Gianna Molinari «Hinter der Hecke die Welt», Aufbau

Gianna Molinaris Romane sind Sondierungen in die Tiefe. Wie in ihrem Debüterfolg „Hier ist noch alles möglich“ wählt die Autorin nicht nur ganz spezielle Erzählorte, sondern setzt ihr Erzählen in eine Horizontale, weg vom gewohnten Blick in eine vertikale Weite. Gianna Molinaris Erzählen entzieht sich gängiger Erzählstrukturen und macht ihre Romane zu funkelnden Diamanten.

Dora, eine Meeresforscherin in der Arktis, sieht in den Veränderungen am Pol, seien es die klimatischen oder die durch diese hervorgerufenen wirtschaftlichen, eine sich verändernde Landschaft. Nichts am ewigen Eis ist mehr ewig. Alles wird endlich und durch diese Endlichkeit grossen Umwälzungen unterworfen. Die Eiskappen schmelzen. Was mit den menschlichen Eingriffen schon vor mehr als hundert Jahren seinen Anfang nahm, wird durch die Auswirkungen menschlichen Tuns und Unterlassens so sehr beschleunigt, dass nicht absehbar ist, was in den kommenden Jahrzehnten auf das Leben auf diesem Planeten zukommen wird. Dora sammelt als Wissenschaftlerin Sedimentproben vom arktischen Meeresboden, kartographiert und untersucht das, was noch ist und sich in Zukunft rasant verändern wird.

Dora hat Pina, ihre Tochter, im Dorf zurückgelassen, genauso wie Karsten ihren Mann, der einst wegen ihr in das kleine Dorf gezogen war. Zusammen mit der gleichaltrigen Lobo sind Pina und sie die einzigen Kinder, die im Dorf geblieben sind. Einem Dorf, das zu verschwinden droht. Einem Dorf, das in seinem Verschwinden vom Wuchern einer Hecke gleich neben dem Dorf begleitet wird. Einer Hecke, vor der man sich gleichermassen fürchtet wie Hoffnungen setzt. Solange sie wächst, bleibt die Hoffnung auf Veränderung. Dass das Verschwinden aufgehalten wird, dass mit den Veränderungen der Tourismus wirkt, Wachstum auch ins Dorf zurückkehrt – und vor allem, dass die beiden Mädchen wieder wachsen, denn trotz aller Anstrengungen bleibt das Wachstum der beiden aus, bleibt ihre Körpergrösse die immer gleiche.

„Das Eis ist ein Gedächtnis kurz vor dem Vergessen.“

Gianna Molinari «Hinter den Hecken die Welt», Aufbau, 2023, 208 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-351-04173-1

Das ganze Dorf wappnet sich gegen das Verschwinden. Genauso wie man die seltsame Hecke beobachtet, nicht weiss, ob sie Bedrohung oder Kapital sein kann. So wie in der Arktis wird unterucht und gemessen, festgehalten und prognostiziert. „Hinter der Hecke die Welt“, weil jedes Ende ein Anfang ist, weil die Spezies Mensch nicht verstehen kann, dass alles im Wandel ist, höchstens der Wandel ewig. Obwohl der Mensch alles auf diesem Planeten mit seinen langen Fingern für sich einnimmt, behandelt man den Organismus Erde wie eine immer gleiche blaue Kugel, obwohl es der Mensch ist, der die Veränderungen potenziert, das gleichförmige Wachsen und Verschwinden zu einem katastrophalen Prozess beschleunigt.

Gianna Molinaris Roman erzählt nur rudimentär eine Geschichte. An einem Plott ist sie nicht interessiert. Gianna Molinari schreibt wie die Arktisforscherin Proben aus den Sedimenten zieht. Sie liest aus den Veränderungen der Zeit. „Hinter der Hecke die Welt“ ist ein zweihundertseitenlanger Versuch, die Schichten der Veränderungen zu lesen. Das Vergnügen der Interpretation liegt ganz bei mir als Leser. Ein faszinierender Leseprozess, ein Lesevergnügen der besonderen Art, wie schon in ihrem Debüt.

Und doch ist der Roman weit mehr als ein sprachliches Fabulieren. Gianna Molinari zeichnet Skizzen, nicht nur sprachlich, zwischendurch gar bildhaft. Aber ihre Zeichnungen illustrieren nicht, genauso wie ihr Erzählen. „Hinter der Hecke die Welt“ ist ein schillerndes Porträt des Gegenwärtigen. Eine romanlange Aufforderung nachzudenken, ein literarisches Forschen in den Sedimenten des Lebens.

Und ganz nebenbei erfahre ich als Leser Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte. Wussten Sie, dass das Arktische Eichhörnchen seinen Organismus einfrieren kann? Kennen sie den Riesenalk oder den Grönlandhai, der 500 Jahre alt werden kann? „Hinter der Hecke die Welt“ – tatsächlich!

Interview

Ich las Dein Buch sehr gerne, auch wenn Du es mir nicht ganz leicht gemacht hast. Aber wahrscheinlich wolltest Du das auch gar nicht. Weil Du mich mit Deiner Schreibe zur Langsamkeit zwingst, einem Lesetempo, dass sonst nicht meinen Gewohnheiten entspricht. Ich wollte verstehen, witterte wahrscheinlich den einen oder anderen doppelten Boden, wo Du eigentlich nur fabulieren, abdriften, eintauchen wolltest. 
Man kann Deinen Roman mit vielen Brillen lesen: eine Mutter weg von ihrer Familie, eine Forschende, die das Eis mit ihren Fragen löchert, ein Dorf, dass sich gegen das Verschwinden stemmt, ein Dorf zwischen Angst und Expansionsfantasien, zwei Kinder, die nicht mehr wachsen … und eben diese geheimnisvolle Hecke. War ein Plan da?
Es ist während dem Schreibprozess immer wieder ein Plan da. Das Ärgerliche aber vielleicht auch das Schöne und Wichtige an diesen Plänen ist, dass ich sie auch immer wieder verwerfen muss. Vor allem, weil ich jeweils merke, dass ich nicht so schreibe, nicht nach Plan, dass das schlicht nicht ergiebig ist, dass ich mir den Stoff, die Motive, die Figuren, die Geschichten erschreibe, also nur im Schreiben Stück für Stück dem näher komme, was dann zum fertigen Text wird. Und ja, da stimme ich Dir zu und das freut mich auch sehr, deine Aufzählung von dem, was Du alles im Text liest, diese Vielbrilligkeit, im besten Sinne die Offenheit des Textes, die habe ich gesucht, damit die Leser*innen ihre eigenen Wege durch das Buch gehen können. Das zumindest erhoffe ich mir.

Die Hecke wächst, das Dorf stagniert. Die Hecke als Labyrinth, das Dorf als Ort, in dem man mit aller Energie an Wachstum glaubt. Vielleicht lese ich in der Hecke auch meinen eigenen Wunsch, die Natur möge sich zurücknehmen, was man ihr entrissen hat. Aber wahrscheinlich ist es genau das, was mich an Deinem Roman fasziniert; die Vielfalt an Deutungsmöglichkeiten. Ist Dein Roman auch ein Statement in erzähltechnischer Hinsicht? Gegen die Banalität?
Es ist, denke ich, nicht ein Anschreiben gegen die Banalität. Das Schreiben ist für mich vielmehr eine Möglichkeit oder der Versuch, die Welt, der ich als Schreibende begegne und mit der ich mich auseinandersetzen möchte, zu fassen und sie dabei nicht zu vereinfachen, sondern ihr Raum zu geben. Und ganz so trennbar oder gegensätzlich ist es ja nicht, die Welt ist ja banal und unfassbar komplex zugleich.

© Gianna Molinari

Ich lese viel und wundere mich, dass der Aufbau Verlag, den ich nicht wirklich zu den experimentierfreudigen zähle, auch Deinen Zweitling druckte. Erstaunlich oder doch nicht? War die Unterstützung im Verlag einhellig?
Das würde mich natürlich jetzt auch interessieren, was der Aufbau Verlag zu Deiner Sichtweise auf ihr Programm antworten würde. Aber nein, ich bin nicht Deiner Meinung, der Aufbau Verlag hat zum Beispiel mit Blumenbar ganz klar auch eine experimentierfreudige Seite und aus meiner Wahrnehmung war die Unterstützung für meinen Roman einhellig und gross und die Zusammenarbeit im Lektorat und mit allen Verlagsmitarbeitenden finde ich grossartig. 

