Valery Tscheplanowa «Das Pferd im Brunnen», Rowohlt

Man darf kritisch sein, wenn Schauspielerinnen und Schauspieler Romane schreiben, kann doch ein bereits bekannter Name auf einem Buchcover hilfreich sein, das Buch anzupreisen. Aber bei Valery Tscheplanova muss jeder Vorbehalt über Bord geworfen werden. Ihr Romandebüt „Das Pferd im Brunnen“ ist ein Sprachgeschenk.

Als Valery Tscheplanova 1980 in der sowjetischen Stadt Kasan, 700 Kilometer östlich von Moskau, zur Welt kam, war das zu einer anderen Zeit. Man wähnte sich noch immer in einer langen sowjet-kommunistischen Tradition, war als Individuum Teil eines Kollektivs, eingeteilt, vorbestimmt und stark reglemtiert. Valery Tscheplanova erzählt von den Menschen in dieser Zeit, von den Veränderungen, die über sie und ihre Familie mit dem Zusammenbruch der alten Ordnung hereinbrechen. Valery Tscheplanova erzählt von Walja, einer jungen Frau, die nach Kasan zurückkehrt, um herauszufinden, wer sie ist. Von starken Frauen, Waljas Vorfahren, ihrer Ur- und Grossmutter, ihrer Mutter, den Männern, die meistens nicht da waren, wenn frau sie gebraucht hätten, von einem Leben nicht einmal hundert Jahre von der Gegenwart entfernt, das aus heutiger Sicht beinahe mittelalterlich erscheint, schlicht und in vieler Hinsicht ergeben.

Valery Tscheplanowa «Dąs Pferd im Brunnen», Rowohlt, 2023, 192 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-7371-0184-4

Schlüsselpositionen in dieser farbigen Sprachlandschaft durch die Zeit nehmen Waljas Grossmutter Nina und deren Mutter Tanja ein. Bei Tanja erlebte Walja eine traumschöne Kindheit, eingebetet in die Zuwendung jener Frau und ihre Geschichten, wie jene vom Pferd im Brunnen hinter dem Haus, einem Ort, den Walja in ihrem Spiel immer wieder aufsuchte, oben auf einem Hügel, wo ein paar schwere, modrige Bretter etwas zu verbergen schienen. Eben jenes Pferd. Walja wird von ihrer Urgrossmutter mitgenommen, auf den Spaziergang durch das Dorf, zu all den anderen, meist alleine lebenden Frauen, zu Besuchen, bei denen die Urgrossmutter jene Frauen hiess, sich bäuchlings auf den Boden zu legen und die kleine Walja auf ihre Rücken steigen liess. Für die Frauen eine willkommene Massage der besonderen Art, für die kleine Walja eine erste Erfahrung dessen, wie ungleich es sein kann, worauf man sich bewegt.
Die Urgrossmutter, eine eigenwillige Frau, die Walja heimlich taufen lässt, die ihr Leben lang die eigenen Haare sammelt und damit ihr Totenkissen füllt, so wie sie in einer Truhe Totenhemd und Totenschuhe bereithält.

Ganz anders ihre Grossmutter Nina, eine kleine wirblige Frau, nie zuhause, dauernd auf Achse, laut und verbissen. Eine Frau, die sich ihre Wahrheit selbst zurechtlegt, der die Lüge zu einem Spiel wurde. Sie log sich ihre ungenutzten Möglichkeiten weg, ihre verpassten und erträumten Auswege herbei… sodass sie begann, ihre eigenen Geschichten zu glauben. Eine Frau, der das Weglaufen zum Programm wurde, von der Walja erst spät erfahren sollte, was die Gründe für diese permanente Unruhe waren. Als Nina glaubte, ihre Mutter würde es alleine nicht mehr schaffen, nahm sie sie mit in die Stadt, nach Kasan, um sie schlussendlich in einem kleinen Zimmer einzusperren. Nina, ein Kind des grossen „Vaterländischen Krieges“ musste im Lazarett Böden schrubben und für Verwundete singen. Später selbst Krankenschwester und Mutter, eingespannt in die Pflichen einer berufstätigen Mutter, Teil einer uniformierten Gesellschaft, wurde ihr Ausbrechen immer mehr zur Überlebensstrategie. Eine der vielen Erkenntnisse Waljas bei ihren späten Besuchen an den Orten ihrer Herkunft.

„Das Pferd im Brunnen“ ist eine Sammlung von Bildern, Szenen, die mit grosser Liebe und Empathie nacherzählen, was längst nicht mehr ist. Valery Tscheplanova scheint ganz im Bewusstsein dessen dieses Buch geschrieben zu haben, das alles von innen heraus erzählt werden muss, einem Kern, der sich mit der Zeit verschliesst oder verklärt. Ihre erzählten Bilder sind von grosser Intensität und im krassen Widerspruch dazu, wie Bilder aus jenen Zeiten sonst transportiert werden. Valery Tscheplanova erzählt vom Kleinen, durch das sich das Grosse spiegelt, bis in die Gegenwart, bis in jene Zeiten, in denen Putin der Welt eine neue Ordnung aufzwingen will.
Ich bin schwer beeindruckt von diesem vielversprechenden Romandebüt. Von einer Sprache, die bezaubert, von einem Erzählen, das betört!

Valery Tscheplanowa ist als Schauspielerin an den wichtigsten deutschen Bühnen zu sehen, sie tritt in Kino- und Fernsehfilmen auf und wurde als Buhlschaft im «Jedermann» der Salzburger Festspiele 2019 gefeiert. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kunstpreis Berlin und als Schauspielerin des Jahres 2017. Geboren 1980 im sowjetischen Kasan, kam sie mit acht Jahren nach Deutschland. «Das Pferd im Brunnen» ist ihr erster Roman. Valery Tscheplanowa lebt in Berlin.

Beitragsbild © Just Loomis

J. O. Morgan «Der Apparat», Rowohlt

Mit jeder Erfindung, jeder Erneuerung geht man davon aus, dass es zum Wohle der Menschheit, für den Fortschritt, zumindest zur Erleichterung des Lebens sein wird. Und selbstverständlich springt ein Grossteil der Menschheit dieser gebotenen Erleichterung auch euphorisch auf; Hauptsache neu, Hauptsache modern. Dass sich eine «bahnbrechende» Erfindung aber auch zum Gegenteil wenden kann, davon erzählt der Roman «Der Apparat» vom Schotten J. O. Morgan.

Sie erinnern sich an die Einführung des ersten Smartphones von Apple? Heute ein Apparat, der nicht mehr aus der Gesellschaft wegzudenken ist. Zum Wohle der Menschheit? Ich weiss nicht. Ob die Strahlungen in den Hosentaschen die Fruchtbarkeit der menschlichen Spezies fördern? Ob der kleine Bildschirm, das dauernde Glotzen in die Dinger die Kommunikation wirklich erleichtert? Was passiert, wenn man dereinst die Dinger nicht mehr an einer Steckdose aufladen kann?
Als das Auto die Strassen eroberte, begann das Zeitalter der scheinbar unbegrenzten Mobilität. Ein Gefährt, das einem zu jeder Zeit an jeden vorstellbaren Ort bringt. Heute kollabieren Städte. Jeder und jede, die sich ein Elektroauto ersteht, fährt mit dem irrigen Glauben, damit etwas für die Umwelt zu tun. Dabei ist jeder bisher gefundene Kraftstoff für Autos endlich. Nur tun wir so, als wären Silizium oder entsprechende Metalle unendlich verfügbar und der Abbau dieser Stoffe für die Umwelt problemlos.

