht sogar von der Pflicht, an die Verstorbenen zu denken, weil es der einzige Weg ist, in Gemeinschaft mit ihnen zu bleiben. Renata hat ihren Konrad über alles geliebt, ihn zu erinnern, empfindet sie gewiss nicht als Pflichterfüllung. Das dem Roman vorangestellte Motto, ein Gedicht von Patrizia Cavalli, beschreibt Renatas Zustand am besten: Penso che forse a forza di pensarti/potrò dimenticarti, amore mio. (Wörtlich: Ich denke, dass ich vielleicht Kraft meiner Gedanken an dich,/ dich werde vergessen können, mein Liebling.) 

Ich diskutiere mit meinen erwachsenen Kindern immer wieder einmal über Sinn und Unsinn der Ehe. Ihr Roman verdeutlicht, dass Liebe, Partnerschaft, Zusammenleben keine Privatsache ist. Bis in die Institution Familie, und dazu zähle ich auch eine Partnerschaft, mischt sich der Staat, das Gesetz. Kein Wunder, muss doch selbst das Halten von Hunden reglementiert werden. Widerspricht nicht alles, was wir mit romantischen Gefühlen beschreiben, der Realität. Schliesst Staat und Gesetz die Romatik in einen Käfig, um sie vor der Gier des Menschen zu schützen?

«Es wäre besser gewesen, ihr hättet geheiratet», sagt Renatas Freundin Elsbeth, eine Anwältin, im Roman. «Er wollte mich immer heiraten, aber die Ehe ist doch unmöglich für eine Frau, die selbstständig ist», antwortet Renata. Es handelt sich hier um ein verkürztes Bachmann-Zitat. Renata gehört als Boomerin jener Post-68er-Frauengeneration an, für die das Private selbstverständlich politisch ist, die den Ehemann als klassischen männlichen Versorger ablehnt. Renatas Leben ändert sich auch nach dem Tod von Konrad nicht, weil sie eine selbstständige, emanzipierte Frau ist und daher keine ökonomischen Probleme zu befürchten hat. Dennoch fordert der Roman dazu auf, persönliche Angelegenheiten und Verfügungen rechtlich einwandfrei zu formulieren. Recht ist nicht immer gerecht. Viele verdrängen den Tod, andere sind naiv oder schlampig wie das Paar im Roman, das ja immerhin alles Wichtige aufgeschrieben hatte.

Ich habe sehr viele Zuschriften von Menschen erhalten, denen Ähnliches widerfahren ist wie Renata. Es sind auch Mails von Leserinnen und Lesern eingetroffen, die nach der Lektüre des Buches geheiratet haben oder zumindest ein Testament bei einer Notarin oder einem Anwalt hinterlegt haben. Da soll noch mal jemand sagen, Literatur bewirke nichts!

Sabine Gruber, geb. 1963 in Meran (Italien). Studium der Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaft in Innsbruck und Wien. Lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a.: 2007 Anton-Wildgans-Preis, 2015 Veza-Canetti-Preis, Österreichischer Kunstpreis für Literatur 2016, Preis der Stadt Wien für Literatur 2019.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © privat

Margit Schreiner «Mobilmachung. Über das Private III», Schöffling

Seit 1971 werden die Rauriser Literaturtage ausgerichtet – Thomas Bernhard war damals zu Gast, 1972 Peter Handke, 1973 Adolf Muschg, Uwe Johnson und viele andere; die Liste der prominenten Autorinnen und Autoren lässt sich bis in die Gegenwart fortsetzen – über 450 sind es inzwischen geworden. Heuer ist eine der Grossen Margit Schreiner.

„Mobilmachung“ ist nach „Vater. Mutter Kind. Kriegserklärungen“ (2021) und „Mütter, Väter. Männer“ (2022) der dritte Teil einer intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie, weit über das reine Nacherzählen hinaus. „Margit Schreiner schreibt unerschrocken gegen die Sentimentalität, den Selbstbetrug, die Lebenslüge“, schreibt Karl-Markus Gauß. Und weil die Autorin erst recht bei der eigenen Geschichte den Blick von Innen, der immer ein Blick von Aussen bleibt, braucht, spiegelt „Mobilmachung» die pränatalen und ersten Lebensjahre, jene Zeit, die sonst der Erinnerung verschlossen bleibt.

Meine eigenen Erinnerungen an meine Kindheit reichen nicht sehr weit zurück. Oft kann ich nicht unterscheiden zwischen echten Erinnerungen und jenen die sich aus Fotographien und Erzählungen generieren. Aber eine meiner ersten war mein kleiner Teddy, der vom Hund einer Tante verbissen wurde. Eine Erinnerung, die nicht einmal meine Mutter und schon gar nicht meine Tante zu bestätigen weiss.
Sie kennen Situationen, in denen Erwachsene um die Gunst von Kleinkindern buhlen, indem sie die verrücktesten Gesten produzieren und Laute, von denen Zeugen gar nicht wissen, das jene zu solchen fähig sind. Manchmal denke ich an die kleinen Kinder, was wohl in den Köpfen jener vor sich geht, wenn Buhlende sich im Gluteralen vergreifen.

