Mareike Fallwickl «Die Wut, die bleibt», Rowohlt

Man könnte auf den Roman „Die Wut, die bleibt“ mit einem Aufkleber „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie BuchhänderInnen oder RezensentInnen“ warnen. Drei Frauen; eine, die sich in die Tiefe stürzt, eine, die sich aufgibt und eine, die die Faust ballt. Mareike Fallwickls neuer Roman strotzt!

Meist muss ich mich für eine Besprechung, eine Rezension eines Buches gleich nach der Lektüre an die Tasten setzen, damit meine Eindrücke nicht durch neue Leseeindrücke verwischt werden. Bei Mareike Fallwickls neuem Roman „Die Wut, die bleibt“ fiel mir das schwer, weil mir die Autorin mit ihrem Roman einen ordentlichen Schlag versetzte. Nicht nur mit der Einstiegsszene, die auch nach fast 400 Seiten Lektüre nicht verrauchte, sondern mit der Thematik, die unter allen Szenen und Erzählsträngen des Buches liegt: Emanzipation.

Zum einen ist da der noch lange nicht zu Ende ausgefochtene Kampf um gleiche Rechte, ebenbürtige Chancen und eine Gesellschaft, die noch immer nicht alles daran setzt, dass Familienarbeit nicht automatisch zu Ungunsten der Mütter verteilt wird. Zum andern sind es die Zusammenhänge einer noch immer männlich dominierten Sicht auf die Dinge, dass man Weiblichkeit automatisch mit Provokation gleichsetzt und junge Männer weit davon weg sind, ihre Aggressionen, Hormone und Dominanzansprüche in den Griff zu bekommen. Beispiele dafür gibt es in der Politik, in der sogenannte Staatsmänner ihr Machtgehabe auf dem Rücken von Millionen austragen oder in Diskussionen um Genderfragen, wo Aggressionen und Argumente aufkochen, die beweisen, wie unsensibel man(n) noch immer ist, wenn es darum geht Fehler, Schwächen und Missstände einzugestehen.

Mareike Fallwickl «Die Wut, die bleibt», Rowoldt, 2022, 384 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00296-1

Lockdown. Zu Hunderttausenden sind Mütter gezwungen, ihre Kinder zuhause zu lassen, ihnen gar das Spielen auf dem Spielplatz zu verweigern, während die einen Väter Schlafzimmertüren zusperren mit dem Argument, sie hätten zu arbeiten und andere das Weite suchen als Finanzierer der Familie.
Helene sitzt mit ihrer Familie beim Abendessen. „Haben wir kein Salz?“ Nicht einmal eine Bitte. Helene steht auf, geht die drei Schritte bis zur Balkontür und stürzt sich in den Abgrund. Johannes, ihr Mann, Lola, Helenes älteste Tochter und die Kleinen Maxi und Lucius bleiben zurück, geschockt, traumatisiert und aus sämtlichen Selbstverständlichkeiten gerissen.

Weil Helenes Freundin Sarah vom schlechten Gewissen und der Sorge um die drei Kinder getrieben wird, nimmt sie sich ihrer an und verbringt die meiste Zeit an der Seite der Kinder, kocht, putzt, wäscht, streicht Pausenbrote, bringt die Kinder ins Bett, wickelt und tröstet. Sarah und Helene waren Freundinnen seit Kindertagen. Aber im Gegensatz zu Sarah, die sich eine eigenständige Existenz aufbauen konnte, erfolgreiche Krimiautorin wurde, ein Haus kaufte und den Wunsch nach einer eigenen Familie mit zunehmender Ernüchterung schwinden sah, musste Helene ihr Studium schwanger aufgeben, heiratete Johannes und tauchte mit zwei weiteren Kindern in scheinbares Familienglück. Und Johannes, der Witwer? Er nimmt hin, was ist, lebt sein Leben weiter wie in Trance. Vergisst, dass da jemand in der Wohnung hilft, ohne die die Familie zerfallen würde. Akzeptiert mit aller Selbstverständlichkeit, dass sich eine Frau hingibt für eine Frau, die sich hingegeben hat. Und während die Tochter Lola aus der Trauer erwacht, ihre Stimme genauso findet, wie ihre Kraft gegen jegliche Unterdrückung zu rebellieren, selbst im Rudel und hinter schwarzen Masken, wird aus dem aufgeladenen Nebeneinander zwischen Sarah und Helenes Tochter Lola eine Allianz.