J. O. Morgan «Der Apparat», Rowohlt, 2023, übersetzt von Jan Schönherr, 240 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-498-00302-9

J. O. Morgans Roman spielt in nicht weiter Zukunft. Man erfindet einen Apparat, mit dem man zu Beginn Dinge, später Lebewesen, Menschen, schlussendlich alles zusammen von einem Ort zu einem andern «schicken» kann, anfangs durch ein dickes Kabel, später durch den Äther. Man erinnere sich an Mr. Spock und Captain Kirk, die sich in der TV-Serie «Raumschiff Enterprise» mittels Energie durch den Raum beamen konnten. Eine durchaus verlockende Vorstellung. Keine Vehikel mehr, die Räume verstopfen, keine Einschränkungen mehr in Sachen Distanz.
Zuerst stellt man Menschen kleinere kühlschrankartige Geräte in die Häuser, später werden Menschen von Apparat zu Apparat geschickt, zuerst zu Testzwecken, dann überall. Irgendwann verschwindet die einstige Transportinfrastruktur ganz, weil sie nicht mehr gebraucht wird. Das Leben auf dem Planeten verändert sich durchschlagend. Alles, was sich bewegt, selbst die Beschaffung von Lebensmittel, ist auf diese Apparate angewiesen. Und kaum jemand zweifelt daran, dass es nicht irgendwann und irgendwo Pannen gibt. Was passiert, wenn sich nicht alle Atome und Moleküle in der richtigen Zusammensetzung formieren? Was passiert, wenn Hacker sich an den Apparaten und Verbindungen zu schaffen machen? Was passiert, wenn das System zusammenbricht? Welchen Mächten setzt man sich aus, wenn man sich jedem Fortschritt blindlings verschreibt?

Was sich wie eine Dystopie, ein Zukunftsroman liest, hat längst begonnen. Mit Sicherheit auch ein Grund, warum immer mehr Menschen in ihrem Unwohlsein alle erdenklichen Theorien zusammenbauen, um sich den Zustand der Welt zu erklären. Wir bedienen uns Hilfsmittel, die ebenso undurchschaubar wie unverzichtbar geworden sind. Solange alles reibungslos zu funktionieren scheint, stellen wir uns keinen unbequemen Fragen, obwohl ein Grossteil der Menschen ahnt, dass der Fortschritt wohl nicht immer ein Schritt in eine bessere Welt ist. Um in einen endlosen Abgrund zu stürzen, braucht es auch einen Schritt fort.

«Der Apparat» ist aber nicht nur Schreckensszenario. J. O. Morgan schildert Vorgänge, Geschehnisse und Auswirkungen aus den verschiedensten Perspektiven, unabhängig von Zeit und Ort. Er zwingt mich in eine beklemmende Ausweglosigkeit und unweigerlich in Selbstreflexion darüber, wie weit ich mich schon knebeln und fesseln lasse von Apparaten aller Art. In klarer, bildhafter Sprache erzeugt er eine Stimmung, die mir nach und nach den Atem nimmt.

J. O. Morgan, geboren 1978, wurde für seine Lyrik mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Costa Poetry Award. «Der Apparat» ist sein zweiter Roman, der für den Orwell Prize for Political Fiction nominiert ist. J. O. Morgan lebt in Edinburgh, Schottland.

Jan Schönherr, 1979  geboren, absolvierte nach dem Studium der Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaft und Germanistik und einem Auslandsjahr an der Université de Poitiers das Aufbaustudium »Literarisches Übersetzen aus dem Englischen« in München. Seit 2009 ist Schönherr als literarischer Übersetzer aus dem Englischen, Französischen und Italienischen tätig. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Bayerischen Kunstförderpreis und dem Förderpreis der Kunststiftung NRW 2019.

Beitragsbild © Jack Rouncey

Vom Kleinod bis zum Epos – Das Sprachsalz Literaturfestival in Hall im Tirol

Seit mehr als zwei Jahrzehnten organisiert ein Team „unbändig Lesehungriger“ im beschaulichen Hall ein Literaturfestival mit internationaler Ausstrahlung. Für Literaturbegeisterte deshalb ein Abenteuer, weil Hall zu einem Wortmekka wird mit Namen, denen man sonst nur schwer begegnen kann.

Man trifft sich auf der Hotelterrasse oder in der Lobby, mit Sicherheit in einem der Säle während einer Lesung oder auch mal im Lift, oder bei einem Spaziergang durch das mittelalterliche Städtchen: Jan Carson aus Nordirland mit ihrem Roman „Firestarter“ über ein fiebrig, explosives Belfast, in dem die Mauern zwischen „christlicher“ Religionen nicht kleiner geworden sind und Fussball zum Stellvertreterkrieg wird, Dinçer Güçyeter mit seinen Gedichten und dem Buch „Unser Deutschlandmärchen“, mit dem er die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse überzeugte, die Österreicherin Waltraud Haas mit ihren lyrischen Miniaturen, die mein Innerstes mitschwingen liessen, Elisabeth R. Hager mit witzig Tiefgründigem aus ihrer Tiroler Herkunft, Wlada Kolosowa, die mit ihrem Debüt „Fliegende Hunde“ das Hungern für den Livestyle demjenigen in Kriegszeiten schmerzvoll gegenüberstellt, Judith Kuckart, die seit mehr als dreissig und mehr als einem Dutzend Bücher ihre LeserInnen stets zu überraschen weiss, Kerstin Preiwuß, die als „Dichterin bis auf die Knochen“ dem Wahrhaften nachspürt oder dem grossen amerikanischen Romancier Stewart O’Nan, der es wie kaum ein zweier versteht, die Enge us-amerikanischer Unfreiheiten zu beschreiben – und anderen mehr.

Waltraud Haas, Sprachsalz © Yves Noir

Zweien aus der Sprachsalz Gästeliste möchte ich ganz speziell nachspüren.
Es sind nicht immer die grossen Namen, die mich in Schwingung versetzen, denen ich mit Ungeduld entgegenfiebere, weil sie mich in ihren Büchern schon seit Jahrzehnten begleiten. Manchmal leitet mich die pure Neugier in eine der Veranstaltungen. Und wenn ich wie bei Waltraud Haas das Glück habe, in einem Zustand der Verzückung aufzugehen, dann hat sich die lange Reise ins Tirol bereits mehr als gelohnt.

im siebzigsten jahr
führe ich mich
innen noch jung
hinters licht

Waltraud Haas «pfeilschnell wie Kolibris», Klever, 2023, 170 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-903110-96-0

Die kleine Frau mit dem knallig roten Hut hat es faustdick hinter den Ohren. Mit messerscharfem Sprachwitz und unbändiger Lust und Freude an ganz locker scheinender Sprachkunst, die mit treffsicherem Humor den aufrechten Gang zum Stolpern bringt, setzt mir die Dichterin Waltraud Haas in ihrem neusten Band „pfeilschnell wie kolibris“ einen Spiegel vor, der sie selbst stets miteinschliesst.

liebst du mich?
ich werde dich immer lieben
das ist gut
sagt sie und geht

Die meist sehr knappen, verknappten Gedichte Waltraud Haas‘ sind, obwohl sie sich der grossen Themen wie Liebe, Schmerz und Tod annimmt, wohl melancholisch aber nie sentimental oder wehleidig. Der Biss in ihren Texten schnappt, ein Luftzug reisst, der Schlag in die Magengrube sitzt. „pfeilschnell wie kolibris“ ist das perfekte Buch sowohl für den Nachttisch (Da sammelt sich Stoff für Träume), das Wartezimmer beim Zahnarzt (nicht schmerzstillend, aber doch narkotisierend) oder für Fahrten in übervollen Zügen (Ihre Gedichte besiegen das Geplapper).