Margit Schreiner «Mobilmachung. Über das Private III», Schöffling, 2023, 192 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978 3 89561 712 6

Margit Schreiner spinnt den Faden noch viel, viel weiter, bis ins wachsende Bewusstsein eines Fötus, der alles, was dieser wahrnimmt schon im Mutterbauch zu Gedanken formt. Keine Nabelschau, sondern ein Blick in den Uterus, in das Bewusstsein eines Heranwachsenden. Dieser hört und spürt, kombiniert und wertet mit den Gedanken einer Erwachsenen. Dabei spielt keine Rolle, wie weit ein solches Gedankenspiel realistisch ist. Margit Schreiner geht es um die Stimme selbst, die spiegelt. Eine Schwangerschaft im Nachkriegsösterreich, einer Gesellschaft mit klaren, patriarchalen Gesellschaftsstrukturen, einer Gesellschaft, von der man sich in der Moderne verabschiedet glaubt, die uns aber noch immer tief in den Knochen sitzt.

Ein Fötus und Säugling, der zu verstehen sucht und sich mit jeder Frage Stück für Stück emanzipiert, auch wenn dieser weiss, dass die Erwachsenen damit nicht allzu sehr überfordert werden dürfen. Nichts ist heilig, schon gar nicht die Religion, nicht einmal die Muttermilch. Man liest „Mobilmachung“ mit einer seltsamen Mischung aus Belustigung und Betroffenheit, witziger Unterhaltung und demaskierender Verwunderung. Eine „Nestbeschmutzung“ der besonderen Art, eine „Publikumsbeschimpfung“ in bester österreichischer Tradition.

Ich freue mich ausserordentlich auf die Literaturtage im Salzburgischen Rauris. Gäste sind die Spoken Word PerformerInnen Timo Brunke, Elif Duygu, Robert Prosser, die Kinderbuchautorinnen Renate Welsh, Verena Hochleitner, Luka Leben und Martina Wildner, die LyrikerInnen José F. A. Oliver, Anja Utler und Jan Wagner und die AutorInnen Milena Michiko Flašar, Laura Freudenthaler, Matthias Gruber, Sabine Gruber, Amir Gudarzi, Irene Langemann, Gianna Molinari, Tonio Schachinger, David Schalko und Margit Schreiner.

Margit Schreiner wurde 1953 in Linz geboren. Nach längeren Aufenthalten in Tokio, Paris, Berlin, Italien und dann wieder in Linz lebt sie derzeit in Gmünd, Niederösterreich. Sie erhielt für ihre Bücher zahlreiche Stipendien und Preise, u. a. den Oberösterreichischen Landeskulturpreis und den Österreichischen Würdigungspreis für Literatur. 2015 wurde sie mit dem Johann-Beer-Literaturpreis und dem Heinrich-Gleißner-Preis ausgezeichnet, 2016 erhielt sie den Anton-Wildgans-Preis. Mit «Kein Platz mehr» war sie 2018 für den Österreichischen Buchpreis nominiert.

Rauriser Literaturtage vom 3. bis 7. April 2024

Beitragsbild © Patricia Marchart

Rauriser Literaturpreis 2024 Matthias Gruber, Förderungspreis 2024 Luka Leben

Wenn zu Beginn des neuen Jahres Hoffnungen und Erwartungen auf Ungewissheit und Unsicherheit treffen, ist es ein gutes Gefühl, am Horizont einen Leuchtturm zu sehen. Die Rauriser Literaturtage unternehmen auch dieses Jahr wieder den mutigen Versuch, mithilfe der Literatur Orientierung im dichten Nebel unserer Zeit zu geben.

Mit ihren Geschichten vom Zusammenleben gelingt es den diesjährigen Autorinnen und Autoren durch die Möglichkeiten der Sprache eine Nähe zu schaffen, die in unserer Welt selten geworden ist. In einer Gesellschaft, die immer mehr auseinanderdriftet, wo soziale Medien eine Art des Zusammenlebens propagieren, die nicht nur physische, sondern auch emotionale Distanz zur Grundlage hat, vermag es die Literatur, unsere Empathiefähigkeit und Empfindsamkeit zu stärken. Die diesjährigen Texte laden ein, sich in fremde Personen hineinzufühlen, um ihr Denken und Handeln besser zu verstehen.

Den Rauriser Literaturpreis 2024 (vergeben vom Land Salzburg, dotiert mit € 10.000,-) erhält Matthias Gruber für seinen Roman «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art» (Jung und Jung Verlag, 2023).