Mareike Fallwickl zeichnet starke Frauenfiguren, auch wenn Helene ihren Kampf verloren hat. Johannes der Wittwer und Leon, Sarahs Lebenspartner, der sich mit aller dazugehörigen Selbstverständlichkeit in Sarahs Haus eingenistet hat, sind Prototypen jener Sorte Mann, die sich hinter scheinbaren Zwängen verstecken, die erst erwachen, wenn man sie schüttelt und prügelt. Mag sein, dass man als Mann bei der Lektüre stutzt, dass die Lektüre schmerzt, weil Selbsterkenntnis mitmischt. „Die Wut, die bleibt“ ist nicht nur in seinem Titel kämpferisch. Alles an diesem Roman ist ausgeführt bis zur letzten Konsequenz und macht mit der Keule bewusst, dass unsere Gesellschaft noch lange nicht ist, wo sie sein sollte.

„Die Wut, die bleibt“ ist tatsächlich ein wütendes Buch. Ein Roman, der mir in die Magengrube schlägt. Und doch ein Buch, vor dem ich mich tief verneige!

Mareike Fallwickl, 1983 in Hallein bei Salzburg geboren, arbeitet als freie Autorin und lebt mit ihrer Familie im Salzburger Land. 2018 erschien ihr literarisches Debüt «Dunkelgrün fast schwarz» in der Frankfurter Verlagsanstalt, das für den Österreichischen Buchpreis sowie für das Lieblingsbuch der Unabhängigen nominiert wurde. 2019 folgte der Roman «Das Licht ist hier viel heller«, dessen Filmrechte optioniert wurden. Sie setzt sich auf diversen Bühnen sowie Social-Media-Kanälen für Literaturvermittlung ein, mit Fokus auf weiblichen Erzählstimmen.

Beitragsbild © Gyöngyi Tasi

Mareike Fallwickl «Das Licht hier ist viel heller», Frankfurter Verlagsanstalt

Es gibt Romane, die einem beim Lesen magisch ins Geschehen ziehen. Es gibt Romane, die verunsichern, alleine lassen. Und es gibt Romane, die einem beim Lesen immer wieder durchbrechen lassen: Man folgt der Handlung, um mit einem Mal in eine Schicht tiefer ein- und durchzubrechen. Man reibt sich die Augen, immer wieder, bis zur letzten Seite.

Hätte mich jemand während der Lektüre von Mareike Fallwickls neuem Roman „Das Licht hier ist viel heller“ gefragt, worum es den geht in dem Buch, hätte ich bei den fast 400 Seiten wahrscheinlich alle 50 Seiten eine völlig andere Antwort gegeben. Das ist Absicht, geniale Konstruktion! Mareike Fallwickl stösst mich in Tiefen, die mich zur Selbstreflexion zwingen. Mareike Fallwickl blendet schonungslos in die Kampfzonen der Gesellschaft, seien es Rollenbilder, Familienstrukturen, Genderisierung und all das, was mit der MeToo-Debatte aus einem modrig-fauligen Untergrund hervorgebrochen ist.

Maximilian Wenger ist Schriftsteller. Allerdings aus der Mode gefallen, von den LeserInnen verschmäht, vom Agenten bedrängt, von der Familie abgehängt. Er siecht in einer kleinen Wohnung vor sich hin, trauert einem Leben nach, das ihn verlassen hat, leckt seine Wunden. Wenger ist aber nicht nur in seiner Existenz als Schriftsteller mehr als nur in Frage gestellt. Seine Frau Patrizia hat ihn vor die Tür gesetzt und durch einen wesentlich Jüngeren, Knackigeren ersetzt. Seine beiden fast erwachsenen Kinder Zoey und Spin langweilen sich seither alle zwei Wochen ein Wochenende lang in seiner kleinen Wohnung, bewegen sich Lichtjahre von seiner eigenen Welt entfernt. Nicht einmal das faltig gewordene Stück Haut zwischen seinen Beinen ist noch aufrichtig genug.