Stewart O’Nan am Sprachsalz-Galaabend © Denis Moergenthaler

Stewart O‘Nans Bücher begleiten mich schon fast drei Jahrzehnte. Einer der Namen, die mich zwingen, stets auf ihrer Spur zu bleiben, die mit ihren Romanen Suchtpotenzial erzeugen und jenen Mythos „American Dream“ mit spitzer Feder demontieren. Stewart O‘Nan beschreibt nicht die auf Hochglanz polierte Gegenwart einer selbstzufriedenen Hight Society, sondern jene Menschen, die als untere Mittelschicht oder Unterschicht von den Privilegien einer Upperclass nicht einmal mehr träumen. Sie sind liegen geblieben, abgehängt und aufgegeben. Sie wohnen in rostigen Pickups, undichten Trailern oder nach Speisefett riechenden Appartements, ernähren sich von Pizzas oder Tiefkühlkost und verlieren schon als Teenager den Traum vom Glück.

Steward O’Nan «Ocean State», Rowohlt, 2022, aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel, 256 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-498-00268-8

In seinem neusten Roman „Ocean State“ erzählt O‘Nan von einer Mutter und ihren zwei Töchtern, von Carol, die sich schon längst vom Vater ihrer beiden Töchter trennte und sich von Mann zu Mann hangelt, ihre Töchter sich selbst überlässt und ihr eigenes Leben immer mehr im Schlick ihres Unvermögens versinken sieht. Von der neunjährigen Marie, die in Selbstzweifeln und Einsamkeit von der Mutter von Wohnort zu Wohnort geschleppt wird. Und von der älteren Tochter Angel, einem tief gefallenen Engel, die mit einer schrecklichen Tat alles mit in den Abgrund zu reissen droht.

Stewart O‘Nans Romane schmerzen, weil sie schonungslos wiedergeben, was in der us-amerikanischen Gosse liegen bleibt. Und wenn einem bewusst wird, wie leicht das, was im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wie Schimmel wuchert, bis übers grosse Wasser greift, kann die Lektüre seiner Romane durchaus Bauchschmerzen erzeugen. Aber Literatur soll genau das; nichts verbergen!

Sprachsalz ins Leben!

Waltraud Haas, geboren 1951 in Hainburg/ Donau. Lebt seit 1970 in Wien. Studium der Grafik bzw. Germanistik und Philosophie. Seit 1984 freie Schriftstellerin. Publikationen in Zeitschriften („kolik“ u.a.), Anthologien und im Rundfunk.

Webseite der Autorin 

Stewart O′Nan wurde 1961 in Pittsburgh/Pennsylvania geboren und wuchs in Boston auf. Bevor er Schriftsteller wurde, arbeitete er als Flugzeugingenieur und studierte an der Cornell University Literaturwissenschaft. Für seinen Erstlingsroman «Engel im Schnee» erhielt er 1993 den William-Faulkner-Preis. Stewart O′Nan lebt in Pittsburgh. 

Webseite des Autors

Beitragsbild © Denis Moergenthaler, Sprachsalz

„Mit dem Erbe ging es mir wie allen; eines Tages muss sich jeder darum kümmern.“ Lukas Bärfuss im Literaturhaus Thurgau

Wir haben sie alle, die Kisten, Schachteln, Keller, Boxen, Tresore, in denen wir wegsperren, womit wir uns nicht konfrontieren wollen. Vielleicht ist das Ausschlagen einer Erbschaft bis zu einem gewissen Grad doch nichts anderes, als sich der Vergangenheit nicht stellen zu wollen – oder zu können.

«Meinte nicht Robert Walser, jeder Weg sei ein Heimweg? – So fand ich mich auch in Gottlieben zu Hause, am Rhein, mit dem Blick auf das Ried, wo ich vor vielen Jahren eine Liebe hatte, und an jenem warmen Februarabend auf eine Gemeinschaft von Lesenden traf, im Bodmanhaus, am Ende der Holztreppe. Danke dafür!» Lukas Bärfuss

Das kleine, schmucke Literaturhaus am Seerhein war besetzt bis auf den letzten Platz. Und es war höchste Zeit, dass der Büchnerpreisträger Lukas Bärfuss endlich Gast im Literaturhaus Thurgau wurde. Von Lukas Bärfuss, Romancier, Theaterautor, Regisseur, Essayist und „Kommentator“, Träger der angesehensten Preise und seit 2015 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung las ich als Allererstes „Hundert Tage“, ein Buch, das bis heute nachhallt. Ein Buch, das sich in meinem Lese- und Bücherbewusstsein eingegraben hat, das mich mehr als neugierig machte auf einen Autor, der sich nicht scheut, zu Themen der Zeit eine dezidierte Meinung zu äussern, selbst dann, wenn er damit aneckt. Seine Vielfältigkeit beweist Lukas Bärfuss mit jedem seiner Bücher aufs Neue. Er wird es auch mit seinem allerneusten, dem Roman „Die Krume Brot“ tun, der diesen Frühling bei Rowohlt erscheinen wird, und einiges an politischer und historischer Schärfe verspricht.

Lukas Bärfuss wurde fünfzig. Vielleicht einer der Gründe für den Autor und Vater, endlich jene eine DelMonte-Bananenschachtel, mit der ganze Generationen in der Schweiz siedelten, die während Jahrzehnten in den verschiedensten Zwischenräumen seines Daseins lagerte, nun endlich zu öffnen. Eine Art Büchse der Pandora. Eine Tür zur Vergangenheit, die sich nicht verschliessen lässt, durch die immer wieder der Wind pfeift.

Ganz zu Beginn seines Essays «Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben» steht der Satz: „Mit dem Erbe ging es mir wie allen; eines Tages muss sich jeder darum kümmern.“ Eigentlich geht es in seinem Buch um jede Form der Erbschaft, denn alles worin, worauf und wohin wir uns bewegen, ist Erbschaft. Ebenso wie all das, was wir zurücklassen, bis zum Gang aufs Klo. Vor allem der Müll sei das Erbe ohne Erben. Wir hinterlassen zwar, aber es ist uns «scheissegal». Eine Tatsache, die sich schon in der Gegenwart katastrophal auswirkt, mit der wir uns in der Zukunft radikal auseinandersetzen müssen, wenn wir weiterhin Gast auf diesem klein gewordenen Planeten sein wollen.

Lukas Bärfuss erzählt von seinem Vater, den man in seiner Familie als „Schwarzes Schaf“ bezeichnete. Selbst ein solcher Titel ist Erbe, den jede*r ist bis zu einem gewissen Grad Opfer seiner Zeit, Opfer von Konventionen und Regeln, Opfer seiner Herkunft, Opfer seiner selbst. Auch das ist Erbe, das man nicht ausschlagen kann. Lukas Bärfuss schreibt vom «Herkunftswahnsinn». Betrachte man nur die Tatsache, dass Reichtum fast immer bei den Reichen bleibt und sich die Armut wie ein Fluch fortzusetzen scheint. Wie gerne berufen wir uns auf unsere Herkunft, sei sie nun ruhmreich, siegreich oder kampferprobt. Selbst Lukas Bärfuss bewegt sich in seiner Herkunftsblase, einer Blase, der man nicht entfliehen kann.

Weder die Kinder haben ihre Eltern ausgesucht, noch die Eltern ihre Kinder, auch wenn die Zukunft Änderungen verspricht. Zu wie viel Gegenliebe der Nachkommenschaft an ihre Eltern ist man verpflichtet?

Bärfuss› Buch hat auch einen humoristischen Zug: „Deine Welt ist Dir bekannt, und falls du etwas finden solltest, dessen Ursprung du nicht kennst, dann rufst du die Polizei oder die Feuerwehr oder schreibst ein Buch über unbekannte Flugobjekte oder machst auch alles zusammen.“
In Sachen Herkunft machte Darwin einiges erklärbar. Ganz im Gegensatz zur Kirche, die über Jahrhunderte sämtliches Wissen verklärte und instrumentalisierte. Aber so wie wir noch immer in christlich zentrierter Gedankenwelt verhaftet sind, so sehr kettet uns die Darwin’sche Vererbungslehre in Verhaltens- und Gedankenmuster.