Matthias Gruber «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art», Jung und Jung, 2023, 304 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-99027-280-0

Begründung der Jury (Julia Encke, Jürgen Thaler, Isabelle Vonlanthen):
„In Matthias Grubers «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art» tritt uns ein Erzähler mit lebendiger Wirksamkeit entgegen, der uns teilnehmen lässt am Heranwachsen von Arielle, einer jungen Frau, deren Äußeres nicht dem entspricht, was die Gesellschaft für sich als schön ausverhandelt hat. Der Autor führt uns durch ein trauriges wie fröhliches, ein witziges wie desaströses Leben, dessen Ende gleichzeitig überraschend und fantasievoll ist. Vom Rand der Gesellschaft her, von der Einsamkeit der Schrottplätze, der Pyramidenspiele und Entrümpelungsdienste, macht er uns in vielfach gelungenen Szenen und Episoden darauf aufmerksam, wie brüchig und rutschig unser Verständnis von Identität, wie zerbrechlich unser Begriff vom Menschsein überhaupt ist. Matthias Gruber ist ein Roman gelungen, der, wohl der Grund seines Erzählens, auf einer großen Empathie seinen Figuren gegenüber aufbaut und an bedeutende Genres der Literatur anschließt: das Märchen, die Fabel, die Legende. Er bringt diese Urformen des Erzählens so geschickt, leichthändig und verwandelt ins literarische Spiel mit sozialen Medien, gesellschaftlichen Problemen und Herausforderungen der heutigen Zeit ein, dass man über den ästhetischen Gewinn der Lektüre nur staunen kann. Dieses Buch wirft einen neuen Blick auf das Leben und was es sein kann.“

Matthias Gruber, geb. 1984 in Wien, aufgewachsen in Salzburg, wo er heute mit seiner Familie lebt. Studium der Theaterwissenschaften, arbeitete als Rezeptionist, im Onlinemarketing und in einer Notschlafstelle. Er ist Mitbegründer der Salzburger Stadt-Magazine fraeuleinflora.at und QWANT. 2020 Gewinner des FM4-Kurzgeschichtenwettbewerbs „Wortlaut“. 2018 erschien die Prosasammlung «Das Meer vor dem Fenster» (edition mosaik), 2023 das Romandebüt «Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art» im Verlag Jung und Jung.

© privat

Den Rauriser Förderungspreis 2024 (vergeben vom Land Salzburg und von der Marktgemeinde Rauris, dotiert mit € 5.000,-) zum Thema „Miteinander“ erhält Luka Leben für ihren Text Nachts nur das Rauschen.

Begründung der Jury (Helmut Neundlinger, Regina Pintar, Gudrun Seidenauer):
„Der Text «Nachts nur das Rauschen» thematisiert in zurückhaltender, doch deutlich sprachbewusster und manchmal zuspitzender Diktion das Leben mit einem Kleinkind, das von einer sprachlich-motorischen Einschränkung betroffen ist. Wir lesen ein sensibles und dennoch immer nüchternes und exaktes Protokoll des Alltags in einer herausfordernden Situation, die trotz väterlichen Einsatzes stärker auf den Schultern und auch der Psyche der weiblichen Protagonistin zu lasten scheint. […] Der Text erfasst mit großer Genauigkeit und sinnlicher Präzision gleichermaßen die inneren Bewegungen, die Gedanken und bisweilen emotionalen Verwerfungen der Protagonistin, die doch über jede Überforderung hinaus immerzu ‚funktioniert‘. Die Glaubwürdigkeit und Schonungslosigkeit der Erzählung beeindrucken und berühren besonders, da die Autorin eine dem komplexen und facettenreichen Thema angemessene und immer souveräne Tonlage wählt, die nie sentimental wirkt oder überhöht, auch da nicht, wo Extremsituationen, Sprachlosigkeit, Missverstehen und Einsamkeit spürbar werden. Dennoch gibt es auch Berührung, Verbundenheit und Momente der Hoffnung auf ein ‚Miteinander‘, das gewiss nicht leicht, aber doch stark und stabil zu sein scheint. Hier schreibt jemand, der die Sprache der Literatur außerordentlich gewandt in den Dienst eines überzeugenden Anliegens zu stellen versteht, ohne es auf eine plumpe ‚Botschaft‘ zu reduzieren.“

Luka Leben, geb. 1989 in Salzburg. Studium der Kunst und kommunikativen Praxis an der Universität für angewandte Kunst in Wien und der Bildnerischen Erziehung und Germanistik in Salzburg. Sie unterrichtet Deutsch, Literatur und Kreatives Schreiben an einem Salzburger Gymnasium. 2017 erschien ihre Textsammlung «Unter der Zunge» (edition mosaik) mit eigenen Illustrationen.  Auch für andere Bücher hat sie Zeichnungen geschaffen (u. a. Die Insel der verschwundenen Klänge von Wolfgang Wenger, Das Leben ist schön und andere Märchen von Elisabeth Escher).

Beitragsbild © Miriam Kreiseder

Gianna Molinari «Hinter der Hecke die Welt», Aufbau

Gianna Molinaris Romane sind Sondierungen in die Tiefe. Wie in ihrem Debüterfolg „Hier ist noch alles möglich“ wählt die Autorin nicht nur ganz spezielle Erzählorte, sondern setzt ihr Erzählen in eine Horizontale, weg vom gewohnten Blick in eine vertikale Weite. Gianna Molinaris Erzählen entzieht sich gängiger Erzählstrukturen und macht ihre Romane zu funkelnden Diamanten.