Bei der Bildenden Kunst hält man das Nichtverstehenmüssen aus. Auch bei der Musik. Ausgerechnet bei erzählender Literatur aber ganz offensichtlich nicht, zumindest jene, die das Buch zur blossen Unterhaltung „brauchen“. Lässt das nicht manchmal zweifeln?
Das Nichtverstehenmüssen hängt für mich auch mit dem Nichterklärenmüssen zusammen. Ich möchte nicht erklären, ich möchte die Dinge lange und gut betrachten und dann beschreiben. Ich möchte den Dingen nachgehen und ihnen so vielleicht auch nahekommen, so nahe, dass ich und im besten Fall auch Leser*innen des Textes, diese anders betrachten können, etwas Neues entdecken. Aber ja, der Text arbeitet mit Leerstellen und lässt vieles offen. Dass nicht alle Leser*innen solche Leerstellen mögen, ist absolut okay. Ich freue mich aber sehr über diejenigen, die sich auf ein Nichtverstehenmüssen einlassen.

Auch in diesem Buch finden sich wieder Illustrationen. Auch wenn diese nicht im eigentlichen Sinn illustrieren. Auch Fotos sind abgedruckt, Recherchefotos. Welche Rolle spielen das Zeichnen und Fotografieren in Deinem Sehen und Suchen?
Innerhalb des Romans gehören die Bilder zu Doras Erzählteil, sie sind gewissermassen Logbucheinträge von ihr. Die Bilder sind eine Möglichkeit, die Dinge nochmals anders zu erzählen, von einer anderen Seite zu betrachten. Der Wechsel des Mediums ist für mich im Schreibprozess auch immer ein sehr wichtiges Werkzeug, um meinen eigenen Blick zu schärfen.

Gianna Molinari wurde 1988 in Basel geboren und lebt in Zürich. Sie studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut und Neuere Deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Für einen Auszug aus ihrem ersten Roman erhielt sie den 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2017. Ihr Debütroman »Hier ist noch alles möglich« war ein grosser Erfolg, wurde für das Theater adaptiert, erhielt den Robert-Walser- und den Clemens-Brentano-Preis und war für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis nominiert.

Beitragsbild © Christoph Oeschger

Jakob Augstein «Strömung», Aufbau

Jakob Augstein muss es wissen. In seinem literarischen Debüt schreibt er von Franz Xaver Misslinger, einem Mann, dem politisch nichts zu misslingen scheint. Von einer steilen Politkarriere, von Kalkül und Macht, von Verrat und tiefen Verletzungen. Jakob Augstein weiss es, weil er sie kennt in den geschlossenen Kreisen der politischen Alphamenschen.

Ungewöhnlich genug, dass der 55jährige Verleger, Herausgeber, Journalist und medialer Tausendsassa einen Roman herausgibt. Es scheint lange gekocht zu haben. Und was ich lese, erstaunt und fasziniert mich gleichermassen. Wer „Strömung“ liest, wird Realpolitik nicht mehr mögen, wird sich in Vielem bestätigt wissen. Mag sein, dass Augstein Klischees bedient. Aber weil es ein Augstein-Roman ist, liest sich dieser Roman so ganz anders, als von jemandem, der sich durch Recherche an eine solche Geschichte wagt.

Misslinger wollte unbedingt das Beste aus sich machen. Das Optimum. «Optimieren» war ein Wort, das er gerne gebrauchte. Aber er wollte dabei mühelos bleiben.

Jakob Augstein «Strömung», Aufbau, 2022, 301 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-351-03949-3

Misslinger ist früh in die Politik eingestiegen, durchaus mit der Absicht, etwas in Bewegung zu versetzen. Aber wohl vor allem sich selbst. Er ist in den Zirkeln der Partei aufgestiegen, immer unter der Patenschaft seines grossen Mentors und Förderers, immer im sicheren Wissen darum, dass er an entscheidender Stelle getragen wird. Überhaupt ist er sich das Getragen-werden gewohnt. Nicht zuletzt von seiner Frau Selma und seiner Tochter Luise. Seine Karriere war ein Leben lang oberstes Gesetz, oberster Massstab, dem sich alles unterzuordnen hatte. Misslingers Leben richtete sich stets nach den Gesetzen innerparteilicher Strömungen. Bis nicht nur er felsenfest davon überzeugt ist, dass er am kommenden Parteitag ganz an die Spitze gehievt wird, alles von der einen, entscheidenden Rede abhängt, seinem sicheren Gespür für die richtigen Worte. Kurz vor jenem alles entscheidenden Parteitag rät man ihm, eine Auszeit zu nehmen, sich die Rede in aller Ruhe zurechtzulegen. Und weil Misslinger spürt, dass Distanz nur gut tun kann, auch vor dem drohenden ehelichen Scheiterhaufen, dem, was übrig bleibt, weil er nie da war, als es ihn in Ehe und Familie wirklich gebraucht hätte, tritt er eine Reise in die USA an. Eine Reise mit seiner sechzehnjährigen Tochter Luise, von der er genau weiss, dass er einiges gutzumachen hat. Zu seiner Überraschung nimmt Luise die Einladung an und die Reise beginnt. 