Rezension von «Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Lukas Bärfuss «Vaters Kiste», Rowohlt

Was von Lukas Bärfuss Vater geblieben ist, hatte in einer Del-Monte-Bananenschachtel Platz und fand als Hinterlassenschaft ihre vorläufige Ruhe in den dunklen Ecken der Wohnungen seines Sohnes. Bis es nicht mehr auszuhalten war und der Sohn den Deckel lüften musste. Lukas Bärfuss nimmt mich mit und zeigt, dass Schuldscheine der Vorfahren noch lange nachwirken.

Dass wir uns durchaus von anderen Lebewesen unterscheiden, lässt sich nicht abstreiten, haben wir es doch immerhin geschafft, uns parasitär über den ganzen Globus auszubreiten, wie kein anderes Lebewesen. Aus christlicher Sicht, um uns die Erde untertan zu machen. Was wir bravurös geschafft haben, ohne uns im Klaren darüber zu werden, was es heisst, diesen Globus einem Zweckdenken zu unterwerfen. Ein Unterschied zu allen anderen Lebewesen ist unsere Fähigkeit zu denken. Mag sein, dass diese Fähigkeit das Zeug hat, uns in höhere Sphären zu bringen. Aber ganz offensichtlich bewegen wir uns in unserem Denken in derart vorgespurten Bahnen, ohne das wir uns darüber im Klaren wären, dass von Sphären keine Rede sein kann. Statt dessen graben wir uns immer tiefer hinein in jene Denkmuster, die wir uns in den vergangenen Jahrhunderten angeeignet haben.

Lukas Bärfuss öffnet eine Kiste. Jene mit der Hinterlassenschaft seines Vaters, lange mitgeschleppt, nie geöffnet, als wär es jene der Pandora, eine Bananenkiste voller Papiere, Zeugnisse eines Lebens, das sich nie dem Chaos entwinden konnte. Zeugnisse eines zerrissenen Lebens, eines lebenslangen Scheiterns. Da die meisten Menschen irgendwann an den Punkt kommen, an dem das Bedürfnis nach Ordnung gekoppelt mit den Fragen nach dem Woher und Wohin zum Handeln zwingt, kann man sich dem Ordnen wollen nicht mehr entziehen. Lukas Bärfuss öffnet diese Kiste, diese Schachtel, diese Büchse. Wahrscheinlich auch darum, weil er, nun selbst Vater, sich fragen musste, ob er mit dem damaligen Ausschlagen seines Erbes nur jenen Teil ausschlagen konnte, der sich in eine Bananenkiste wegsperren liess.
Und er öffnet die Kiste mit der Hinterlassenschaft einer Weltanschauung, die uns längst jener Freiheit beraubt, die wir so grossartig feiern, während die Welt im Müll versinkt, in den menschlichen Hinterlassenschaften, im Erbe einer ungebremsten Konsumgesellschaft.

Lukas Bärfuss «Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben», Rowohlt, 2022, 96 Seiten, CHF 24.90, ISBN 978-3-498-00341-8

Wir erben dauernd. Alles ist Erbe. Wenn ich staubsauge, entsorge ich mein Erbe. Wenn ich spaziere, bewege ich mich auf dem permanent anfallenden Erbe meiner Umgebung. Wenn ich ein Buch lese, ist das nicht anderes als die Erbschaft eines anderen, einer Schriftstellerin, eines Dichters. Darwin hat uns gelehrt, dass wir in einer langen Abfolge von Erbschaft stehen, ein genetischer Code nichts anderes als ein Erbe ist, eines, dass wir nie und nimmer ausschlagen können, dem wir unausweichlich ausgesetzt sind. Darwins Erbe ist, dass wir uns permanent in dieser Abfolge gefangen sehen, bis hinein in gesellschaftliche Phänomene, bei denen Sozialhilfebezügerïnnen wieder solche erschaffen und Erfolgreiche und Reiche ihr Erbe an die nächste Generation weitergeben. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Lukas Bärfuss Vater war kein Vater, den man sich wünscht; kaum vorhanden, meist vor sich selbst und dem Gesetz auf der Flucht. Auch die Mutter war keine, die mit liebender und geduldiger Hand den Knaben Lukas an ihre Seite genommen hätte. Der junge Lukas Bärfuss war früh sich selbst überlassen, schien zu Beginn in die Fussstapfen seines Vater zu steigen, war als Jugendlicher obdachlos, fing sich aber, fand Arbeit in einer Buchhandlung und begann früh zu schreiben. Mag sein, dass er das Bild des Aufsteigers, von dem, der aus der Gosse kam, zuweilen etwas strapaziert, auch wenn unklar ist, wie sehr ihn der Kulturbetrieb selbst in diese Rolle drängte.

Lukas Bärfuss denkt. In seinem Essay „Vaters Kiste“ geht es durchaus um die Frage, was und wie weit man von seinen Eltern erbt. Ob man ausschlagen kann oder es eigentlich nur die Frage ist, wie man mit diesem Erbe umgeht. Lukas Bärfuss sieht das Erben aber viel umfassender. Auch unser Denken ist in einer Abfolge von Erbschaften unterworfen. Ist es tatsächlich Naturgesetz, dass wir uns eigentlich unfrei in Erbfolgen ketten lassen, sei es in unserem Denken oder in unserem Tun und Handeln?

Die Veranstaltung im Literaturhaus Thurgau ist AUSVERKAUFT!

Lukas Bärfuss leichtfüssiger Essay zwingt mich zur Reflexion. Und das ist gut so, denn es läge in meiner Verantwortung, mich mehr um meine Hinterlassenschaften zu kümmern. Nicht nur, was an Hinterlassenschaften in meiner Wohnung oder meinen Konten nach meinem Ableben liegenbleibt, sondern was von mir überall zurückgelassen wird, scheinbar entsorgt und beseitigt.

Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun (Schweiz), ist Dramatiker und Romancier, Essayist und Dramaturg. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in zwanzig Sprachen übersetzt. 2003 wurde er für «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» als bester Nachwuchsdramatiker ausgezeichnet und bekam 2005 den Mülheimer Dramatikerpreis für «Der Bus». Mit «Hagard» stand er 2017 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse. 2019 wurde Lukas Bärfuss mit dem Georg- Büchner-Preis ausgezeichnet. Zuletzt wurden 2018 «Der Elefantengeist» am Nationaltheater Mannheim, 2020 «Julien – Rot und Schwarz» am Theater Basel und 2021 «Luther» bei den Nibelungenfestspielen Worms uraufgeführt. 2019 erschien «Malinois. Erzählungen», 2021 der Essayband «Die Krone der Schöpfung». Lukas Bärfuss lebt in Zürich.

Webseite des Autors

Illustration © leafrei.com

 

Mareike Fallwickl «Die Wut, die bleibt», Rowohlt

Man könnte auf den Roman „Die Wut, die bleibt“ mit einem Aufkleber „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie BuchhänderInnen oder RezensentInnen“ warnen. Drei Frauen; eine, die sich in die Tiefe stürzt, eine, die sich aufgibt und eine, die die Faust ballt. Mareike Fallwickls neuer Roman strotzt!

Meist muss ich mich für eine Besprechung, eine Rezension eines Buches gleich nach der Lektüre an die Tasten setzen, damit meine Eindrücke nicht durch neue Leseeindrücke verwischt werden. Bei Mareike Fallwickls neuem Roman „Die Wut, die bleibt“ fiel mir das schwer, weil mir die Autorin mit ihrem Roman einen ordentlichen Schlag versetzte. Nicht nur mit der Einstiegsszene, die auch nach fast 400 Seiten Lektüre nicht verrauchte, sondern mit der Thematik, die unter allen Szenen und Erzählsträngen des Buches liegt: Emanzipation.