Dora, eine Meeresforscherin in der Arktis, sieht in den Veränderungen am Pol, seien es die klimatischen oder die durch diese hervorgerufenen wirtschaftlichen, eine sich verändernde Landschaft. Nichts am ewigen Eis ist mehr ewig. Alles wird endlich und durch diese Endlichkeit grossen Umwälzungen unterworfen. Die Eiskappen schmelzen. Was mit den menschlichen Eingriffen schon vor mehr als hundert Jahren seinen Anfang nahm, wird durch die Auswirkungen menschlichen Tuns und Unterlassens so sehr beschleunigt, dass nicht absehbar ist, was in den kommenden Jahrzehnten auf das Leben auf diesem Planeten zukommen wird. Dora sammelt als Wissenschaftlerin Sedimentproben vom arktischen Meeresboden, kartographiert und untersucht das, was noch ist und sich in Zukunft rasant verändern wird.

Dora hat Pina, ihre Tochter, im Dorf zurückgelassen, genauso wie Karsten ihren Mann, der einst wegen ihr in das kleine Dorf gezogen war. Zusammen mit der gleichaltrigen Lobo sind Pina und sie die einzigen Kinder, die im Dorf geblieben sind. Einem Dorf, das zu verschwinden droht. Einem Dorf, das in seinem Verschwinden vom Wuchern einer Hecke gleich neben dem Dorf begleitet wird. Einer Hecke, vor der man sich gleichermassen fürchtet wie Hoffnungen setzt. Solange sie wächst, bleibt die Hoffnung auf Veränderung. Dass das Verschwinden aufgehalten wird, dass mit den Veränderungen der Tourismus wirkt, Wachstum auch ins Dorf zurückkehrt – und vor allem, dass die beiden Mädchen wieder wachsen, denn trotz aller Anstrengungen bleibt das Wachstum der beiden aus, bleibt ihre Körpergrösse die immer gleiche.

„Das Eis ist ein Gedächtnis kurz vor dem Vergessen.“

Gianna Molinari «Hinter den Hecken die Welt», Aufbau, 2023, 208 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-351-04173-1

Das ganze Dorf wappnet sich gegen das Verschwinden. Genauso wie man die seltsame Hecke beobachtet, nicht weiss, ob sie Bedrohung oder Kapital sein kann. So wie in der Arktis wird unterucht und gemessen, festgehalten und prognostiziert. „Hinter der Hecke die Welt“, weil jedes Ende ein Anfang ist, weil die Spezies Mensch nicht verstehen kann, dass alles im Wandel ist, höchstens der Wandel ewig. Obwohl der Mensch alles auf diesem Planeten mit seinen langen Fingern für sich einnimmt, behandelt man den Organismus Erde wie eine immer gleiche blaue Kugel, obwohl es der Mensch ist, der die Veränderungen potenziert, das gleichförmige Wachsen und Verschwinden zu einem katastrophalen Prozess beschleunigt.

Gianna Molinaris Roman erzählt nur rudimentär eine Geschichte. An einem Plott ist sie nicht interessiert. Gianna Molinari schreibt wie die Arktisforscherin Proben aus den Sedimenten zieht. Sie liest aus den Veränderungen der Zeit. „Hinter der Hecke die Welt“ ist ein zweihundertseitenlanger Versuch, die Schichten der Veränderungen zu lesen. Das Vergnügen der Interpretation liegt ganz bei mir als Leser. Ein faszinierender Leseprozess, ein Lesevergnügen der besonderen Art, wie schon in ihrem Debüt.

Und doch ist der Roman weit mehr als ein sprachliches Fabulieren. Gianna Molinari zeichnet Skizzen, nicht nur sprachlich, zwischendurch gar bildhaft. Aber ihre Zeichnungen illustrieren nicht, genauso wie ihr Erzählen. „Hinter der Hecke die Welt“ ist ein schillerndes Porträt des Gegenwärtigen. Eine romanlange Aufforderung nachzudenken, ein literarisches Forschen in den Sedimenten des Lebens.

Und ganz nebenbei erfahre ich als Leser Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte. Wussten Sie, dass das Arktische Eichhörnchen seinen Organismus einfrieren kann? Kennen sie den Riesenalk oder den Grönlandhai, der 500 Jahre alt werden kann? „Hinter der Hecke die Welt“ – tatsächlich!

Interview

Ich las Dein Buch sehr gerne, auch wenn Du es mir nicht ganz leicht gemacht hast. Aber wahrscheinlich wolltest Du das auch gar nicht. Weil Du mich mit Deiner Schreibe zur Langsamkeit zwingst, einem Lesetempo, dass sonst nicht meinen Gewohnheiten entspricht. Ich wollte verstehen, witterte wahrscheinlich den einen oder anderen doppelten Boden, wo Du eigentlich nur fabulieren, abdriften, eintauchen wolltest. 
Man kann Deinen Roman mit vielen Brillen lesen: eine Mutter weg von ihrer Familie, eine Forschende, die das Eis mit ihren Fragen löchert, ein Dorf, dass sich gegen das Verschwinden stemmt, ein Dorf zwischen Angst und Expansionsfantasien, zwei Kinder, die nicht mehr wachsen … und eben diese geheimnisvolle Hecke. War ein Plan da?
Es ist während dem Schreibprozess immer wieder ein Plan da. Das Ärgerliche aber vielleicht auch das Schöne und Wichtige an diesen Plänen ist, dass ich sie auch immer wieder verwerfen muss. Vor allem, weil ich jeweils merke, dass ich nicht so schreibe, nicht nach Plan, dass das schlicht nicht ergiebig ist, dass ich mir den Stoff, die Motive, die Figuren, die Geschichten erschreibe, also nur im Schreiben Stück für Stück dem näher komme, was dann zum fertigen Text wird. Und ja, da stimme ich Dir zu und das freut mich auch sehr, deine Aufzählung von dem, was Du alles im Text liest, diese Vielbrilligkeit, im besten Sinne die Offenheit des Textes, die habe ich gesucht, damit die Leser*innen ihre eigenen Wege durch das Buch gehen können. Das zumindest erhoffe ich mir.