Bis Briefe in seinem Briefkasten landen, die zwar richtig adressiert sind, aber an den Vermieter gerichtet. Wenger öffnet sie, liest sie. Es sind Briefe einer Frau, die sich in San Remo Luft macht. Zornige, wütende Briefe an einen Mann, der sie verraten hat, der ihr nicht zur Seite stand, als andere Männer ihre Existenz vernichteten, so radikal, dass es nur die Flucht gab.
Mit einem Mal weiss Wenger, worüber er schreiben will. Seine wieder aufbrechende Motivation ist derart radikal, dass Wenger in einen Rausch gerät und in eben diesem Rausch nicht merkt, dass die Themen, über die er schreibt, wie eine Tsunamiwelle über ihn schwappen. Aber Wenger schreibt in einem Bunker. Obwohl seine Tochter sich nicht nur äusserlich mit einem Mal vollkommen verändert, ihre Signale weder von der socialmediageilen Mutter noch vom egozentrischen Vater wahrgenommen werden, obwohl sein Sohn in der elterlichen Villa beinahe stirbt, weil Bücher brennen, die sich nicht von selbst entzünden, schreibt er sich weg in einen Rausch. Erst recht, als ihm bewusst wird, dass es genau jener Ton der Frau, deren Briefe er zu Unrecht liest, ist, den es braucht, um zurück ins Schaufenster der Öffentlichkeit zu gelangen.

Spin und seine ältere Schwester Zoey werden Schicksalsgemeinschaft, weil weder der schreibende Vater noch die umtriebige Mutter je die Zeit und Zuwendung hatten, die vonnöten gewesen wäre. „Wir steuern dieses Flugzeug, das nur noch trudelt, aus dem Rauch quillt…, gleich werden wir springen müssen.“ Sie beide werden in Notsituationen gedrängt, aus denen sie sich nur selbst herauswinden können, versehrt, verwundet, verändert und missverstanden.

„Das Licht ist hier viel heller“ ist vieles; ein Familiendrama, ein Roman über die Launen des Literaturbetriebs, ein Roman über Emanzipation und die Befreiung aus festgefahrenen Rollen, aber vor allem ein Roman über die tiefen Gräben in der Gesellschaft, über den Sturm, der über allem fetzt, die Jungen zweifeln lässt, ob es neben Sex Liebe gibt und die Alten, ob der Untergrund fest genug ist, auf dem man sich bewegt.

Mich bewegt der Blick der jungen Autorin, die Klarsicht, das Gespür für die Feinheiten und Details. Mich begeistert die Sprache, der Ton, der sich den verschiedenen Perspektiven perfekt anpasst, die Nähe, die sie zu erzeugen versteht, die in gewissen Situationen körperlich spürbar wird. „Das Licht ist hier heller!“, scheinen alle auszurufen, weil alle nach einem Weg suchen, der sie aus der Schwärze von Schuld und Verletzungen heraushieft.

Unbedingt lesen!

Ein Interview mit Mareike Fallwickl:

Wenn es einen Ort gibt, an dem offene Rechnungen präsentiert werden, an dem sich der Gestank von Verborgenem, Weggeschlossenem und Verdrängtem nicht verbergen lässt, dann ist es „Familie“, jenes zarte, empfindsame Gebilde, jener Sehnsuchtsort, jene Projektionsfläche, die im Brennpunkt ihres Romans steht. Gibt es den Ort, der viel heller ist?
Das stimmt, und das macht die Familie für mich so interessant. Ich versuche, in meinen Romanen zu ergründen, was Eltern und Kinder einander antun, wo Schuld wurzelt und welche Konsequenzen sie hat. Aber: Bei allem Egoismus, aller Vernachlässigung und Lieblosigkeit gibt es auch immer etwas Gutes. In „Das Licht ist hier viel heller“ ist das die Beziehung zwischen Zoey und ihrem Bruder. Sie ist getragen von Zuneigung und Zusammenhalt. Das ist mir wichtig, weil ich zeigen möchte: Selbst wenn du ankaputtet bist, kannst du lieben. Selbst wenn alles andere dunkel ist, kann es irgendwo hell sein.

Die Abstände zwischen den Generationen scheinen immer grösser zu werden, auch wenn die Alten Sneakers tragen und sich zunehmend Junge den «Errungenschaften der Zivilisation“ verweigern. Jede und jeder rennt mit Scheuklappen im Gesicht seinem ganz persönlichen Glück hinterher. Jeder sein eigener Kampfstern?
Ich sehe das nicht so, dass die Abstände zwischen den Generationen größer werden — die sind seit jeher in etwa gleich gross. Eher im Gegenteil: So viel Kommunikation wie heute gab es zwischen den Generationen nie zuvor. Früher wurde den Jungen von den Alten einfach befohlen, was sie zu tun, zu sagen und zu werden hatten. Die Kommunikation ging nur in eine Richtung. Dass die Menschen Egoisten sind: ja, natürlich. Aber auch das ist kein Merkmal unserer Zeit, so waren sie schon immer. Nie in der Geschichte der Menschheit haben wir aufeinander geachtet, sondern stets auf uns selbst. Deshalb sind wir ja auch da, wo wir sind: ziemlich am Ende.

In gewissen Passagen beschreiben sie das Glück des Schreibens und das des Lesens, den magischen Ort einer Buchhandlung und jenen, wenn einem die Muse an der Hand nimmt. Wo sind die Oasen in ihrer Welt und wodurch sehen sie sie bedroht?
Das Lesen ist mit Sicherheit eine Oase, es ist Sucht und Flucht gleichermassen. Wer LeserIn ist, weiss um eine geheime, verborgene Welt in der realen. Wir sind anders, wir leben viele Leben. Bedroht sehe ich diese Oase in keiner Weise. Wer lesen will, wird lesen. Die Sehnsucht nach Geschichten, nach Bildung, nach der Erweiterung des Horizonts ist unabhängig von Zeit und Ort. Ich halte nichts vom Abgesang auf das Buch und von der ewigen Schwarzmalerei. Vieles wird sich verändern, ja. Aber Veränderung ist nichts Negatives.

Die Tatsache, dass ein Vater über genau das einen Roman schreibt, an dem sich seine Tochter verwundet hat, die Tatsache, dass sich der Vater schuldig macht an einem Geschehnis, das sich nur marginal von dem Alp seiner Tochter unterscheidet, macht ihren Roman zu einem Kreiseln, das sich mir als Leser in der Magengrube einlagert. Manifestierte sich der „Kampf“ zwischen den Familienmitgliedern auch während des Schreibens?
Die Perspektive von Zoey ist erzähltechnisch ein Spiegel zur Perspektive von Wenger, und die Briefe vernähen diese beiden Handlungsstränge, die für die unterschiedlichen Sichten auf das Familiengefüge stehen, gleichzeitig aber auch im grösseren Ganzen für die alte und die junge Generation, für das Abdanken und den Aufbruch. Es gibt nur wenige Szenen, in denen Zoey und Wenger tatsächlich miteinander interagieren, deshalb ist es weniger ein „Kampf“ zwischen ihnen, vielmehr kämpfen sie beide an unterschiedlichen Fronten. Und das Tragische ist: Sie kämpfen, obwohl sie Vater und Tochter sind, eben nicht Seite an Seite.

Zoey fotografiert. Ein Projekt, mit dem sie sich für ein Stipendium in der Nähe von Prag erfolgreich bewarb, heisst #distorted. Gilt es nicht endlich zu lernen, zu akzeptieren, dass alle Wahrnehmung distorted, verzerrt ist, auch wenn darin viele Gefahren lauern?
Es gilt vor allem endlich zu lernen, zu akzeptieren, dass es nichts Normatives und keine Standards gibt. Wir Menschen messen, wiegen und vergleichen, weil wir denken, wir müssten bestimmten Kriterien entsprechen, um geliebt zu werden. Wir schliessen einander aus, wir kategorisieren einander anhand von Unterschieden statt Gemeinsamkeiten. Das ist die Botschaft hinter #distorted: Sämtliche oberflächliche Wahrnehmung ist ein Bild, eine Vorstellung, gefiltert durch unsere Sinne, unsere Sozialisierung. Sie sollte nicht die Grundlage für unseren Umgang miteinander sein. Wir sind alle Menschen, wir haben denselben Ursprung, dieselben Ängste, dieselbe Sehnsucht. In Wahrheit gibt es keine Unterschiede.

© Gyöngyi Tasi

Mareike Fallwickl, 1983 in Hallein bei Salzburg geboren, arbeitet als freie Texterin, schreibt für eine Salzburger Zeitung eine wöchentliche Kolumne und betreibt seit 2009 einen Literaturblog. Sie lebt im Salzburger Land. 2018 erschien ihr literarisches Debüt «Dunkelgrün fast schwarz» in der Frankfurter Verlagsanstalt, das von Lesern gefeiert und unter anderem für den Österreichischen Buchpreis sowie das «Lieblingsbuch der Unabhängigen» nominiert wurde.

Beitragsbild © Sandra Kottonau