Es gab doch ein paar andere Themen, Freiheit, Gerechtigkeit und so, aber wenn man alles Nebensächliche weggestrichen hätte, wäre als Wesenskern das Geldverdienen übrig geblieben.

Keine Reise in einen Urlaub. Misslinger gelingt es in keinem Moment, aus der Strömung auszutreten. Seine Tochter Luise ist längst nicht die brave, leicht zu begeisternde Tochter, die sich ein Vater als Begleitung wünscht. Luise stellt ihren Vater in Frage, immer und immer wieder. Sie, die in einer Generation aufwächst, der die Sorge um eine Zukunft schon mit 16 existenziell geworden ist. Sie, die schon mit 16 jegliches Vertrauen in die leeren Worthülsen aktueller Hinhaltepolitik nicht mehr hinhalten will. Zwar will Misslinger verstehen, aber eigentlich nur den Zugang zur Tür, die ihm zeigen soll, wie er mit Worten seine Tochter von seinen Ansichten überzeugen kann. Während er sich mit den Ängsten und dem Unverständnis seiner Tochter konfrontiert sieht, muss er feststellen, dass ihn die Strömung zuhause an den Schaltkreisen der Macht auszuspucken droht.

«Dreh dich mal um!»

„Strömung“ ist ein flirrendes Psychogramm eines Machtmenschen, der all sein Tun einem einzigen Ziel unterordnet; der Macht. Zwar immer unter dem Mäntelchen des Gemeinwohls, aber stets mit dem fokussierten Blick auf die nächste Stufe der Karriere, auf jenen Thron, von dem er überzeugt ist, er stünde ihm zu.
Augsteins Protagonist Franz Xaver Misslinger ist der Archetyp eines Politikers. Augsteins Roman ein Strudel, in dem sich Misslinger immer tiefer in Strömungen verliert, in einem unaufhaltsamen Ende. „Strömung“ ist der tiefe Blick in ein System, einen Strom, dessen Gesetze scheinbar der Mensch schreibt, dessen Unkontrollierbarkeit man aber nicht wahrhaben will. „Strömung“ ist faszinierend erzählt!

Jakob Augstein, geboren 1967, ist Verleger und Publizist. «Strömung» ist sein erster Roman.

Beitragsfoto © Mathias Bothor

Olivier Guez «Das Verschwinden des Josef Mengele», Aufbau

Eine Biografie über den Auschwitz-Lagerarzt Josef Mengele, diesen besessenen „Wissenschaftler“ am Menschen, bräuchte ich nicht zu lesen. Nicht einmal einen Erklärungsversuch darüber, warum sich die Alliierten so wenig erfolgreich darum bemühten, des in Südamerika untergetauchten Mediziners habhaft zu werden. Und trotzdem fasziniert dieses Buch total.

Olivier Guez, der mit dem Drehbuch zum beeindruckenden Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“, zeigte, dass er sich mit einem besonderen Blick auf die Geschichte um Aufarbeitung bemüht, schrieb mit „Das Verschwinden des Josef Mengele“ ein sowohl literarisch wie in seinen historischen Zusammenhängen packendes und aufschlussreiches Buch. „Der Staat gegen Fritz Bauer“ war ein Film über den Kampf eines Frankfurter Generalstaatsanwalt, den Kampf gegen ehemalige Verantwortliche des Naziregimes, wie den Organisator des Holocaust Adolf Eichmann, den Kampf gegen das Vergessen und Verhindern.
Der Roman «Das Verschwinden des Josef Mengele» ist ein Lehrstück eines unbelehrbar Fanatischen, einer Nachkriegszeit, in der die Ideen der nationalsozialistischen Weltherrschaft noch lange munter weiterglimmen und ein Beispiel dafür, wie genügsam Nachkriegsdeutschland, die Alliierten und die Öffentlichkeit waren, nachdem man sich mit den Nürnberger Prozessen der Frage nach der Verantwortung gestellt zu haben schien.