Die Hecke wächst, das Dorf stagniert. Die Hecke als Labyrinth, das Dorf als Ort, in dem man mit aller Energie an Wachstum glaubt. Vielleicht lese ich in der Hecke auch meinen eigenen Wunsch, die Natur möge sich zurücknehmen, was man ihr entrissen hat. Aber wahrscheinlich ist es genau das, was mich an Deinem Roman fasziniert; die Vielfalt an Deutungsmöglichkeiten. Ist Dein Roman auch ein Statement in erzähltechnischer Hinsicht? Gegen die Banalität?
Es ist, denke ich, nicht ein Anschreiben gegen die Banalität. Das Schreiben ist für mich vielmehr eine Möglichkeit oder der Versuch, die Welt, der ich als Schreibende begegne und mit der ich mich auseinandersetzen möchte, zu fassen und sie dabei nicht zu vereinfachen, sondern ihr Raum zu geben. Und ganz so trennbar oder gegensätzlich ist es ja nicht, die Welt ist ja banal und unfassbar komplex zugleich.

© Gianna Molinari

Ich lese viel und wundere mich, dass der Aufbau Verlag, den ich nicht wirklich zu den experimentierfreudigen zähle, auch Deinen Zweitling druckte. Erstaunlich oder doch nicht? War die Unterstützung im Verlag einhellig?
Das würde mich natürlich jetzt auch interessieren, was der Aufbau Verlag zu Deiner Sichtweise auf ihr Programm antworten würde. Aber nein, ich bin nicht Deiner Meinung, der Aufbau Verlag hat zum Beispiel mit Blumenbar ganz klar auch eine experimentierfreudige Seite und aus meiner Wahrnehmung war die Unterstützung für meinen Roman einhellig und gross und die Zusammenarbeit im Lektorat und mit allen Verlagsmitarbeitenden finde ich grossartig. 

Bei der Bildenden Kunst hält man das Nichtverstehenmüssen aus. Auch bei der Musik. Ausgerechnet bei erzählender Literatur aber ganz offensichtlich nicht, zumindest jene, die das Buch zur blossen Unterhaltung „brauchen“. Lässt das nicht manchmal zweifeln?
Das Nichtverstehenmüssen hängt für mich auch mit dem Nichterklärenmüssen zusammen. Ich möchte nicht erklären, ich möchte die Dinge lange und gut betrachten und dann beschreiben. Ich möchte den Dingen nachgehen und ihnen so vielleicht auch nahekommen, so nahe, dass ich und im besten Fall auch Leser*innen des Textes, diese anders betrachten können, etwas Neues entdecken. Aber ja, der Text arbeitet mit Leerstellen und lässt vieles offen. Dass nicht alle Leser*innen solche Leerstellen mögen, ist absolut okay. Ich freue mich aber sehr über diejenigen, die sich auf ein Nichtverstehenmüssen einlassen.

Auch in diesem Buch finden sich wieder Illustrationen. Auch wenn diese nicht im eigentlichen Sinn illustrieren. Auch Fotos sind abgedruckt, Recherchefotos. Welche Rolle spielen das Zeichnen und Fotografieren in Deinem Sehen und Suchen?
Innerhalb des Romans gehören die Bilder zu Doras Erzählteil, sie sind gewissermassen Logbucheinträge von ihr. Die Bilder sind eine Möglichkeit, die Dinge nochmals anders zu erzählen, von einer anderen Seite zu betrachten. Der Wechsel des Mediums ist für mich im Schreibprozess auch immer ein sehr wichtiges Werkzeug, um meinen eigenen Blick zu schärfen.

Gianna Molinari wurde 1988 in Basel geboren und lebt in Zürich. Sie studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut und Neuere Deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Für einen Auszug aus ihrem ersten Roman erhielt sie den 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2017. Ihr Debütroman »Hier ist noch alles möglich« war ein grosser Erfolg, wurde für das Theater adaptiert, erhielt den Robert-Walser- und den Clemens-Brentano-Preis und war für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis nominiert.

Beitragsbild © Christoph Oeschger

Hanna Sukare «Schwedenreiter», Otto Müller Verlag

In der Schule lernen wir, dass der 2. Weltkrieg im Mai 1945 endete. Was für ein Irrtum! Paul Schwedenreiter ist Brückenmeister, prüft Risse und statische Veränderungen in Brücken. Was sich seiner Kontrolle entzieht, sind die Auswirkungen einer Chronik, die über 60 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs Wehrmachtsdeserteure und ihre Helferinnen zur Landplage erklären, geschrieben vom angeblichen Retter des Dorfes, einem ehemaligen SS-Mann.

Paul besitzt eine Haus in Hinterstumpf im Salzburgischen Innergebirge. Das Haus seiner Grossmutter, bei der er nach dem Tod seiner Mutter, die er nur von Bildern kennt, aufgewachsen ist. Sein Grossvater wurde an der Front als Wehrmachtssoldat verwundet und weigerte sich, sich nach einem Urlaub wieder zurückzumelden. Er versteckte sich mit anderen in den Bergen, was zu Folge hatte, dass in einer militärischen Aktion viele dieser Deserteure in den Bergen geschnappt, gefoltert und getötet wurden, genauso jene, denen man vorwarf, die Deserteure mit Lebensmitteln und anderem unterstützt zu haben. Seine Grossmutter Rosa wurde verschleppt, in eine Konzentrationslager unweit von Berlin deportiert und nach dem Krieg als Gebrandmarkte zurück in ihr Dorf gelassen, für Jahre ausgeschlossen aus der Gemeinschaft, von Almosen abhängig, während die ehemaligen Nazigrössen nach dem Krieg amnestiert wieder in ihre Ämter und Funktionen zurückkehrten.

Paul lebt immer wieder für Tage im Haus seiner verstorbenen Grossmutter, auch wenn er seinen Wohnsitz längst in der Hauptstadt hat. Aber seit dem Tod seiner Frau Meret ist er ein Dortiger überall, kein Hiesiger in Stumpf, jenem Ort, in dem er die ersten achtzehn Jahre seiner Lebens bei seinen Grosseltern verbrachte und kein Hiesiger in Wien, wo er Meret verloren hatte. Und nun raubt ihm eine Chronik, die die Ortsgeschichte dokumentieren sollte, das letzte Gefühl von Verankerung, setzt durch Aussagen einer ehemaligen Nazigrösse, die es nach dem Krieg geschafft hatte, wie Phönix aus der Asche zu steigen, die Jahre des Krieges und die Geschehnisse im Ort in ein Licht zu drehen, dass der Wahrheit nicht entspricht, den Anstrengungen der kollektiven Verdrängung aber Genüge tut.

Seine Grossmutter wurde alt, ohne je eine Entschuldigung von offizieller Seite zu erhalten und Felician, sein Grossvater desertierte und überlebte die Nazizeit und schämte sich dafür ein Leben lang. «Geschämt fürs Desertieren, geschämt für Überleben, geschämt fürs AufderWeltSein.» Paul schreibt ein Totenbuch als Gegenbuch zur Dorfchronik, ein Buch, dass all jenen gedenken soll, die zwischen die Mühlen einer Geschichte kamen, die sich nach dem Krieg nicht um Aufarbeitung scherte, sondern der es darum ging, möglichst schnell den Schrecken vergessen zu machen. Im Laufe Pauls Recherchen, die ihn immer weiter wegzutragen drohen, gerät er jenem Mann, den er nur «den Gebirgsjäger» nennt, so nahe, wie er gar nicht will und droht jene zu verlieren, denen er sich eigentlich nahe fühlt. «Der Gebirgsjäger», Lehrer, Jäger und Soldat, kriegsversehrt zurückgekehrt, um wieder Lehrer und Jäger zu sein, mit blütenweisser Weste.

Mit der Stimme Pauls gerät Hanna Sukare in unmittelbare Nähe vertuschter Kriegsverbrechen, auch solcher, die erst nach dem Krieg in der jungen Österreichischen Republik stattgefunden haben, unter dem Deckmantel der Versöhnung, erneut Verbrechen an der Wahrheit. Eine Nähe, die schmerzt, selbst mich als Leser. Der Schmerz von Paul, der unauslöschlich bleibt angesichts des Leids, dem jene Deserteure und ihre Unterstützer, die für ihre Form des Widerstands teuer bezahlten, ein Leben lang zu tragen hatten, ganz im Gegensatz zu jenen, die Verursacher und Täter waren.

Was zur Chronik wird, wird zur unreflektierten Wahrheit, stösst in Abgründe, was damit zu vergessen droht. Chroniken werden zu Gedenksteinen in Papier, bleischwer und triefender Wahrhaftigkeit.

Die Lektüre von «Schwedenreiter» hat mich tief bewegt, auch wenn sich das Buch manchmal wie ein Sachbuch liest. Aber vielleicht ist genau dieses Stilmittel nötig, um sich vom scheinbaren Nachkriegsfrieden zu distanzieren. «Schwedenreiter» ist ein wichtiges Buch, ein Buch das wachrüttelt und exemplarisch zeigt, wie Geschichte mit Wahrheit umgeht.

5 Fragen an Hanna Sukare:

In der Schule lernt man, dass der 2. Weltkrieg im Mai 1945 zu Ende war. Ihr Buch macht sich daran, mit vielen Irrtümern aufzuräumen. Auch mit dem, dass ein Krieg einfach zu Ende ist. So wie die Bewegung, als die sich der Nationalsozialismus bezeichnete, für jeden sichtbar, noch lange nicht an seinem Ende ist. Ist ihr Buch ein Buch gegen die Angst?

«Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt. Das Unerhörte ist alltäglich geworden», schrieb 1952 Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht Alle Tage. Leider gewinnen Bachmanns Worte nicht nur in Österreich an Aktualität.

Paul Schwedenreiter, die Hauptfigur des Romans, beginnt seine Suche, weil er die Vorgänge in seinem Heimatdorf nicht länger hinnehmen kann. Er will verstehen, will Gerechtigkeit. Im Laufe der Suche kommt Schwedenreiter der Verzweiflung nahe und der Angst. Sein mulmiges Gefühl verstärkt sich, als er begreift, dass die schlampige Entnazifizierung nicht nur sein Dorf betrifft, sondern zur Kinderstube der zweiten österreichischen Republik gehört.

Beim Schreiben stand die Frage der Angst nicht im Vordergrund. Gleichwohl lässt sich aus dem Text lesen, dass Angst lebenserhaltender sein kann als Heldenmut.

Sie beschreiben ein Dorf, dass sich selbst eine Chronik schenkt und unter vielen Kapiteln auch die Zeit während des Zweiten Weltkriegs beschreibt. Dabei kommen ausgerechnet jene zu Wort, die damals für viel Schrecken verantwortlich waren und es in den Nachkriegsjahren vortrefflich verstanden, sich durch „Kameradschaft“ und pro-forma-Entnazifizierung eine weisse Weste zurückzukaufen. Was war zu Beginn ihres Buches; der Schmerz über ein Land, dass sich nur zögerlich seiner Vergangenheit stellt oder die tatsächliche Geschichte?

2016 bat mich die Salzburger Literaturzeitschrift Salz um einen Beitrag zu ihrem Heft «Geschichte erzählen». Ich hatte kurz zuvor ein Interview mit dem Sohn eines der Wehrmachtsdeserteure aus dem Innergebirge gelesen. Aufgrund seines Berichts schrieb ich den kurzen Text «Zwischen zwei Sätzen.» (Salz. Zeitschrift für Literatur Jahrgang 41/III, Heft 163, März 2016).

Damals wusste ich noch nicht, dass dieser Text der Kern meines neuen Romans werden würde. Ich lernte dann Nachkommen der Deserteure kennen. Ihre Vorfahren sind im Innergebirge nach wie vor übel beleumdet, und dort erfüllen manche Orten weiterhin den Wunsch des Naziregimes, dessen Gegnern einen Grabstein bzw. einen Gedenkstein zu verweigern. Diese Haltung des Kollektivs belastet oder entzweit bis heute die Familien, aus denen die Deserteure kamen.

Selbst nach der Rehabilitierung aller von der NS-Militärjustiz Verfolgten – und dazu zählen die Deserteure – durch ein österreichisches Bundesgesetz im Jahr 2009, blieb im Innergebirge alles beim Alten.

Paul Schwedenreiter, sagt an einer Stelle: „Ich warte nicht länger. Ich bin der Enkel eines Deserteurs. Ich ertrage nicht, wie diese Ortschronik fort und fort den Ruf meines Großvaters und meiner Urgroßmutter schädigt.“

Sie schaffen die Balance zwischen Nähe und Distanz in ganz besonderer Weise. Zum einen erzählen sie die Geschichte jenes Mannes, der zwischen dem Schmerz um den Tod seiner Frau und dem seiner erlöschenden Vergangenheit pendelt, zum andern tauchen sie ein in Recherchearbeit, die aufzeigt, wie vernebelnd, irreführend und entmutigend diese sein kann. Was passierte mit ihnen während des Schreibens?

Paul Schwedenreiter erzählt in verschiedenen Situationen, wie es ihm während der Recherchen ergangen ist. Seine diesbezüglichen Erfahrungen sind mir nicht fremd.

Im Verlaufe der Lektüre stieg immer mehr die Lust, das Gelesene an Fakten anzubinden, ist das Vertuschen und Beschönigen von Fakten und Geschichte ja ein wesentlicher Bestandteil ihres Romans, der hart an der Grenze zum Sachbuch schrammt. Ich suchte im Internet und fand die Geschichte um den Gedenkstein zur Erinnerung an die Goldegger Deserteure. Zu offensichtlich scheinen die Parallelen zu ihrem Roman. Warum die Fiktionalisierung?

Für mich stellte sich während des Schreibens eher die Frage, warum nicht der gesamte Text fiktionalisiert sein kann. Im «Schwedenreiter» prallen Fiktion und Realität aufeinander.

Den zunächst Gebirgsjäger und später bei seinem Namen Genannten, hochrangiger SS-Mann und einstiger Adjutant des Salzburger Gauleiters, habe ich nicht erfunden. Alles, was ich über ihn weiß, weiß ich aus Akten und Dokumenten, die in Archiven öffentlich zugänglich sind.

Die erfundene Figur Schwedenreiter untersucht die Laufbahn des Gebirgsjägers, als wäre der ein Stück Holz, dessen Alter und Herkunft Schwedenreiter bestimmen wollte. Dies hat zwei Gründe. Zum einen lässt die Gemeinde Stumpf diesen Gebirgsjäger in ihrer Chronik als Gewährsmann gegen die Deserteure des Ortes auftreten. Er verbreitet in der Chronik Halbwahrheiten und Gerüchte, denen Schwedenreiter nur durch größtmögliche Dokumententreue und Genauigkeit entgegentreten zu können glaubt.

Ebenso gewichtig ist Schwedenreiters Weigerung, sich einen SS-Mann innerlich nahe kommen zu lassen. Schwedenreiter schützt sich mit den Dokumenten, er will von den persönlichen Mängeln und Vorzügen des Gebirgsjägers nichts wissen. In einem Moment bricht diese Distanz. Da verbietet sich Schwedenreiter sofort das Fortspinnen seines Gedankens. Schwedenreiter verweigert dem Gebirgsjäger bewusst die Beseelung, von der Thomas Mann meinte, sie müsse dem Dichter alles bedeuten. Was ist Beseelung? Die subjektive Vertiefung des Abbildes einer Wirklichkeit, sagt Mann.

Dieser bewusste Verzicht auf Beseelung war ein Experiment, das ich nicht wiederholen werde. Es verursacht eine seelische Verkühlung, als hantiere man mit einem Leichnam.

Die Frage der Namensnennung beschäftigt Schwedenreiter von Beginn an. Er sagt: „Die Ortschronik ist ein Pranger. Würde mein Bericht die Namen nennen, errichtete ich einen Gegenpranger. Namen werde ich nur dort nennen, wo sich mein Bericht von Pinz, Stumpf und Hinterstumpf entfernt.“ Spät erst findet Schwedenreiter den Grund, warum er den Namen des Gebirgsjägers nennen kann.

Den Namen des Ortes zu nennen, der den SS-Mann zu dem Gewährsmann gegen die Deserteure macht, erscheint Schwedenreiter nicht notwendig. Er nennt den Ort der Handlung Stumpf. Was sich dort ereignet hat, könnte ebenso in einem anderen österreichischen Dorf geschehen sein.

Jene Gemeinde des Salzburger Innergebirges, in der sich ähnliche Ereignisse zugetragen haben, wird sich in meinem Roman womöglich gespiegelt sehen. Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Der «Schwedenreiter» gibt dieser Gemeinde die Chance, ihre Geschichte neu anzuschauen.

Ich war ziemlich erstaunt, als mich der Kulturverein der Gemeinde Goldegg für den 13. September 2018 zur Erstpräsentation des «Schwedenreiters» eingeladen hat. In der Ankündigung der Veranstaltung heißt es: «Die Gemeinde Goldegg wird – unter der Einbeziehung der umfangreichen Recherchen von Hanna Sukare – ihr Ortschronik zu diesem dunklen Kapitel seiner jüngeren Geschichte wissenschaftlich neu bearbeiten lassen.»

Ein erfreuliches Versprechen. Ich werde es ernst nehmen, sobald die überarbeitete Ortschronik vorliegt.

Ihr Buch kratzt an offenen Wunden. Durch persönliche Bindungen zu Südkärnten weiss ich, wie lange und hartnäckig Jahrzehnte alte Verwundungen auf allen möglichen und unmöglichen Seiten weiterleben und motten, wieviel Zorn, Ablehnung, Hass und Widerstand sie noch immer mobilisieren können. Auch in der Schweiz wehrt man sich trotz Bergier-Bericht für eine Schweiz, die sich während des Zweiten Weltkriegs angeblich nobel und neutral verhielt. Schon in ihrem ersten Roman „Staubzunge“ nahmen sie sich einem Stück dunkler Geschichte an. Woran glauben Sie?

Die Gnade des Glaubens ist mir nicht gegeben, ich bin auf Erfahrungswissen angwiesen.

Ich hatte das Privileg, zu Friedenszeiten in westlichen Demokratien aufzuwachsen. Aus solch privilegiertem Leben entstand die Erfahrung, Worte können Stummes, Dunkles, Bedrückendes, Trennendes erlösen, Worte können Hass nicht nur säen, sondern auch überwinden. Wer in einer Diktatur aufwächst, macht vermutlich die gegenteilige Erfahrung und sagt sich: Schweigen ist Gold.

Und schließlich leuchtet nach wie vor «der armselige Stern der Hoffnung über dem Herzen», wie Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht «Alle Tage» 1952 schrieb.

Vielen Dank!

Hanna Sukare, geboren 1957 in Freiburg (i.Br.). Studierte Germanistik, Rechtswissenschaften, Ethnologie. 1991/92 Forschungsaufenthalt in Lissabon. Hanna Sukare war unter anderem als Journalistin, Redakteurin (Falter, Institut für Kulturstudien) und Wissenschaftslektorin tätig und beschäftigte sich in wissenschaftlichen Studien mit dem gesellschaftlichen Fundus des Fremden.  Hanna Sukare gewann mit ihrem Debütroman «Staubzunge» den Rauriser Literaturpreis 2016 (Bilder im Interview) für die beste Prosa-Erstveröffentlichung in deutscher Sprache.

Rezension von «Staubzunge» auf literaturblatt.ch

Beitragsfoto © Sandra Kottonau