Zum einen ist da der noch lange nicht zu Ende ausgefochtene Kampf um gleiche Rechte, ebenbürtige Chancen und eine Gesellschaft, die noch immer nicht alles daran setzt, dass Familienarbeit nicht automatisch zu Ungunsten der Mütter verteilt wird. Zum andern sind es die Zusammenhänge einer noch immer männlich dominierten Sicht auf die Dinge, dass man Weiblichkeit automatisch mit Provokation gleichsetzt und junge Männer weit davon weg sind, ihre Aggressionen, Hormone und Dominanzansprüche in den Griff zu bekommen. Beispiele dafür gibt es in der Politik, in der sogenannte Staatsmänner ihr Machtgehabe auf dem Rücken von Millionen austragen oder in Diskussionen um Genderfragen, wo Aggressionen und Argumente aufkochen, die beweisen, wie unsensibel man(n) noch immer ist, wenn es darum geht Fehler, Schwächen und Missstände einzugestehen.

Mareike Fallwickl «Die Wut, die bleibt», Rowoldt, 2022, 384 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00296-1

Lockdown. Zu Hunderttausenden sind Mütter gezwungen, ihre Kinder zuhause zu lassen, ihnen gar das Spielen auf dem Spielplatz zu verweigern, während die einen Väter Schlafzimmertüren zusperren mit dem Argument, sie hätten zu arbeiten und andere das Weite suchen als Finanzierer der Familie.
Helene sitzt mit ihrer Familie beim Abendessen. „Haben wir kein Salz?“ Nicht einmal eine Bitte. Helene steht auf, geht die drei Schritte bis zur Balkontür und stürzt sich in den Abgrund. Johannes, ihr Mann, Lola, Helenes älteste Tochter und die Kleinen Maxi und Lucius bleiben zurück, geschockt, traumatisiert und aus sämtlichen Selbstverständlichkeiten gerissen.

Weil Helenes Freundin Sarah vom schlechten Gewissen und der Sorge um die drei Kinder getrieben wird, nimmt sie sich ihrer an und verbringt die meiste Zeit an der Seite der Kinder, kocht, putzt, wäscht, streicht Pausenbrote, bringt die Kinder ins Bett, wickelt und tröstet. Sarah und Helene waren Freundinnen seit Kindertagen. Aber im Gegensatz zu Sarah, die sich eine eigenständige Existenz aufbauen konnte, erfolgreiche Krimiautorin wurde, ein Haus kaufte und den Wunsch nach einer eigenen Familie mit zunehmender Ernüchterung schwinden sah, musste Helene ihr Studium schwanger aufgeben, heiratete Johannes und tauchte mit zwei weiteren Kindern in scheinbares Familienglück. Und Johannes, der Witwer? Er nimmt hin, was ist, lebt sein Leben weiter wie in Trance. Vergisst, dass da jemand in der Wohnung hilft, ohne die die Familie zerfallen würde. Akzeptiert mit aller Selbstverständlichkeit, dass sich eine Frau hingibt für eine Frau, die sich hingegeben hat. Und während die Tochter Lola aus der Trauer erwacht, ihre Stimme genauso findet, wie ihre Kraft gegen jegliche Unterdrückung zu rebellieren, selbst im Rudel und hinter schwarzen Masken, wird aus dem aufgeladenen Nebeneinander zwischen Sarah und Helenes Tochter Lola eine Allianz.

Mareike Fallwickl zeichnet starke Frauenfiguren, auch wenn Helene ihren Kampf verloren hat. Johannes der Wittwer und Leon, Sarahs Lebenspartner, der sich mit aller dazugehörigen Selbstverständlichkeit in Sarahs Haus eingenistet hat, sind Prototypen jener Sorte Mann, die sich hinter scheinbaren Zwängen verstecken, die erst erwachen, wenn man sie schüttelt und prügelt. Mag sein, dass man als Mann bei der Lektüre stutzt, dass die Lektüre schmerzt, weil Selbsterkenntnis mitmischt. „Die Wut, die bleibt“ ist nicht nur in seinem Titel kämpferisch. Alles an diesem Roman ist ausgeführt bis zur letzten Konsequenz und macht mit der Keule bewusst, dass unsere Gesellschaft noch lange nicht ist, wo sie sein sollte.

„Die Wut, die bleibt“ ist tatsächlich ein wütendes Buch. Ein Roman, der mir in die Magengrube schlägt. Und doch ein Buch, vor dem ich mich tief verneige!

Mareike Fallwickl, 1983 in Hallein bei Salzburg geboren, arbeitet als freie Autorin und lebt mit ihrer Familie im Salzburger Land. 2018 erschien ihr literarisches Debüt «Dunkelgrün fast schwarz» in der Frankfurter Verlagsanstalt, das für den Österreichischen Buchpreis sowie für das Lieblingsbuch der Unabhängigen nominiert wurde. 2019 folgte der Roman «Das Licht ist hier viel heller«, dessen Filmrechte optioniert wurden. Sie setzt sich auf diversen Bühnen sowie Social-Media-Kanälen für Literaturvermittlung ein, mit Fokus auf weiblichen Erzählstimmen.

Beitragsbild © Gyöngyi Tasi

Sommerfest im Literaturhaus Thurgau

«Der Wod» mit Silvia Tschui & Philipp Schaufelberger und «Textkiosk» mit Laura Vogt & Karsten Redmann

Frédéric Zwicker, Karl Rühmann, Urs Faes, Peter Stamm, Usama Al Shahmani, Michael Hugentobler, Annette Hug, Stefan Keller, Jochen Kelter, Dragica Rajčić Holzner, Annina Haab, Zsuzsanna Gahse, Ivna Zic, Lubna Abou Kheir, Michael Fehr, Thomas Kunst, Christoph Luchsinger, Christine Zureich, Christian Uetz, Charles Linsmayer, Silvia Tschui, Klaus Merz, Isabella Krainer, Lea Frei, Marianne Künzle, Sasha Filipenko, Nora Bossong, Peter Weibel, Rudolf Bussmann, Simone Lappert, Andreas Bissig

Das waren die Gäste in der vergangenen Spielzeit: Prosa, Lyrik, Musik, Installation, Illustration

Die Quellen, aus denen ein Literaturhaus schöpfen kann, sind unermesslich. Das, was kommen wird, wird nicht nur die Besucherinnen und Besucher der einzelnen Veranstaltungen begeistern, sondern auch all jene, die etwas von ihrer Kunst in diesem Haus zum besten geben werden.

Silvia Tschui mit ihrem Roman «Der Wod»

Urs Faes schrieb zum 20. Jubiläumsjahr unseres Literaturhauses:
„Es gibt Schreib-Orte und es gibt Orte des Lesens und beide sind Wort-Orte. Und Orte von Ankunft und vorläufiger Heimat: das ist das Bodmanhaus in Gottlieben für Schreibende, für Lesende, auch für mich. Schreib-Orte sind jene, wo der Text Ort, Gestalt und Sprache findet, eine vorläufige Ankunft: das Schreiben, das gelingt.
Und der Lese-Ort ist jener, wo der Text zum Lesenden findet, zum Dialog, zum Gespräch und damit erst Buch wird: in der Begegnung. 
Gottlieben ist immer beides.