1945, wenige Monate nach dem Krieg, arbeitet Mengele unter falschem Namen auf einem Oberbayrischen Bauernhof und selektioniert Kartoffeln. 1949 reist er in Argentinien ein, im aufstrebenden Land von Joan und Evita Perón und versucht sich mit Hilfe der „Rattenlinien“, ehemaliger Nazigrössen, die sich neu formierten, eine neue Existenz zu schaffen. Später flieht er nach Uruguay, dann nach Brasilien, wo er 1979 durch einen Schlaganfall beim Baden am Meer ertrinkt, 68jährig, 34 Jahre lang untergetaucht und nie vor ein Gericht gestellt.
Der Mann, der direkt oder indirekt verantwortlich war für abertausende von absonderlichen Tötungen im Dienste einer grausamen Ideologie. Der Mann, den die wenigen Überlebenden den «Todesengel von Auschwitz» nannten.

Mengele findet ein Leben lang Gesinnungsgenossen, finanzielle Unterstützung, Menschen, die sich seiner annehmen. Seine im schwäbischen Günzburg tief verankerte Industriellenfamilie unterstützt ihn fleissig, um der Agrartechnikfirma nicht zu schaden (Noch heute liest man auf landwirtschaftlichen Maschinen den Namenszug.) Das Argentinien unter Joan Perón, der auch in Europa im Strahlenmeer seiner zur Legende gewordenen Ehefrau Evita so etwas wie Kultstatus geniesst, war Sammelbecken für all jene entflohenen und untergetauchten Nazis, die es mit Geschick verstanden, sich ihrer Verantwortung zu entziehen oder auch nur den Hauch einer Schuld einzugestehen. Peróns Absicht war es, mit Hilfe all der Militärs, Wissenschaftler und Finanzgrössen Argentinien mit Staudämmen, Raketen und Atomkraftwerken auszurüsten und die USA nach der sicheren Niederlage in einem 3. Weltkrieg als Supermacht abzulösen. Man trifft sich bei Gesinnungsgenossen in grossen Landgütern mit Hitlerbüste im Garten und einem Hakenkreuz aus Granit auf dem Grund des Pools.

Dass es Deutschland mit der konsequenten Aufarbeitung auch 10 Jahre nach dem Krieg nicht allzu ernst war, zeigt die Tatsache, dass 1956 das westdeutsche Konsulat in Buenos Aires Josef Mengele einen Personalausweis und eine Geburtsurkunde ausstellte – ohne irgendwelche Konsequenzen.

Zweifelsohne war Mengele ein Monster. Olivier Guez legt sein Augenmerk aber nicht in erster Linie auf die Gräueltaten «des ehrgeizigen Chirurgen des Volkes, der grossen Hoffnung der Genforschung». Guez interessiert sich ebenso genau für die Umgebung, die es diesem Mann möglich machte, über dreissig Jahre auf der Flucht zu sein und selbst ein Jahr vor seinem Tod beim Aufeinandertreffen mit seinem leiblichen Sohn, der heute als Anwalt in München mit dem Namen sehr Frau lebt, sich weigerte nur ein Fitzelchen eines Irrtums einzugestehen.

Gut, wenn Bücher wie ein solches in Zeiten gelesen werden, in der Mitglieder des deutschen Bundestages Hitler und die Nazis nur als «Vogelschiss in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte» bezeichnen. Noch besser, wenn sie gut geschrieben sind, sorgfältig recherchiert, nie mit dem Zeigefinger mahnend. Bis auf den letzten Satz: «Nehmen wir uns in Acht, der Mensch ist ein formbares Geschöpf, nehmen wir uns vor den Menschen in Acht.»

© JF Paga – Grasset

Olivier Guez, 1974 in Straßburg geboren, ist Autor und Journalist. Er arbeitete unter anderem für Le Monde, die New York Times und die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Für das Drehbuch von «Der Staat gegen Fritz Bauer» erhielt er den deutschen Filmpreis. Olivier Guez lebt in Paris.

Übersetzt von Nicola Denis.

Titelfoto: Sandra Kottonau