Myriam Wahli „Ohne Komma“, die brotsuppe

„Ohne Komma“, das erste Buch von Myriam Wahli, das auf Deutsch erhältlich ist, ist ein ganz und gar eigenwilliges Buch. Zum einen die erzählende Perspektive aus der Sicht eines Kindes, zum andern formale Eigenheiten, die nahelegen, dass es der jungen Dichterin um viel mehr geht, als zu erzählen.

Ein Mädchen erzählt von seinem Zuhause, der Familie, dem Dorf, der näheren Umgebung, den Menschen in diesem Dorf, von der Kirche, der Schule. Glaubhaft und nachvollziehbar aus der Sicht eines Kindes zu erzählen, gelingt nicht oft. Es bedarf einer Sprache, die nachempfinden lässt, was in der noch so unverbrauchten, empfänglichen Wahrnehmung eines Kindes geschieht, um mich als Leser nicht abzuschrecken. Dazu gehört keine kindliche Sprache. Myriam Wahli wertet die Wahrnehmungen ihrer Protagonistin nicht. Keine Interpretationen, keine weitschweifenden Assoziationen, die bei Erwachsenen automatisch zu Filtern werden.

Da erzählt ein Kind von seiner noch kleinen, mitunter sehr engen Welt. Manchmal hatte ich als Leser das Gefühl, jene archaische Welt rücke in einzelnen Bildern tief in Vergangenheiten, weit weg von dem, was das Alter der Autorin vermuten lässt. Aber jenes Dorf, in dem das Leben und immer gleiche Traditionen einem gleichförmigen Takt unterworfen sind, bestimmt auch den Takt des Erzählens. Das Mädchen erzählt von den Schichten, die sich auf alles legen, was die Welt des kleinen Mädchens ausmacht. Nur ganz selten gelingt es Menschen, Momenten und Augenblicken, sich aus diesen Schichten herauszuschälen. Diese Schichten sind keine warmen Decken, sondern ein klebriges Meer aus Unerklärtem, Unverstandenem, Fremden.

Myriam Wahli «Ohne Komma», die Brotsuppe, 2023, aus dem Französischen von Yves Raeber, 72 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-03867-083-4

Nicht dass sich die Welt des Mädchens gegen sie wendet. Aber niemand bemüht sich, dem Mädchen die Welt zu erklären. Die Erwachsenen sind Fremde, selbst Mutter und Vater, die beide fest in ihrer Arbeitswelt eingespannt sind.
Mit jedem Satz zeichnet das Mädchen die Färbungen und Schatten dieser Schichten. So ist auch jeder Satz ohne Komma durch einen Abschnitt vom vorangegangenen abgesetzt, jeder Satz ein AugenBlick. Das Kind spürt, dass sie es ist, die den Zugang zur Welt der Erwachsenen suchen und finden muss, in eine Welt, in der die Erwachsenen Wörter auf die Dinge legen. Die Erwachsenen haben eine Kommode im Kopf, ein sperriges Ding mit unsäglich vielen Schubladen, wo mit Aufklebern festgehalten ist, was sich darin befinden soll. Wer sich nicht dem Rhythmus, den Traditionen und Regeln des Dorfes und der Kirche unterwirft, bricht den „Schichtenvertag“. Alles muss seine Ordnung haben.

Einzig die Alten scheinen dem Leben das Zugeständnis abgerungen zu haben, sich nicht mehr gänzlich einfügen zu müssen. Zum Beispiel Rossé, der Alte mit Lockenmähne und grauem Bart und den Bienenvölkern, von denen er erzählt.

Beeindruckend ist die verknappte Sprache. Obwohl einzelne Sätze lang sind, hat ihre Sprache nichts Ausuferndes. Es sind Sätze voller Klarheit, voller Schönheit.  Jeder Satz eine Miniatur, die durch kein Komma unterbrochen werden will. Myriam Wahli bringt eine Leichtigkeit in ihr Erzählen, die die harten Konturen der Wirklichkeit mit dem kindlichen Sehen aufweicht. „Ohne Komma“ ist ein Sprachkunstwerk.

Myriam Wahli wurde 1989 in einem Industriegebiet im Berner Jura geboren. Sie zeigt Filme in Bergdörfern, studiert die Kunst des Shiatsu, betreibt wildes Gärtnern, umarmt Bäume und versucht hartnäckig, ihr Leben zu einer geraden Linie zu machen, die am Ende immer in eine Kurve mündet. 2018 wurde sie mit dem Stipendium von Fell-Doriot ausgezeichnet.

Yves Raeber ist Schauspieler, Regisseur und Übersetzer von Theaterstücken und Prosa. 2017 hat ihm die Fachstelle Kultur des Kantons Zürich für seine Arbeit am Roman «Ruhe sanft» einen Werkbeitrag für Literarisches Übersetzen zugesprochen. 2019 erhielt er von der Stadt Zürich eine literarische Auszeichnung.

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Beitragsbild © Tonatiuh Ambrosetti

Philippe Rahmy «Allegra», die brotsuppe

Sommer 2012. London kocht in den Vorbereitungen zu den Olympischen Spielen. Ein volles Stadion. Tausende von Menschen jubeln und erwarten. Abel sitzt auch unter diesen Menschen, mit einem Rucksack zwischen den Füssen, den er an den Kontrollen am Eingang vorbeischmuggeln konnte. Im Rucksack ist eine Bombe.

Abel heisst in Philippe Rahmys Roman wohl nicht zufällig Abel. In der Geschichte im Alten Testament bringt der Ackerbauer Kain seinen Bruder und Schafhirt Abel um, weil sein Opfer bei Gott nicht die gleiche Beachtung fand wie jenes seines Bruders. Auch im Roman „Allegra“ scheint das Leben des einen nicht den gleichen Wert zu haben wie all die andern, die sich in der Finanzwelt der Millionenmetropole London nach der Decke strecken. 

Abel war nach seinem Studium ein vielversprechender Trader, ein Börsenhändler, der mit Hilfe spezieller Algorithmen Kapital zu vermehren versucht, gefördert und betreut von seinem Mentor Firouz. Sonst in seinem Leben ein Einzelgänger lernt er die hübsche Lizzie kennen, verliebt sich, nicht nur in sie, sondern auch in seinen Erfolg, ins Geld. Lizzie wird schwanger und alles im Leben Abels scheint jene Wendung zu nehmen, die Erfolg in der undurchsichtigen Finanzwelt als Lohn von Instinkt und Cleverness erscheinen lässt.

Aber Abel hat nicht erst seit seinen Erfolgen im grossen Business ein Problem mit Alkohol. Als Lizzie nach einer schwierigen Schwangerschaft ein Mädchen zur Welt bringt und sich das planbare Glück nicht wie Zahlenfolgen programmieren lässt, schlaflose Nächte zur Regelmässigkeit werden, Lizzie sich in Depressionen verkriecht, wirkt sich das auch auf den bisher so sicheren Tritt in Abels Berufsleben aus. Unkonzentriertheiten mehren sich, Warnungen werden überhört, Verluste stellen sich ein, das Vertrauen jener, die mit Erfolgen rechnen und immer deutlichere Verluste einstecken müssen, schwindet, zerfällt, bis Abel von Firouz entlassen wird.

Philippe Rahmy «Allegra», aus dem Französischen übersetzt von Yves Raeber, die brotsuppe, 2022, 192 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-03867-059-9

Aber wenn eine Lawine zu rutschen beginnt, reisst sie alles mit. Irgendwann, die Wohnung der jungen Familie wird immer mehr zu einem Ort des Desasters, wird die kleine Allegra krank. Als das Fieber immer dramatischer wird, schickt Lizzie Abel nachts auf die Strasse, um Medikamente, Hilfe zu holen. Aber Abel strandet, verliert sich im Suff. Und als er dann wirklich nach Hause kommt, hat sich die Katastrophe schon eingestellt, zuerst unsichtbar, um dann aber wie ein alles zerstörendes Gewitter über den aus dem Rausch auftauchenden Abel einzubrechen.

Abel verliert alles. Seinen Beruf, seine Familie, sein Zuhause. Er strandet in einer verkommenen Absteige mit dem bisschen, dass er tragen konnte, seinem Computer, seinem Auto. Abel rutscht ab, immer weiter, in einen Sog, der ihn immer tiefer in Wahn, Ängste und Drogen hinunterzieht. Philippe Rahmy protokolliert nicht einfach den Niedergang eines Aufsteigers. Genauso wenig geht es ihm um einen Erklärungsversuch für all jene, die sich in ihrer Verzweiflung an der Gesellschaft zu rächen versuchen. Abel kämpft um sein Glück. Letztlich will er nichts anderes als das Glück für sich, seine Frau und seine Tochter Allegra. Aber so wenig er sich von seinem Laster, seinen handlichen Jägermeiser-Ampullen, die er mit sich herumträgt, trennen könnte, so wenig ist er mit seinem Bewusstsein dort, wo er sein sollte.
Philippe Rahmy schreibt über den Kampf eines Mannes in seinem Käfig, beschreibt diesen Kampf in beklemmender Sprache, mit Bildern, die an den Film «Trainspotting» erinnern, jene Welt hinter den glänzenden Kulissen. Philippe Rahmy bebildert die Macht der Verzweiflung.

Aus der Jury zum Schweizer Literaturpreis 2017: Allegra von Philippe Rahmy ist ein frenetisches Werk, in dem die Gewalttaten unserer Zeit vor der Kulisse eines düsteren und harten Londons aufeinandertreffen. Hochfinanz, Macht, soziale Unsicherheit, verhinderte Identitäten, Radikalitäten, Terrorismus, Liebe, Trauer und Wahn. Die Hauptfigur Abel durchlebt diese Welten wie Zerreissproben. Das romanhafte Spiel gleicht einem vermeintlich ausweglosen Labyrinth und die intensiven, ungebändigten und ausdrucksstarken literarischen Bilder brennen sich dauerhaft ins Gedächtnis der Lesenden ein.

Philippe Rahmy ist 1965 in Genf geboren. Seine Mutter war Deutsche, sein Vater Franzose und Ägypter. Beeinträchtigt durch die Glasknochenkrankheit wurde das Schreiben zu seinem wichtigen Rückgrat. 2005 veröffentlichte er einen ersten Gedichtband. Nach dem Reiseroman «Béton armé» (2013) wandte er sich mit «Allegra» (2016) zum ersten Mal der Form des Romans zu. 2017 – im Jahr, als er starb – erschien «Monarques» und gerade erst sein letzter Roman «Pardon pour l’Amérique». Alle drei Romane wurden im Verlag La Table Ronde veröffentlicht.

Yves Raeber ist Schauspieler, Regisseur und Übersetzer von Theaterstücken und Prosa. 2017 hat ihm die Fachstelle Kultur des Kantons Zürich für seine Arbeit am Roman «Ruhe sanft» einen Werkbeitrag für Literarisches Übersetzen zugesprochen.

Thomas Sandoz «Ruhe sanft», die brotsuppe

In Diskussionen darüber, was Literatur darf, soll oder muss, wird schnell diametral verschieben argumentiert. Den einen soll Literatur nicht mehr als gute Unterhaltung bieten. Andere müssen Resonanz spüren, nicht nur inhaltlich und thematisch, sondern auch im Sound der Sprache. Und wieder anderen genügt eine Literatur ohne unterlegte Mission nicht.

Thomas Sandoz› schmaler Roman will mit Sicherheit mehr als blosse Unterhaltung liefern. Im Gegenteil; Leserinnen und Lesern, die Bücher nur zur Zerstreuung brauchen, würde ich diese Buch nicht empfehlen. Es wäre schlicht zu schade dafür.
Dann schon eher der Geniesserin, dem Geniesser. Jenen, die spüren wollen, wie  Sprache hinausträgt, weit mehr als Informationsträger sein kann, sondern Medium, Instrument, das Nachhall erzeugen will.
Aber noch viel deutlicher jenen, für die Literatur auch ein Kampfmittel, eine Form der Auseinandersetzung, ein Infrage-stellen ist. Thomas Sandoz nimmt sich den «kleinen Leuten» an, jenen, denen die Stimme genommen wurde oder die sie verloren. «Ruhe sanft» ist ein Mahnmal gegen eine blank polierte Welt, die sich der Funktionalität und Rentabilität verkauft hat. In der es weder für Langsamkeit noch für Innigkeit, weder für Hingabe noch für Eigenwilligkeit Platz hat. Schon gar nicht für Schrullen.

Schon lange arbeitet er als einer der Gärtner auf dem städtischen Friedhof. Wenn Pause ist, duckt er sich weg, macht sich lieber unsichtbar oder bleibt noch lieber dort, wo er hingehört; in den Teil des Friedhofs, wo die Kinder liegen, zu den Kindergräbern, seinen Kindern. Morgens ist er der erste, abends der letzte. Die kleine Wohnung nicht weit vom Friedhof ist karg eingerichtet, mehr  Höhle als Wohnung.

Für eine eigene Familie hat es nie gereicht. Vielleicht deshalb, weil er das Trauma einer schwierigen Kindheit ein Leben lang wie einen Alp mit sich herumschleppt. Weil ihn die Bilder aus jener Zeit auch im Alter nicht loslassen. Weil er nie aus seinem Schweigen herausfand. So wie ihn die Schicksale der verstorbenen Kinder nicht loslassen, die Geschichten, die er sich zusammenreimt, die den Kindern eine Vergangenheit schenken, die erklärbar machen, warum man sie auf dem Friedhof vergessen hat. Er macht seinen Kindern Geschenke, bemüht sich viel mehr als nur um die Bepflanzung, das Kreuz, den Grabstein und den Weg dorthin. Er gibt den Kindern Namen; Primel, Forsythie, Hyazinthe, Pfingstrose oder Anemone. Er redet zu ihnen, leistet ihnen Gesellschaft, ist ihnen Behüter und Vater.

Die anderen auf dem Friedhof nehmen seine Schrullen, seine Eigenarten zur Kenntnis. Er ist längst zum Inventar geworden, einem Stück des Friedhofs. Aber auch auf dieser Ruhestätte macht Modernismus, Fortschritt und Reform keine Ausnahme. Männer mit Plänen, Klemmbrettern und Messbändern machen sich zu schaffen und er macht sich Sorgen um seine Familie, all die Kinder, die nicht nur ihr Leben verloren , aber durch sein Tun etwas von dem zurückbekommen, was dem Verschwinden droht.

Er versteht die Welt nur schwer, kann sie nicht mehr lesen. Sein Blick ist düster, alles bedroht von Niedergang und Zerstörung. Er versteht weder den Einsatz von Gift gegen Unkraut, noch das geschäftig Tun der Friedhofsleitung. Die Menschen schon gar nicht, die Jungen überhaupt nicht. Dafür umso mehr die Stimmen seiner Kinder in seinem Geviert, jenen, die man seiner Obhut übergab. Aber jetzt, wo Inspekteure und Bürohengste Sanierungen, Restaurierungen und Umfunktionierungen androhen, zwingt es ihn, einen lange gehegten Plan in die Tat umzusetzen. Er kauft ein altes Haus mit Grundstück, einen Ort, an dem er seinem Kindergarten eine neue Heimat geben wird.

Thomas Sandoz erzählt die Geschichte von jemandem, den man nicht mehr braucht, den die Gegenwart und die Zukunft erst recht vergessen hat, der einen stillen, zornigen, verbissenen Kampf austrägt gegen einen Feind, der in allem zu stecken scheint. Einen Kampf, der ihn nahe an den Rand des Abgrunds führt, der es aber in seiner Selbstvergessenheit gar nicht merkt, wie sehr die Blicke um ihn herum zu Geschossen werden.

«Ruhe sanft» gilt nicht für den Protagonisten, nur für jedes einzelne der Kinder, die dort begraben liegen.

Ein zorniges Buch, eine Innenansicht eines Verschlossenen.

Thomas Sandoz lebt im Kanton Neuenburg und hat Prosa, Essays und Monographien veröffentlicht und dafür diverse Auszeichnungen erhalten. Insbesondere 2011 den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung für «Même en terre» (Grasset). Die zuletzt erschienenen Titel sind «Les temps ébréchés» (Grasset, 2013), «Malenfance» (Grasset, 2014), «Croix de bois, croix de fer» (Grasset, 2016), «La balade des perdus» (Grasset, 2018).

Yves Raeber ist Schauspieler, Regisseur und Übersetzer von Theaterstücken und Prosa. 2017 hat ihm die Fachstelle Kultur des Kantons Zürich für seine Arbeit an «Ruhe sanft» einen Werkbeitrag für Literarisches Übersetzen zugesprochen.

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Beitragsbild © Sandra Kottonau