Ein Ort hat immer etwas Unverwechselbares, ein besonderes Licht in der Dämmerung, ein Duft von See und Grenze, eine Verfärbung der Erde, ein Ufer mit Schattenspiel, Wasser, wo Schiffe treiben, ein Haus mit knarrenden Treppen und Atmosphäre von alten Schriften und sirrenden Balken, die Atmosphäre des Besonderen – Magie, die zum Bleiben einlädt.
Erwartungsvoll gespannte Gesichter von Lesenden und Hörenden.
Das alles hat das Bodman-Haus in Gottlieben, diesen Hauch von Grenze und grossen Dingen, von Verheissung und Magie. Und es ist alles: Ist Schreib-Ort, wo einer Sprache finden kann, Lese-Ort, wo Lesende Lauschende werden, Sehnsuchtsziel und ein wenig Wallfahrt: zu Schreibenden und Büchern, zu Begegnungen und Gesprächen, ein Ort zum Finden des Eigenen im Fremden.»

Zusammen mit Urs Faes machte ich manchen Spaziergang. Schreiben und Lesen in diesem Haus ist ein Geschenk. Nicht nur für Urs Faes. Mit allen Gästen, die hier wirken mit denen ich ins Gespräch kam, schwärmen diese von den Besonderheiten, der Magie dieses Ortes. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit der Schriftstellerin Mercedes Lauenstein, die sich zum Schreiben für ein paar Wochen in diesem Haus einquartierte. Sie erzählte davon, wie sehr dieses Haus zu einem Resonanzraum werden kann, Empfindungen verstärkt, dem Stillen eine Stimme geben kann.
Vielleicht wirkt ja noch etwas von dem Geist, den Emanuel von Bodman vor mehr als 100 Jahren erwirken wollte, gingen doch damals schon Dichter wie Rainer Maria Rilke oder Hermann Hesse in diesem Haus ein und aus. Es sollte ein Ort der Begegnung sein, ein Ort der Muse, ein Ort des gegenseitigen Beschenkens.

Silvia Tschui & Philipp Schaufelberger

Das Literaturhaus Thurgau ist ein Leuchtturm in der Literaturlandschaft Schweiz. Ein unverzichtbarer, ein weit in die Ferne leuchtender.

Auch wenn mich im Gespräch mit durchaus Leseinteressierten immer wieder die Überraschung trifft, dass viele von der Existenz dieses Hauses gar nicht wissen, bin ich überzeugt, dass wir in diesem Kanton mit diesem Haus allen Grund hätten, uns mit geschwellter Brust in der Kulturlandschaft Schweiz zu positionieren. Nicht nur weil die Bodman-Stiftung und der kleine Kanton Thurgau seit 22 Jahren ein eigenes Literaturhaus tragen, sondern weil die Liste derer, die in diesem Haus lasen, für mich als Literaturliebhaber und -geniesser mehr als beeindruckend ist. Weil ich jedes Mal, wenn ich im Haus oder ums Haus bin, wenn ich Menschen durch die Räume führe, wenn sich alles aufs Wort fokussiert, spüre, dass dieser Ort, dieses Haus ein Kraftort ist.

Klar wünschte ich diesem Haus mit jeder Veranstaltung ein volles Haus, ein Publikum, das sich auf Abenteuer einlässt. Klar weiss ich, dass mit den Geschehnissen in den vergangen zwei Jahren viele, vor allem ältere Stammgäste dieses Hauses, aus lauter Vorsicht den Weg nach Gottlieben nicht mehr so oft oder gar nicht mehr auf sich nehmen. Umso mehr danke ich ihnen, die sie hier sind und mit uns dieses kleine Sommerfest feiern. Dass sie hier sind und dem Haus mit jedem Besuch die Ehre erweisen, auf dass es seinen Platz in der Kulturlandschaft rechtfertigen kann, auch wenn Medien kaum Notiz von dieser Quelle nehmen.

«Textkiosk» mit Laura Vogt & Karsten Redmann

An diesem Sommerfest bieten wir ihnen ein ganz besonderes Geschenk, nicht nur Speis und Trank, sondern Literatur in vielfacher Form und Musik. Um 20 Uhr mit Lesung und Konzert mit Silvia Tschui und Philipp Schaufelberger, die ihnen bereits eine Kostprobe gaben und bis 20 Uhr mit dem Textkiosk, mit und von Laura Vogt und Karsten Redmann. Laura Vogt, die mit ihrem letzten Roman „Was uns betrifft“ schon einmal Gast hier war und Karsten Redmann, der mit dem Erzählband „An einem dieser Tage“ Vorfreude auf seinen Roman schürt, schreiben für sie im «Textkiosk“ Texte. Besuchen sie den Tisch mit den beiden SchriftstellerInnen. Erstehen Sie sich kostenlos ein Unikat, ein literarisches Kleinod, ein ganz besondere Erinnerung an den denkwürdigen Sommer 2022. Seien Sie mutig! Zwei, drei Wörter an die beiden und ihr Schreibmaschinengeklapper geht los. Und natürlich dürfen Sie den beiden über die Schulter gucken. Wenn hat man schon die Gelegenheit, SchriftstellerInnen bei ihrer Arbeit zuzuschauen!

Zum Schluss, liebe Gäste, möchte auch ich danken. Zum einen der Bodman-Stiftung, seinen Stiftungsräten, bei der Kulturstiftung Thurgau, dem Kulturamt Thurgau, bei Sandra Merten, der Buchbinderin im Erdgeschoss für die Betreuung der Webseite und die Freundlichkeiten allen Gästen des Hauses gegenüber. Ganz besonders aber Brigitte Conrad, die für dieses Haus viel mehr als eine Sekretärin ist. Brigitte Conrad ist das Rückgrat dieses Hauses. Ich verneige mich.

Und dann ganz zum Schluss: Das neue Programm ist in Druck. Wenn Sie es erhalten, tragen Sie es hinaus zu all jenen, die nicht einmal wissen, dass in Gottlieben der Nabel der Muse zu finden ist. Und vergessen sie nicht: Das aktuelle Programm bietet im September drei ultimative Highlights!

Geniessen Sie die Perlen!

Gallus Frei-Tomic, Programmleiter Literaturhaus Thurgau

Lukas Maisel «Tanners Erde», Rowohlt

„Buch der geträumten Inseln“ war sein furioses Debüt! Und nun liegt mit „Tanners Erde“ eine Novelle von Lukas Maisel bereit, der ich ein Heer von LeserInnen wünsche. Ein kleiner Hof im hügeligen Irgendwo. Und dann, mit einem Mal, tut sich die Erde auf.

Tanner ist Bauer. So wie es sein Vater war. Ein Kleinbauer irgendwo im Alpenvorland; ein paar Kühe, ein bisschen Getreide, immer Arbeit. So viel, dass es immer reichte für Marie und ihn. Vielleicht versteht Tanner seine Kühe besser als seine Frau Marie. Wenn das Vreni im Stall eine harte Zitze hat, weiss er genau, was es braucht, um der Kuh zu helfen. Aber gegen das stille Zusammensein mit seiner Frau, das alltägliche Einerlei des Alltags in Stube und Bett ist kein Kraut gewachsen. Wahrscheinlich wäre alles wie immer seinen Lauf gegangen, wenn eines Morgens der Kirschbaum in der Weide vor dem Haus nicht schief gestanden, wenn nicht in der Folge alles in Schieflage geraten wäre.

Huswil liegt abseits und Tanners Hof noch etwas mehr. Das ändert sich komplet, als sich in Tanners Weide über Nacht zwei Löcher öffnen, das eine gross, mehr als fünf Meter breit, das andere etwas kleiner. Zwei schwarze Löcher in Tanners Erde. Was sich da auftut, kann Tanner nicht fassen, denn das einzig Beständige waren bisher immer die Weiden und Wiesen, die Äcker und Hügel auf denen Tanner sein ganzes Leben verbrachte. Die Erde wankt nie. Und jetzt, mit einem Mal, von gestern auf heute, bricht sie weg, macht sich auf in schwarze Untiefen. Und über Löcher spricht man nicht, so wie man auch über die Löcher in Körpern nicht spricht.

