Lieber Bär, lieber Gallus #SchweizerBuchpreis 23/03

Lieber Bär

Nun sind die 5 Namen da. Keine DebütantInnen, keine Experimente, fünf klingende Namen, fünf ganz unterschiedliche Stoffe. Gibt es ein Buch, dass Du bereits gelesen hast? Was ist dir nach der Lektüre geblieben?

Im Gespräch mit AutorInnen wundern mich zwei Dinge. Zum einen der Umstand, dass es nicht wenige gibt, die ihrem Verlag verbieten, ihre Bücher einzusenden, weil sie nicht wollen, dass ihr Buch Teil eines „Wettbewerbs“ wird. Und zum anderen, dass es Verlage und VerlegerInnen gibt, die es schlicht versäumen, ihre Bücher, die zu einer Teilnahme berechtigt wären, bei der entsprechenden Stelle anzumelden. Ein Versäumnis, das ich ganz und gar nicht nachvollziehen kann, selbst dann nicht, wenn die Chancen auf den Preis verschwindend klein sind.

Noch zum Thema „Wettbewerb“; Auch das Wettlesen um den Bachmannpreis jedes Jahr im Sommer spaltet die Geister. Ich gebe dem Argument recht, dass man Texte nur ganz begrenzt miteinander vergleichen kann, sehr oft gar nicht. Aber man kann die Wirkung eines Textes vergleichen, wenn auch hier nichts Messbares resultieren kann und es keine wirklich objektiven Kriterien geben kann. Texte berühren, klammern sich fest, stossen mich ab, reissen mich mit, lösen etwas aus, begeistern mich, bleiben wie ein Geist über Jahre oder gar Jahrzehnte neben mir, öffnen Türen oder lassen mich den Kopf schütteln.

Liebe Grüsse
Gallus

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Lieber Gallus,

Ich habe «Sich lichtende Nebel» von Christian Haller und «Bild ohne Mädchen» von Sarah Elena Müller gelesen, beides meines Erachtens eindrückliche Texte. Alle nominierten Namen versprechen wunderbare eigenständige Literatur, da bin ich mit Dir einverstanden.
Geblieben ist mir bei «Sich lichtende Nebel», wie mit faszinierenden Genauigkeit der Sprache die Grenzen und Unschärfen unseres Erkennens und Denkens erfasst wird. Zutiefst menschliche Verhalten (Trauer und Einsamkeit) spiegelt sich in analytischem Forschen, ermöglicht, dass Neues in die Welt kommt.
In «Bild ohne Mädchen» wird ohne Wut und Anklage in beeindruckend eigenständiger Sprache ein Kindsmissbrauch erzählt. Das in berührenden Bildern geschilderte Grauen und das Versagen der Erwachsenen wird erst im Verlauf in vollem Ausmass ersichtlich.
Beides sehr kluge, gelungene Werke!

Zum Thema Wettbewerb: Das, was Du betreff AutorInnen und Verlage geschrieben hast, war mir nicht so bekannt, wundert mich aber auch. Ebenso ist für mich die Wirkung eines Textes ausschlaggebend. Diese ist natürlich abhängig von der Sprache und vom Inhalt, auch von der Aktualität. Allgemein wirkt sich auch aus, wo und wie ich mich als Leser befinde (Jugend, Alter, Trauer, Neugier, Beruf, Offenheit ect)
Die diesjährige Shortlist ist deutlich ausgewogener als 2022, aber nicht weniger spannend.

Gerade habe ich die ersten zwei Teile (das erste Buch der Trilogie) der Heptalogie von Jon Fosse «Der andere Name» gelesen, ein besonderer Lesegenuss von biblischer Gewalt und Intensität, sehr eigenwillig, hypnotisierend. 475 Seiten ohne Punkt! Nun bin ich bereit für schweizer Literatur.

Herzliche Grüsse

Bär

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Ich lernte den Bären am Internationalen Literaturfestival in Leukerbad kennen, an der literarischen Wanderung, die jeweils als Einstimmung organisiert wird. So trifft man sich Jahr für Jahr. Und weil man zusammen geht, entstehen Gespräche, die einen über Bücher und ihre ErschafferInnen, die anderen über Gott und die Welt – wobei in Büchern doch über nichts anderes geschrieben wird als über Gott und die Welt.