Lukas Maisel «Tanners Erde», Rowohlt, 2022, 115 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00308-1

Tanner sperrt die Wiese um die Löcher ab. In seiner Stube und im Schlafzimmer hat er das mit seiner Marie schon lange vorher getan. Auch wenn er sie noch immer liebt. Dabei hat der Frühling gut begonnen, galoppieren Tanners Kühe wie jedes Jahr wild springend auf die fetten Matten, nachdem sie während Monaten im halbdunklen Stall den Winter wörtlich durchstanden. Und nun? Tanner traut sich nicht einmal mehr, mit seinen Maschinen sein Land zu befahren, Gras einzuholen. Tanner traut sich auch nicht, Marie von seinen Löchern zu erzählen, nicht bloss von denen, die sich auf der Wiese auftun. 

Sind die Löcher Strafe? Tanner geht zur Polizei, Tanner geht in den Staubigen Esel, den Gasthof in Huswil. Tanner geht zum Pfarrer. Tanner geht zur Gemeindevorsteherin. Aber Tanner ahnt, dass er sich nur selber helfen kann. Irgendwann klingelt das Telefon, man habe da von Löchern auf seinem Grundstück gehört, ob man für einen Exklusivbericht zusammenkommen könne. Dann sind es Wissenschaftler, die sich abseilen lassen, die Messungen machen, dann ist es das Fernsehen, irgendwann sogar solche aus dem Ausland.

„Das Loch kommt aus dem Nichts, es ist ja selber ein Nichts: ein Nichts aus dem Nichts. Tanner wird fast schwindlig von so viel Nichts.“

Im Stall beginnen die Tiere zu hungern. Marie rückt immer weiter weg, weil Tanner nicht in Worte fassen kann, was mit ihm geschieht. Da sind die schwarzen Löcher auf seiner Wiese. Aber es öffnet sich auch ein schwarzes Loch in seinem Innern. Ein Loch, mit dem er ganz alleine bleibt. Ein Loch, das immer mehr alles Licht zu schlucken droht.

Lukas Maisels Novelle ist ein Juwel. Selten habe ich so zärtlich Erzähltes gelesen! Kein Schmalz, kein Kitsch, auch kein Gotthelf-Verschnitt. Lukas Maisel erzählt gradlinig, eindringlich, lässt viel Platz für die verschiedensten Lesarten und Interpretationen. Es öffnen sich Metaphern, die sich niemals anbiedern. Es ist nicht die Geschichte des armen Bauern. Aber die Geschichte von Sicherheiten, die mit einem Mal wegrutschen, die ein Leben unkorrigierbar aus den Angeln heben. Es ist die Geschichte eines Verlorenen, eines Gefangenen, den der Sog eines schwarzen Lochs in den Abgrund zieht.

„Er würde wohl kaum irgendwas anders machen, wenn er sein Leben noch mal leben könnte. Ausser vielleicht die Marie häufiger auf die Stirne küssen.“

„Tanners Erde“ ist der Beweis, das schwergewichtige Literatur nicht an der Anzahl Seiten gemessen werden kann. Diese Novelle liest man gerne immer wieder, weil unsäglich viel Güte darin liegt, sei es jene des Erzählers oder jene des verzweifelnden Bauern! Danke Lukas Maisel!

© Sandra Kottonau

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, machte eine Lehre zum Drucker, bevor er am Literaturinstitut in Biel studierte. Für seinen ersten Roman «Buch der geträumten Inseln» erhielt er einen Werkbeitrag des Kantons Aargau, den Förderpreis des Kantons Solothurn und zuletzt den Terra-nova-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung.

Lukas Maisel «Ewiger Wanderer», Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Internationales Literaturfestival Leukerbad 2021

Das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Thurgau

Vielleicht können Sie sich eine Vorstellung davon machen, wie viel Freude, Erwartung, Stolz und Leidenschaft die Lancierung eines neuen Programms bedeutet! Neun Autorinnen und Autoren, zwei Musiker, Künstlerinnen und Künstler aus fünf Ländern, aus Weissrussland, Österreich und Tschechien zugleich, Deutschland und der Schweiz. Ein Programm, dass sich mit Prosa, Lyrik, Sachthemen und Musik auseinandersetzt, das Lesungen, Diskussionen, Konzerte, Performances präsentiert, das Literatur in den Mittelpunkt aktueller Auseinandersetzungen führt und zusammen mit einem wachen Publikum zur Konfrontation ebenso wie zum Genuss einladen will.

Liebes Publikum, liebe Stammgäste, liebe Begeisterte für Literatur, Musik und Kunst, Sie sind herzlich eingeladen! Nehmen Sie Freundinnen und Bekannte mit! Zeigen Sie Ihnen das schmucke Literaturhaus am Seerhein! Feiern die mit uns das Sommerfest am 20. August, an dem sie nicht nur musikalisch und literarisch verwöhnt, sondern ebenso zu Speis und Trank eingeladen werden.

Mir freundlichen Grüssen im Namen der Thurgauischen Bodman Stiftung Gottlieben, der seit mehr als zwei Jahrzehnten wirkenden Stiftungssekretärin Brigitte Conrad und des Programmleiters Gallus Frei-Tomic

Silvia Tschui «Vögel, frittiert»

Bei 36 Grad fallen einem Vögel tot vor die Füsse. Wenn einem wieder mal ein Vogel vom Himmel tot vor die Füsse fallen würde, denkt man, das wäre schön. Das wäre schön, denkt man, während man neben dem Grab eines Schriftstellers sitzt und auf die Hitze wartet, weil man dann am Anfang der ganzen Misère stünde. Und man wüsste noch nicht, was kommen wird, und man würde denken, oh, seltsam und irgendwie apokalyptisch, ein Vogel fällt tot vom blauen Himmel vor meine Füsse, und es würde einen nur ein leichtes Grauen befallen, statt dass es sich einem längst in jeden Knochen und jede Zelle gebohrt hätte. Und man würde nicht da sitzen und auf die letzte Hitze warten. Bei 27 Grad beginnt man schon leicht zu schwitzen. Und man hätte in diesem Moment vielleicht noch etwas tun können, wirklich etwas tun.

Und ausserdem hätte man etwas Frisches zu essen, so wie die Libanesen und Italiener in ihren Wäldern die da jeweils sassen, auf so Hockern, mit ihren Luftgewehren und auf alles schossen, was sich bewegte, also in der Luft, klitzekleine Singvögelchen, die sie dann frittierten. Wenn man etwas frittiert, binden sich die Proteine, und mit Haut und Haar, nein mit Schnabel und Feder frassen sie sie auf, zuhauf, und man hat sich damals, als man noch reiste, gefragt, weshalb die das tun, weshalb die so stolz ihre Gewehre schwangen, weshalb die das tun, so zum stupiden Sport, und man hat sie verachtet. Wenn doch die Supermärkte voll sind, mit Fleisch und Tomaten und Gurken und Wassermelonen.

Auch Jahre später, als einem ein Vögelchen nach tagelanger Hitze tot vor die Füsse fällt, sind die Supermärkte voll mit Tomaten und Gurken und Wassermelonen unter Neonlicht, und es packt einen eine Ahnung dieses Grauens, draussen dörren Felder unter blauem Himmel vor sich hin, wochenlang schon, und Bauern erschiessen sich und der hartbackende Boden zeigt Risse wie man sie früher auf Hungerbildern in Äthiopien auf diesen Hilfekatalogen gesehen hat, die zu Weihnachten in Unmengen unsere Briefkästen fluteten, erst hochglanz, später politisch korrekter auf mattem Papier, draussen hat es geschneit und jetzt gibt es keine mehr.

Keine Post, bestimmt keine Äthiopier, wahrscheinlich kaum mehr Italiener und Libanesen, keinen blauen Himmel, keine kleinen Singvögelchen, die sangen vorher schon kaum mehr, frittiert haben sie sie, trotz Tomaten, Wassermelonen und Gurken in Supermärkten und ich habe mich gefragt warum nur, und sie verachtet, und später im Supermarkt ein Huhn gekauft, mit Zitronen, die es nicht mehr gibt und Tomaten, die es nicht mehr gibt, und Oliven, die es auch nicht mehr gibt, in einem Ofen gebacken, und später war man froh, wenn die Temperatur Abends unter dreissig Grad gefallen ist, und hat darauf mit Weisswein auf einer Terrasse unter blauem Himmel angestossen, und auf das Huhn, und war guter Dinge und hat Musik gehört und Geschichten erzählt und in die blauen Augen von einem Mann geschaut, hinter ihm der See, so dass man dachte, man schaue durch diese Augen dieses Mannes direkt in die grosse Abendbläue, und das war schön.

Als es die Farbe Blau noch gab, blau, ein Wort, das die Jüngeren nicht mehr kennen, genausowenig wie grün, als die Sonnenuntergänge zuerst so richtig kitschig schockpinkorange rot wurden und man das noch schön fand, bevor sich auch tagsüber zunehmend eine Art bräunlicher Schleier über den zunehmend nicht mehr so blauen Himmel legte, das Methan, sagten die Zeitungen, und einige Zeit lang gab es dann diese Vollspektralglühbirnen, dass man den Kindern immerhin in Bilderbüchern zeigen konnte, wie das Meer und der Wald einst ausgesehen hatten und man hat ihnen vorgeschwärmt, wieviele Abstufungen von Blau und Grün es gegeben habe, Türkis und Moosgrün und Petrolgrün und Flaschengrün und Apfelgrün und Ceruleumblau und Ultramarin wie nur schon der See, an dem man wohnt, jeden Tag eine andere Farbe gehabt habe und wie schön das ausgesehen hat im Frühling mit dem blauen See unter dem blauen Himmel hinter dem unglaublich frischen Grün dieser Bäume, deren Namen man vergessen hat, diese Bäume, die einst das ganze Mittelland bedeckten, und dass der See eigentlich blau war, und nicht braun, dass der Himmel blau war und die Sonne gelb, dass Wolken weiss waren, und jetzt kennen die Kinder unserer Kinder die Wörter «blau» und «grün» nicht mehr, weil es auch diese Vollspektrallampen längst schon nicht mehr gibt, schon bevor es auch keine Elektrizität mehr gab, und wir haben aufgehört zu erzählen, von Meer und blauem Himmel und Vögeln die flogen, als wären sie schwerelos, weil die Wörter den Jüngsten nichts mehr bedeuten, sie können sie nicht fassen, und uns schmerzen sie zu sehr, und man lacht, wenn auch bitter, man lacht sowieso oft nur noch bitter, wenn man daran denkt, wie man sich
über Konnotationen und Denotationen von Wörtern gestritten hat in Seminaren und wofür das Wort blau alles stand, und wie ist etwa der grösste Teil deutscher Dichtung noch verständlich wenn es etwa keine blauen Blumen mehr gibt?

Wie sie etwa der Schriftsteller beschrieben hat, neben dessen Grab man jetzt sitzt, ohne Gewehr, man braucht es nicht mehr, und auf die letzte Hitze wartet, sonst wären sie nie gegangen, die Kinder, die keine mehr sind, und deren Kinder, die die Wörter «grün» und «blau» nicht mehr kennen, und für die die Konserven nun vielleicht reichen bis in den Norden, wo es noch regnen soll, sagt man sich, und den man vielleicht erreicht, wenn man nur nachts wandert und tagsüber einen Unterschlupf findet, denn ab siebenunddreissig Grad verlangsamt sich der Herzschlag und man kann nicht für längere Zeit wandern, ohne sich der Gefahr eines Hitzschlags auszusetzen.

Man wartet auf die Hitze unter einem beigen Himmel, neben dem Grab des Schriftstellers, der die blaue Blume beschreiben hat, sie stand für Sehnsucht, und man hatte nie eine Chance, wir hätten nichts tun können, in einem System, das auf Fressen ausgelegt ist, mit endlichen Grundstoffen, auf kleinster biologischer Ebene schon, jeder Mikroorganismus, der einen anderen frisst, hat einen Vorteil, und dann entwickeln sich Belohnungswechselwirkungen in Hirnen, die einem Glückshormone verschaffen, wenn man ein Vögelchen vom Himmel schiesst, oder die Zähne in einen Hühnerschenkel rammt, und man hat noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei, bei 39 Grad erweitern sich die Blutgefässe, man hatte keine Chance, weil man sich wahlweise gute oder rachevolle Überväter ausdenkt, die einem vom blauen Himmel herunter lächelnd zunicken und sagen, jaja, macht Euch die Erde untertan, denn inmitten aller kreisenden, glühenden oder längst toten Sterne und Nebel und Planeten ist es wichtig, dass Du, genau Du unter einem blauen Himmel deine Zähne in einen Hühnerschenkel rammst, und bei vierzig Grad beginnen bald Halluzinationen. Und man denkt nicht, wenn sich einer so eine Scheisse ausgedacht hätte, so ein krasser systemimmanenter Fehler, gehörte der gefoltert, bis ans Ende der Zeit gefoltert, weil die Wahrheit ist: Man hätte nichts tun können, nichts, man hatte nie eine Chance, mit Belohnungssystemen im Hirn, die und auf die Schulter klopfen wenn wir Vögelchen vom Himmel schiessen, und satt werden wir doch nie, ab einundvierzig Grad beginnen die Eiweisse in unseren Körpern sich zu binden, und da steht der Mann, seine Augen sind blau, ich sehe durch seine Augen direkt in die grosse Abendbläue, Ceruleum und Ultramarin und Türkis, und das ist schön, und die Kinder werden in der Nacht losgehen, nach Norden, der Schriftsteller steht daneben und sie nicken mir zu und niemand hätte rein gar nichts tun können und die Felder sind grün, moosgrün, apfelgrün, flaschengrün, ich bin ein Vogel, ich bin ein Vogel und ich fliege und ich singe und das ist schön.

(Originaltext erstmals erschienen 2022 in «20/21 Synchron» von Charles Linsmayer. Ein Lesebuch zur Literatur der mehrsprachigen Schweiz von 1920 bis 2020. Reprinted by Huber Bd. 40)

Silvia Tschui wird im August zusammen mit dem Musiker Philipp Schaufelberger (Gitarre) Gast beim Sommerfest des Literaturhauses Thurgau sein!

Silvia Tschui wurde 1974 in Zürich geboren. Sie studierte ein paar Semester Germanistik, absolvierte die Fachklasse Visuelle Gestaltung an der ZHdK und erwarb 2000 das Lehrdiplom Oberstufe. 2003 machte sie ihren Bachelor in Grafikdesign und Animation an Central St. Martins College in London und arbeitete vier Jahre als Animationsfilm-Regisseurin bei RSA Films in London. 2004 wurde ihre Arbeit für den British Animation Award nominiert. Zurück in der Schweiz arbeitete sie als Grafikerin, Journalistin und Redaktorin und schloss 2011 ihr Studium am Institut für literarisches Schreiben mit dem Bachelor ab. Zurzeit arbeitet sie als Redaktorin in Zürich bei Ringier.
Ihr erster Roman «Jakobs Ross» wurde mit dem Anerkennungspreis des Kantons Zürich ausgezeichnet und von Peter Kastenmüller fürs Theater Neumarkt adaptiert. Eine Verfilmung des Stoffs ist bei der Produktionsfirma Turnus Films in Arbeit. Ihr zweiter Roman «Der Wod» wurde von der Stadt Zürich 2017 mit einem halben Werkjahr gefördert. 2019 war sie damit für den Ingeborg Bachmann Preis nominiert (Videoportrait).

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau